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5.8.3 Generativität
ОглавлениеFür die Entwicklung im Erwachsenenalter ist charakteristisch, dass oberflächliche soziale Beziehungen aufgegeben und Beziehungen, die subjektiv als bedeutsam gewertet werden, vermehrt angestrebt und gepflegt werden. Die darin zum Ausdruck kommende soziale Neuorientierung wird – nicht zuletzt, weil sie in der Regel auch mit einer höheren Bereitschaft einhergeht, Verantwortung zu übernehmen – in der Entwicklungspsychologie mit dem Begriff der Generativität umschrieben. Im Verständnis von Erikson (1963) stellt sich die Verwirklichung von Generativität als Entwicklungsaufgabe im Kontext der siebten psychosozialen Krise – von insgesamt acht – in der lebenslangen Entwicklung der Ich-Identität im mittleren Erwachsenalter. Nachdem Menschen im Kontext früherer Krisen ein Verständnis von ihrer Identität und relevanten Rollenbezügen entwickelt und längerfristige Bindungen aufgebaut und etabliert haben, geht es in der siebten psychosozialen Krise um die Verpflichtung und Verantwortung des Menschen gegenüber der Gesellschaft darum, insbesondere durch ein Engagement für nachfolgende Generationen, deren Lebenschancen und Entwicklung, einen Beitrag zum Fortbestand, gegebenenfalls auch zur Weiterentwicklung der Gemeinschaft zu leisten. Zwar ist bei Erikson der prototypische Kontext von Generativität die Familie – Kinder zu haben und diese zu erziehen –, doch hat er in seinen psychoanalytisch orientierten Biografien von Martin Luther und Mahatma Gandhi deutlich gemacht, dass sich Generativität zu einem guten Teil und in ihrer vielleicht kreativsten und produktivsten Ausdrucksform (auch) außerhalb der Familie, im öffentlichen Raum realisiert. Erikson hat bereits darauf hingewiesen, dass der Begriff der Generativität eng mit Begriffen wie Kreativität und Produktivität assoziiert ist.
In unserem Verständnis resultiert Generativität zum einen aus gesellschaftlichen Erwartungen, Anforderungen und Rollen, zum anderen aus grundlegenden individuellen Motiven, die im Verlauf des Erwachsenenalters an Bedeutung gewinnen und auch für Fragen nach der persönlichen Identität und dem Sinn des Lebens im Alter bedeutend bleiben, insbesondere dem Bedürfnis, von anderen gebraucht zu werden und dem Wunsch nach »symbolischer Unsterblichkeit«. Man will etwas schaffen, das auch nach dem Ende des eigenen Lebens noch Bestand hat, etwas an spätere Generationen weitergeben und einen Beitrag zum Bestand und zur weiteren Entwicklung der Gesellschaft leisten (Kruse und Schmitt 2011b). Auf der Grundlage des Zusammenwirkens von individuellen Bedürfnissen sowie gesellschaftlichen Erwartungen und Möglichkeiten bilden sich auf andere bezogene Anliegen und Handlungsabsichten. Die Frage, inwieweit mögliche generative Anstrengungen als angemessen und gefordert, als im Einklang mit der persönlichen Lebensgeschichte, dem jeweiligen sozialen Umfeld wie auch mit Gesellschaft und Kultur insgesamt erlebt werden, verweist auf narrative Identität im Sinne individueller Rekonstruktionen der eigenen Person, ihrer Lebensgeschichte und der sich aus dieser ergebenden Antizipation der persönlichen Zukunft.
Während Erikson die Entwicklung von Integrität – die Aufgabe, das eigene Leben in seiner Gesamtheit als in sich stimmig zu erfahren, in seinen positiven und negativen Aspekten, in seiner Einmaligkeit, Endgültigkeit und Endlichkeit zu akzeptieren und im Sinne von Zufriedenheit zu bejahen – im Kontext der lebenslangen Identitätsentwicklung als Thematik einer letzten psychosozialen Krise konzeptualisiert, vertreten wir ein anderes Verständnis von Generativität, das deren Bedeutung für die Entwicklung im Alter betont: Demzufolge bleiben die Weitergabe von Wissen und Erfahrung und die Übernahme von Verantwortung für nachfolgende Generationen auch im Kontext der Identitätsentwicklung im sehr hohen Alter bedeutend, und Generativität ist daher auch weniger als ein Aspekt von Persönlichkeitsentwicklung, als eine Eigenschaft der Person zu sehen, sondern vielmehr als ein Merkmal der Passung zwischen Person und Umwelt, der Übereinstimmung von individuellen Motiven, gesellschaftlichen Erwartungen und zugehörigen Opportunitätsstrukturen. Unseres Erachtens ist Generativität entsprechend stärker im Sinne grundlegender Verantwortungsbezüge des Menschen im Erwachsenenalter, denn als Entwicklungsaufgabe zu interpretieren, die sich vor allem innerhalb einer vergleichsweise eng umgrenzten Lebensphase stellt (Kruse und Schmitt 2012). Dieses Verständnis wird durch eine gemeinsam mit Kollegen aus Mexiko und Spanien durchgeführte internationale Vergleichsstudie ebenso gestützt wie durch empirische Studien, die wir im Baltikum und in Nachfolgestaaten der Sowjetunion durchgeführt haben (Kruse und Schmitt 2012; Schmitt und Kruse 2018).