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5.7 Bewältigung Andreas Kruse und Eric Schmitt 5.7.1 Einleitung: Zum Verständnis von Bewältigung
ОглавлениеNach Alfred Schütz lässt sich die alltägliche Lebenswelt des Menschen durch zwei pragmatische Setzungen charakterisieren, die Idealisierung des »Und-so-weiter« und des »Ich-kann-immer-wieder«: »Jedes lebensweltliche Auslegen ist ein Auslegen innerhalb eines Rahmens von bereits Ausgelegtem, innerhalb einer grundsätzlich und dem Typus nach vertrauten Wirklichkeit. Ich vertraue darauf, dass die Welt, so wie sie mir bisher bekannt ist, weiter so bleiben wird und dass folglich der aus meinen eigenen Erfahrungen gebildete und der von Mitmenschen übernommene Wissensvorrat weiterhin seine grundsätzliche Gültigkeit beibehalten wird. […] Aus dieser Annahme folgt die weitere grundsätzliche Annahme, dass ich meine früheren erfolgreichen Handlungen wiederholen kann. Solange die Weltstruktur als konstant hingenommen werden kann, solange meine Vorerfahrung gilt, bleibt mein Vermögen, auf die Welt in dieser und jener Weise zu wirken, prinzipiell erhalten« (Schütz und Luckmann 1979, S. 29).
Unter Bewältigung verstehen wir im vorliegenden Beitrag alle Reaktionen auf aktuelle oder antizipierte Anforderungen und Belastungen, die die Routine alltäglicher Lebensvollzüge infrage stellen. Dabei kann sich der Begriff der Bewältigung sowohl auf Situationen beziehen, die von den betroffenen Personen selbst als belastend erlebt werden, als auch auf Anforderungen, die die Person selbst nicht oder nicht in vollem Umfang zur Kenntnis nimmt. Bewältigung meint also nicht ohne weiteres aktives, auf eine Veränderung der Situation zielendes Handeln. Auch das Akzeptieren von Ereignissen und Entwicklungen sowie Prozesse der Aufmerksamkeitszuwendung, Umdeutung, Verdrängung oder Verleugnung sind in diesem Sinne als unter den Begriff der Bewältigung fallende Reaktionsformen zu verstehen. Des Weiteren impliziert Bewältigung nicht, dass es Menschen im Prozess der Auseinandersetzung besser gelingt, mit belastenden Momenten der Lebenssituation umzugehen, diese zu verändern, zu akzeptieren oder zu tolerieren. Schließlich ist für das hier vertretene Verständnis von Bewältigung wichtig, dass sich alternative Reaktionsformen als solche nicht als mehr oder weniger angemessen bewerten oder gar hierarchisch ordnen lassen. Vielmehr variiert der »Erfolg« von Bewältigungsverhalten problem-, personen- und kontextspezifisch.
Psychodynamische, lerntheoretische und kognitive Theorien akzentuieren jeweils unterschiedliche Aspekte von Bewältigung. In traditionellem psychoanalytischen Verständnis wird – ausgehend von den Arbeiten von Sigmund Freud und Anna Freud – Bewältigung vor allem als Ergebnis eines Reifungsprozesses verstanden: in der Auseinandersetzung mit intrapsychischen und zwischenmenschlichen Konflikten entwickeln sich bestimmte Formen der Konfliktbewältigung. Vor allem den Konflikten in Kindheit und Jugend sowie den in diesen Lebensabschnitten ausgebildeten Formen der Konfliktverarbeitung misst die Psychoanalyse große Bedeutung für die Art der Auseinandersetzung mit späteren Konflikten und Krisen bei. Ungelöste (dies heißt oft: verdrängte) Konflikte, die fehlende Fähigkeit, Konflikte auszuhalten, sowie unreife Formen der Konfliktverarbeitung führen dazu, dass Menschen in späteren Krisensituationen – zum Beispiel beim Auftreten von schweren Erkrankungen oder bei der Konfrontation mit dem herannahenden Tod – hilflos reagieren, möglicherweise sogar auf frühkindliche Entwicklungsstufen regredieren ( Kap. 38). Regressionen spiegeln sich zum Beispiel in ausgeprägter Passivität und im übertriebenen Bedürfnis nach Schutz und Fürsorge wider. Entsprechend lassen sich im psychoanalytischen Verständnis Bewältigungsstrategien nach der in ihnen zum Ausdruck kommenden Reife der Persönlichkeit hierarchisch ordnen, Verleugnung oder Verzerrung werden etwa als Unreife, Sublimierung, Altruismus und Humor als reife Bewältigungsstrategien angesehen.
Ein anderes Verständnis findet sich bei Norma Haan, die in ihrem Modell der Ich-Funktionen differenziert zwischen Coping im Sinne einer Orientierung an intersubjektiver Realität und Logik, Defense im Sinne einer den Ausdruck unterdrückter Impulse erlaubenden Verzerrung intersubjektiver Realität, wie sie die von Anna Freud beschriebenen Abwehrmechanismen kennzeichnet, und Fragmentation im Sinne einer intersubjektive Realität offenkundig verletzenden pathologischen Reaktion. Auch im Verständnis von Haan spiegeln die beobachtbaren Reaktionsformen unmittelbar die Reife der Persönlichkeit wider: »The person will cope if he can, defend if he must, and fragment if he is forced to do so« (Haan 1977, S. 42).
Die Psychoanalyse rückt immer weiter ab von der ursprünglichen Annahme, wonach die Entwicklungsfähigkeit der Person auf die ersten Lebensjahrzehnte beschränkt sei (Junkers 2018; Knight 2017). In neueren Arbeiten werden die lebenslang bestehenden Entwicklungspotenziale des Menschen als Grundlage für die psychotherapeutische Arbeit im mittleren und höheren Erwachsenenalter beschrieben und ihre Bedeutung für die Auseinandersetzung mit Grenzsituationen – wie schwerer Erkrankung und herannahendem Tod – betont ( Kap. 48). Relativ akut auftretende neurotische Symptome oder funktionelle Körperstörungen werden als Lösungsversuche überwiegend unbewusster Konflikte verstanden, wobei im Sinne einer differenziellen Therapieindikation unterschieden wird zwischen einem neurotischen Kernkonflikt, der nach langer Latenz zu einer Erstmanifestation der Symptomatik in der zweiten Hälfte des Erwachsenenlebens führt, einem Aktualkonflikt und einer durch den körperlichen Alternsprozess bedingten Traumareaktivierung (Heuft 2018).
Lerntheoretische Beiträge betonen die besonderen Einflüsse der sozialen Umwelt und der individuellen Deutung einer Situation auf die Entwicklung von Bewältigungstechniken. Die soziale Umwelt – vor allem die Primärfamilie – dient dem Menschen zum einen als Modell, das heißt, jene Bewältigungstechniken, die die wichtigsten (und zugleich positiv bewerteten) Bezugspersonen bei der Bewältigung von Konflikten und Krisen einsetzen, werden häufig imitiert. Zum anderen dient die soziale Umwelt als Verstärker einzelner Bewältigungstechniken, das heißt, sie bekräftigt Techniken, die sie als »effektiv« wahrnimmt. Auf Techniken, die als »ineffektiv« oder »schädlich« bewertet werden, reagiert sie hingegen mit Ablehnung oder Ignorieren; dadurch nimmt auch die Wahrscheinlichkeit zu, dass diese Techniken aufgegeben werden.
Für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Bewältigungstechniken sind weiterhin die Kognitionen eines Menschen bedeutsam. Mit dem Begriff der Kognitionen wird die Art und Weise, wie Menschen eine Situation und ihre Möglichkeiten der Situationsbewältigung deuten, umschrieben: Welche Techniken erscheinen dem Menschen als »effektiv« oder »angemessen« für den Umgang mit einer Situation? Die Antwort auf diese Frage hängt zum einen davon ab, welche Möglichkeiten der Situationsbewältigung wahrgenommen werden, zum anderen davon, welche Konsequenzen aus dem Umgang mit einer Situation erwachsen. Die Konsequenzen eigenen Handelns können als »Verstärker« dienen, die von der sozialen Umwelt möglicherweise nicht als solche wahrgenommen werden. So können etwa Menschen, die auf ihre Erkrankung mit Niedergeschlagenheit und Passivität reagieren, bei ihren Angehörigen gerade durch dieses Verhalten die Tendenz zur Unterstützung hervorrufen. In der erfahrenen Unterstützung liegt der Verstärker von Niedergeschlagenheit und Passivität. Es ist also durchaus möglich, dass durch übertriebene Unterstützung seitens der Angehörigen ein Verhalten verstärkt wird, das die Wiedergewinnung von Selbstständigkeit und Verantwortung behindert. Diese Argumentation wird durch Befunde von Untersuchungen in Alten- und Pflegeheimen gestützt, die zeigen, dass unselbstständige Verhaltensweisen der alten Menschen von den Mitarbeitern des Pflegepersonals am häufigsten mit Verhaltensweisen beantwortet werden, die die Unselbstständigkeit unterstützen, während selbstständige Verhaltensweisen zumeist ignoriert (und damit nicht verstärkt) werden (vgl. Baltes 1996).
Kognitive Theorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie Erleben und Verhalten nicht auf der Grundlage objektiver Situationsmerkmale zu verstehen, erklären und prognostizieren versuchen. Wie eine objektiv gegebene Situation wahrgenommen und gedeutet wird – zum Beispiel als »Herausforderung«, als »Bedrohung«, als bereits eingetretene »Schädigung« –, ist für die Art der Auseinandersetzung mit dieser von größter Bedeutung. Die Wahrnehmung und Deutung einer Situation werden von den Erfahrungen, die Menschen bei der Bewältigung ähnlicher Situationen gewonnen haben, beeinflusst. Die Erfahrung, in der Vergangenheit ähnliche Situationen gemeistert zu haben, trägt dazu bei, dass die Situation in der Gegenwart eher als »Herausforderung« denn als »Bedrohung« oder als eingetretene »Schädigung« gedeutet wird (Biggs et al. 2017). Die Erfahrung, in der Vergangenheit ähnliche Situationen nicht gemeistert zu haben, fördert hingegen die Interpretation der gegenwärtigen Situation als »Bedrohung« oder als bereits eingetretene »Schädigung«. Die Wahrscheinlichkeit, dass auf diese Situation mit Angst, übertriebener und unkoordinierter Aktivität, Passivität oder Verdrängung geantwortet wird, nimmt zu.
In der Gerontologie zählen Kontrollkonzepte zu den am intensivsten untersuchten Moderatorvariablen der Beziehung zwischen objektiven Situationsmerkmalen und individuellem Verhalten. In zahlreichen Ansätzen der Bewältigungsforschung wird dem Ausmaß wahrgenommener Kontrolle entscheidende Bedeutung für individuelle Bemühungen um eine Veränderung des Selbst und/oder der jeweils vorliegenden Situation betont. Heckhausen und Schulz (1995) unterscheiden in ihrer Lebenslauftheorie kontrollbezogenen Verhaltens zwischen primärer und sekundärer Kontrolle. Primäre Kontrolle bezieht sich auf die Möglichkeit, durch eigenes Verhalten aktiv gewünschte Veränderungen in der Umwelt herbeizuführen, sodass in der Umwelt bestehende Möglichkeiten und Anforderungen besser mit den eigenen Bedürfnissen übereinstimmen. Sekundäre Kontrolle bezieht sich dagegen auf eine Veränderung der eigenen Person, die dazu beiträgt, dass ein höheres Maß an Kongruenz zwischen den eigenen Bedürfnissen und den in der Umwelt bestehenden Möglichkeiten und Anforderungen wahrgenommen wird. Sekundäre Kontrollstrategien gelten nur dann als adaptiv, wenn sie langfristig das Potenzial der primären Kontrolle maximieren, indem etwa unerreichbare Ziele aufgegeben werden und erreichbare Ziele subjektiv an Priorität gewinnen (Primat primärer Kontrolle). Neben einer Veränderung individueller Zielhierarchien sind dem Selbstwert dienliche Attributionen oder soziale Abwärtsvergleiche als weitere wichtige Strategien sekundärer Kontrolle im Alter zu nennen. Auch wenn die Bedeutung sekundärer Kontrollstrategien mit dem Alter zunimmt, unterscheiden sich alte Menschen nach Heckhausen und Schulz in ihrem Bedürfnis, primäre Kontrolle auszuüben, nicht von jüngeren Menschen. Sie reagieren lediglich auf vergleichsweise ungünstigere Entwicklungsbedingungen, die die Adaptivität der primären Kontrollstrategien reduzieren und jene der sekundären Kontrollstrategien erhöhen (Heckhausen et al. 2019).
Das Zwei-Prozess-Modell der Bewältigung unterscheidet zwischen assimilativem, durch »hartnäckige Zielverfolgung« gekennzeichnetem, und einem akkomodativem, durch »flexible Zielanpassung« gekennzeichnetem Bewältigungsstil (Brandtstädter 2017). Da die im Alternsprozess auftretenden Einbußen und Verluste häufig irreversibel sind, in früheren Lebensabschnitten verfolgte Ziele häufig nicht mehr erreicht werden können, geht das Zwei-Prozess-Modell der Bewältigung davon aus, dass im Alter vor allem ein akkomodativer Bewältigungsstil zur Aufrechterhaltung eines positiven Selbstwertgefühls und zur Lebenszufriedenheit beiträgt.