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5.8.2 Mitverantwortung
ОглавлениеMitverantwortung beschreibt in unserem Verständnis die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, sich in die Lebenssituation anderer hineinzuversetzen, sich für andere zu engagieren, etwas für andere zu tun, sich in der Gesellschaft zu engagieren. Die Bedeutung des mitverantwortlichen Lebens alter Menschen für die positive Lebenseinstellung im Alter wie für die Solidarität zwischen den Generationen konnten wir erstmals in einer internationalen, ländervergleichenden Untersuchung zu den Spätfolgen des Holocaust bei ehemaligen jüdischen Emigranten und Lagerhäftlingen aufzeigen (Kruse und Schmitt 2000). Für die 248 Untersuchungsteilnehmer bildete das Engagement für andere Menschen, vor allem nachfolgender Generationen, eine zentrale Form der Auseinandersetzung mit der erlebten Traumatisierung und zugleich einen bedeutenden Bestandteil des Selbstverständnisses, wie auch ein persönliches Kernanliegen. Dieses Engagement geschah zum einen aus der Empfindung einer persönlichen Verpflichtung heraus, Zeugnis für das Schicksal der Juden im Holocaust zu geben, zum anderen aus dem Motiv heraus, für die Verantwortung zu sensibilisieren, die jeder Einzelne für Freiheit, Demokratie und Gemeinwohl besitzt. Besuche im Schulunterricht und dort geführte Diskussionen bildeten in den verschiedenen Ländern jenen Kontext, in dem dieser intergenerationelle Dialog stattfand, den die Schüler wie auch die Überlebenden des Holocaust als großen persönlichen Gewinn erlebten. Diese Erfahrungen haben uns motiviert, den intergenerationellen Dialog in Curricula des Geschichts- und Ethikunterrichts an mehreren Schulen einzuführen.
Hannah Arendt (1959) hat in ihrer Schrift »Vita Activa oder vom tätigen Leben« zwischen drei menschlichen Grundtätigkeiten differenziert, deren Struktur sie in der natürlichen Bedingtheit der menschlichen Existenz begründet sieht: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Für unser Verständnis von Mitverantwortung sind die von Hannah Arendt getroffenen Aussagen zum Handeln zentral. Sie charakterisiert dieses wie folgt: Handeln beschreibt den Umgang von Menschen mit Menschen in Tat und Wort. Ein Handelnder steht immer im Beziehungsgeflecht zu Menschen und kann deswegen nie etwas ungestört anfangen oder zu Ende bringen. Im Handeln verwirklicht der Mensch seine höchste Fähigkeit, nämlich die Gabe, etwas völlig Neues zu beginnen und einen Prozess in Gang zu setzen, dessen Folgen unabsehbar sind. Für diese Fähigkeit wird das Wort »Natalität« (Gebürtlichkeit) geprägt. Wer ich bin, das kann ich nicht erfahren und festhalten in passiver und sprachloser Zurückgezogenheit. Erst wenn ich spreche und handle, gebe ich Aufschluss über mich, zeige ich mich und gebe ich mich auch aus der Hand. Diese Philosophie ist Grundlage für die Vorstellung von Politik und Demokratie. Die Fähigkeit zu handeln garantiert, dass jeder seine Unverwechselbarkeit behält und dass jeder die Eigenart des anderen nicht als Einschränkung empfindet, sondern als Chance begreift, im Austausch mit anderen die Frage nach dem gemeinsamen Leben immer wieder neu zu stellen.
Die Thematik der Mitverantwortung beschäftigt uns am Institut für Gerontologie vor dem Hintergrund einer Verantwortungsethik, die anhand des Sprachbildes der coram-Struktur erläutert werden kann. Das lateinische Wort coram kann übersetzt werden mit vor den Augen, das Wort coram publico mit vor den Augen der Öffentlichkeit (der Gemeinschaft, der Gesellschaft, der Welt). Es wird nun von drei grundlegenden Verantwortungsbezügen des Menschen ausgegangen, die in ihrer Gesamtheit jene coram-Struktur bilden, die die Bedeutung des Alters sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft erhellt. Den ersten Verantwortungsbezug bildet die Selbstsorge des Individuums, das heißt, dessen Verantwortung für sich selbst, den zweiten bildet die Mitverantwortung des Individuums, das heißt, dessen Bereitschaft, sich für Menschen und die Gesellschaft zu engagieren, den dritten die Verantwortung des Individuums vor der Schöpfung, die man auch verstehen kann als eine Verantwortung des Menschen in der Generationenfolge. Mitverantwortung ist in unserem Verständnis eine philosophisch-anthropologische Kategorie, die nicht im Sinne von psychologischen Merkmalen zu verstehen ist, auf denen sich interindividuelle Unterschiede abbilden lassen. Diese Kategorie weist jedoch enge Bezüge zu einem psychologischen Konstrukt auf, das die Grundlage für die am Institut für Gerontologie durchgeführten nationalen und internationalen Studien bildet und zugleich große theoretisch-konzeptionelle Bedeutung für eine Psychologie des Alterns besitzt – Konstrukt der Generativität (Kruse und Schmitt 2011a).