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5.9.2 Theoretische Konzeptionen 5.9.2.1 Resilienz als komplexer psychischer Prozess

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Resilienz kann als ein komplexer psychischer Prozess verstanden werden, dessen Verlauf von internalen und externalen Merkmalen bestimmt ist. Zu den internalen Merkmalen zählt die Fähigkeit, (a) Emotionen, Affekte und Impulse zu kontrollieren, (b) die eingetretene Situation in ihrem kognitiven Anregungsgehalt (»Was genau ist geschehen; was folgt unmittelbar daraus für mich; was kann weiterhin daraus für mich folgen?«) wie auch in ihrem emotionalen Anregungsgehalt (»Wie bewerte ich das Geschehene, die unmittelbaren und mittelbaren Folgen?«) differenziert wahrzunehmen und zu bewerten, (c) die eigenen Verarbeitungs- und Bewältigungsressourcen mit Blick auf diese Situation differenziert einzuschätzen, (d) dabei auch frühere Bewältigungs- und Verarbeitungsversuche, die sich als erfolgreich erwiesen haben, zu erinnern und (e) aus diesen Optimismus für den Umgang mit der aktuellen Belastung zu schöpfen. Zu diesem Fähigkeitsbündel, das die Selbstregulation in einer eingetretenen Belastungssituation beschreibt, treten noch weitere psychische Qualitäten hinzu, die sich positiv auf den Prozess der Selbstregulation auswirken. Zu nennen sind (a) eine differenzierte Wahrnehmung des eigenen Selbst (in seinen Stärken wie in seinen Schwächen), (b) relativ stabile Selbstwirksamkeits- und Kontrollüberzeugungen des Individuums, (c) Problemlösungskompetenzen und Persönlichkeitseigenschaften, zu denen vor allem emotionale Stabilität und Offenheit zu zählen sind, (d) eine Vielfalt an Quellen der Sinnerfahrung wie auch des Stimmigkeitserlebens, schließlich (e) die Fähigkeit zur intrinsischen (also von den eigenen Bedürfnissen und Werten abgeleiteten) Zieldefinition.

Zu den externalen Merkmalen sind (a) das soziale Netzwerk eines Menschen (nicht nur in seinem Umfang, sondern auch in seiner sozioemotionalen Qualität), (b) Ausmaß und Qualität sozialer Unterstützung in der eingetretenen Belastungssituation, (c) die Zugänglichkeit institutioneller (fachlicher) Unterstützungssysteme sowie (d) Ausmaß und Qualität faktisch geleisteter Unterstützung durch diese Systeme zu zählen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die internalen und externalen Merkmale ihrerseits durch Bildungsressourcen wie auch durch materielle, alltagspraktische (instrumentelle) und gesundheitliche Ressourcen des Individuums mitbedingt sind. In ihrem Einfluss unterschätzt werden darf auch nicht die Gesellschaft, in der das Individuum aufgewachsen ist und aktuell lebt. Die Tatsache, dass psychische Auffälligkeiten oder Störungen, die man eigentlich erwarten würde und die man bei anderen Individuen durchaus beobachten kann, ausgeblieben sind, verdankt sich psychischen Qualitäten des Individuums, die dieses in seiner Biografie ausgebildet hat, wie auch materiellen und ideellen Ressourcen, die dieses in der Biografie aufbauen konnte und auf die es aktuell zurückzugreifen kann. Hinzu treten soziale und institutionelle Ressourcen (zum Beispiel Anregungen und Hilfen durch das soziale Netzwerk, medizinisch-pflegerische Versorgungsangebote, Bildungsangebote, Infrastruktur wichtiger Dienstleistungen), die dem Individuum aktuell zur Verfügung stehen. Diese Qualitäten und Ressourcen interagieren ihrerseits mit der aktuell bestehenden Belastung. Und es ist gerade diese spezifische Interaktion, die zur psychischen Widerstandsfähigkeit des Individuums führt.

Damit ist die Komplexität des Resilienz-Konstrukts noch nicht erschöpfend beschrieben. Mit den differenzierten psychischen, sozialen und institutionellen Ressourcen sind zunächst nur die protektiven (schützenden) Merkmale gekennzeichnet, die mit einer Belastung interagieren. Hinzu tritt die Vulnerabilität des Individuums, hinzu treten weiterhin die Merkmale der spezifischen Belastung, mit der das Individuum konfrontiert ist. Wenn von Verletzlichkeit (Vulnerabilität) gesprochen wird, so sind damit Merkmale der Person, ihrer Lebenslage und ihrer Umwelt gemeint, die ihrerseits dazu beitragen, dass die Verarbeitung und Bewältigung des Ereignisses erkennbar erschwert ist und dieses Ereignis besonders gravierende Folgen hat. Das heißt, das Individuum tritt letzten Endes »potenziell geschwächt« in die Auseinandersetzung mit einem spezifischen Ereignis ein, ist in besonderer Weise von negativen Folgen des Ereignisses betroffen und entwickelt in der spezifischen Interaktion mit ebendiesem Ereignis, Auffälligkeiten oder sogar Störungen, die bei einer anderen Person – die diese spezifische Vulnerabilitätskonstellation nicht aufweist – nicht zu beobachten sind. Wenn hier von »geschwächt« gesprochen wird, dann ist damit nicht eine Verletzlichkeit in Bezug auf alle möglichen belastenden Situationen gemeint, sondern vielmehr die Verletzlichkeit in Bezug auf jene spezifische Belastungssituation, mit der das Individuum aktuell konfrontiert ist. Auch hier gilt das Augenmerk wieder in besonderem Maße der Interaktion zwischen der Vulnerabilitätskonstellation einerseits, den spezifischen Merkmalen des Ereignisses andererseits. Und schließlich müssen die spezifischen Merkmale des Ereignisses ebenfalls genau erfasst und beschrieben werden, wenn Aussagen zur gegebenen oder mangelnden Resilienz getroffen werden sollen – und zwar sowohl aus objektiver als auch aus subjektiver Perspektive.

Dabei ist allerdings die subjektive Perspektive: »Wie deutet das Individuum die Situation?« wiederum nicht unabhängig von bestehenden vs. fehlenden Ressourcen. Schon Lazarus und Folkman haben in ihrem Modell der Stressbewältigung (Biggs et al. 2017) hervorgehoben, dass eine objektiv gegebene Situation subjektiv in dreifacher Hinsicht gedeutet wird: (1) Nimmt die Person das Ereignis als positiv, irrelevant oder potenziell gefährlich wahr? Hier wird von einer »ersten kognitiven Bewertung« gesprochen. (2) Ordnet sich das Individuum die für die Bewältigung der Situation notwendigen Eigenschaften und Kompetenzen zu oder nicht? Hier wird von einer »zweiten kognitiven Bewertung« gesprochen. (3) Auf der Grundlage der nun in Gang gesetzten Bewältigung (problemorientierte Bewältigung: das Problem soll überwunden werden; emotionsorientierte Bewältigung: die emotionale Reaktion soll kontrolliert, die emotionale Erregung soll abgebaut werden; bewertungsorientierte Bewältigung: die Situation soll neu bewertet werden) und ihres Erfolgs vs. Misserfolgs wird eine »Neubewertung der Situation« vorgenommen. Was vorher als Belastung erschien, ist nun in der Sicht des Individuums möglicherweise nur noch Herausforderung, oder aber die Belastung kann angesichts eines nicht erfolgreichen Bewältigungsversuchs einmal mehr als Gefahr gedeutet werden.

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