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5.7.3 Bewältigung von existenziellen Krisen und Grenzsituationen
ОглавлениеDie reflektierte Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und der eigenen Situation wird durch Erfahrungen angestoßen, die das Erleben von persönlicher Kontinuität und Identität, wenn sie es nicht außer Kraft setzen, so doch zumindest infrage stellen. Existenzielle Krisen und Grenzsituationen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass vordringliche situative Anforderungen entweder erst geklärt werden müssen oder in keiner eindeutigen Beziehung zu Handlungsanforderungen stehen, der individuelle Umgang mit der Situation mithin nicht geplant oder antizipiert werden kann, der Ausgang der Situation entsprechend offen ist.
Der Arzt und Philosoph Viktor von Weizsäcker, einer der Begründer der psychosomatischen Medizin und der medizinischen Anthropologie, verbindet in seinem Hauptwerk »Der Gestaltkreis« den Begriff der Krise explizit mit einer Erfahrung der Unstetigkeit des Selbst:
»Ein besonders starker Druck, dem Subjektiven nachzuspüren, geht dann von den Fällen aus, in denen die objektive Methode der Physiologie versagt. Es ist angenehm, wenn wir eine Lähmung durch eine Unterbrechung der Nerven, eine Gewichtsabnahme durch eine Steigerung des Grundumsatzes kausal erklären können. Dann aber kommen Zustände und Ereignisse, in welchen der Lebensvorgang aus der so gewiesenen Bahn der Kausalketten auszubrechen scheint. Wir können als ein Beispiel die Phänomene erkennen, die wir mit dem Namen der Krise zusammenfassen wollen. Da ist es dann so, dass der Ablauf bestimmter Ordnungen mehr oder weniger plötzlich unterbrochen wird, indem ein ganz und gar stürmisches Geschehen sich einstellt; mit diesem, durch dieses kann es zur Entstehung eines neuen, andersartigen Bildes kommen, dessen wieder stabile Ordnung dann auch wieder die durchsichtigere, erklärbare Struktur besitzt, die eine neue Kausalanalyse gestattet. Es gelingt aber nicht, diesen neuen Zustand aus dem früheren einfach abzuleiten. Dazu wäre, so scheint es nach der zeitlichen Konsequenz, nötig, die Krise als Mittelglied zwischen dem ersten und dem dritten Zustand exakt zu erklären, und dies eben gelingt nicht. Mängel und Lücken nun des Kausalerklärens gibt es auch sonst in Fülle. Aber hier handelt es sich doch um Lücken besonderer Art. Der Kranke selbst nämlich ist es, der davon den stärksten Eindruck empfängt. Mehr als sonst hat er das Gefühl der Überwältigung, des inneren Zerreißens, des unbegreiflichen Sprunges. Ein Beispiel ist etwa der Anfall schweren Kollapses oder Schwindels, oder die Bewusstseinsveränderung etwa der Schizophrenie, der Vergiftung, der Depression, der Ekstase, der Wollust oder des Rausches« (von Weizsäcker 1986, S. 170). Kranke können in besonders hohem Maße darüber Kunde geben, wie es in der Krise in ihnen zugeht. »Es sind das Personen, die eine gesteigerte innere Wahrnehmung zu haben scheinen, welche sie befähigt, ganz über das Übliche hinaus den kritischen Prozess sowohl zu leben als auch wahrzunehmen. Sie wandeln sich nicht nur, sondern sie erfahren die Wandlung als solche« (von Weizsäcker 1986, S. 170). »Die Krise ist ein Durchgang des unstetigen Endlichen durch eine Transzendenz zur Stetigkeit eines Endlichen« (von Weizsäcker 1986, S. 171). Worin besteht die Krise? »Sie besteht in einer Krise des Subjekts. Das Subjekt erfährt in ihr die Aufhebung seiner endlichen Gestalt als Aufgabe. Der Zwang, die Unstetigkeit der Kurve aufzuheben, enthält schon die Notwendigkeit, die Kurve selbst zu opfern. Dieser Vorgang macht verständlich, dass er mit Angst, Ohnmacht, Katastrophen der Bewegung, Bewegungssturm oder Bewegungslähmung usw. einhergehen kann. Diese Phänomene werden aus der Ich-Bedrohung der Krise unmittelbar selbstverständlich. Wir haben erkannt, dass das Wesentlichste der Krise nicht nur der Übergang von einer Ordnung zu einer anderen, sondern die Preisgabe der Kontinuität oder Identität des Subjektes ist. Das Subjekt ist es, welches in dem Riss oder Sprung vernichtet wird, wenn die Wandlung nicht erfolgt, nachdem einmal der Zwang, das ›Unmögliche‹ zu vollziehen, aufgerichtet worden ist. Das Ich würde sozusagen nach dem Sprunge nicht landen« (von Weizsäcker 1986, S. 171).
Für eine so verstandene Krisensituation stehen in der Regel keine kulturellen Muster oder Perspektiven, an denen sich Menschen in ihrem Umgang mit Anforderungen und Belastungen orientieren könnten, zur Verfügung. Diese Aussage sei im Folgenden anhand zweier Zitate aus v. Weizsäckers Pathosophie (2005) verdeutlicht:
»Das Thema ›Tod‹ müssen wir als eines beurteilen, welches gemeinhin aus dem Bewusstsein zu sehr verdrängt wird; und zwar, indem man, namentlich in der Medizin, eine möglichst lange Lebensverlängerung anstrebt. Kulturell sind besonders diejenigen Bestrebungen auffallend, welche den Tod als solchen möglichst aus dem Bewusstsein auszuscheiden bezwecken. Zum Beispiel, indem man den Tod bei Mensch und Tier kurz und schmerzlos zu machen strebt, zum Beispiel durch den elektrischen Stuhl bei der Todesstrafe oder durch Narkose bei Mensch und Tier. Hier also handelt es sich um beabsichtigte Tötung, und diese soll dann möglichst bewusstseinsfern gehalten werden im Sinne einer beabsichtigten Euthanasie. Es ist so, als ob es gütiger wäre, dass jemand seinen Tod nicht erleben kann« (von Weizsäcker 2005, S. 310).
»Je länger ich über den Tod spreche oder schreibe, um so mehr wird mir klar, dass ich nichts Neues über ihn sagen kann, weil ich nichts weiß. Ich kann also nur sagen, dass das, was andere über den Tod aussagen, aus keinem Wissen stammt. Und das ist zu wenig. Es kommt beim Lebensabschluss nicht darauf an, dass jemand gewisse Vorstellungen von Leben oder Nichtleben nach dem Tod hat, sondern darauf, ob er der Empfindung der Dankbarkeit, der Hoffnung, der Neidlosigkeit und der Unbedürftigkeit, etwas zu wissen, fähig ist« (von Weizsäcker 2005, S. 324).
Karl Jaspers beschreibt in seiner Schrift Philosophie (1973) Grenzsituationen als Grundsituationen der Existenz, die »mit dem Dasein selbst sind« (Jaspers 1973, S. 203). Das heißt, diese Situationen gehören zu unserer Existenz, konstituieren unsere Existenz. Grenzsituationen, wie jene des Leidens, des Verlusts, des Sterbens, haben den Charakter der Endgültigkeit: »Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen, ohne sie aus einem Anderen erklären und ableiten zu können« (Jaspers 1973, S. 203). Aufgrund ihrer Endgültigkeit lassen sich Grenzsituationen selbst nicht verändern, sondern vielmehr erfordern sie die Veränderung des Menschen, und zwar im Sinne einer weiteren Differenzierung seines Erlebens, seiner Erkenntnisse und seines Handelns, durch die er auch zu einer neuen Einstellung zu sich selbst und zu seiner Existenz gelangt: »Auf Grenzsituationen reagieren wir nicht sinnvoll durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten« (Jaspers 1973, S. 204). Das »Eintreten offenen Auges« lässt sich psychologisch im Sinne des reflektierten und verantwortlichen Umgangs interpretieren, also im Sinne der Orientierung des Menschen an Werten, derer er sich bewusst geworden ist (Kruse 2017). Die Anforderungen, die Grenzsituationen an den Menschen stellen, sowie die Verwirklichung des Menschen in Grenzsituationen »gehen auf das Ganze der Existenz« (Jaspers 1973, S. 206). Dabei wird die Verwirklichung in der Grenzsituation auch im Sinne eines »Sprungs« interpretiert, und zwar in der Hinsicht, als das Individuum in der gelingenden Auseinandersetzung mit dieser Situation zu einem vertieften Verständnis seiner selbst gelangt: »Nach dem Sprung ist mein Leben für mich ein anderes als mein Sein, sofern ich nur da bin. Ich sage ›ich selbst‹ in einem neuen Sinn« (Jaspers 1973, S. 207).
Bewältigung als Umgang des Menschen mit Grenzsituationen im Alter – zu nennen sind hier vor allem die erhöhte körperliche Verletzlichkeit, der Verlust nahestehender Menschen, die Bewusstwerdung der eigenen Endlichkeit – ist auch in ihrem potenziellen Einfluss auf kulturelle Leitbilder gelingenden Lebens zu betrachten: Alte Menschen können hier bedeutsame Vorbildfunktionen übernehmen – und zwar in der Hinsicht, dass sie nachfolgenden Generationen Einblick in Grenzen des Lebens sowie in die Fähigkeit des Menschen zum reflektierten Umgang mit diesen Grenzen und zur bewussten Annahme der Abhängigkeit von der Hilfe anderer Menschen geben (Kruse 2017).