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3.1. Das spezifische Potential von Fremdsprachenkompetenz zwischen nationalen Identitäten und Europäischer Identitätskonstruktion

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War der Erziehungsauftrag im 19. und überwiegend auch im 20. Jh. national ausgerichtet und an einer einzigen nationalen Sprache orientiert (Byram 2012), so ist er heute bzgl. des lernrelevanten Vorwissens und der Zielperspektiven zunehmend vielkulturell und mehrsprachig, wobei der jeweilige nationale Raum die stärkste Klammer bleibt. Der neue Anspruch an den Fremdsprachenunterricht – nunmehr zu echter interkultureller Kommunikationsfähigkeitinterkulturelle Kommunikationsfähgkeit in mehr als zwei Sprachen zu befähigen – verlangt eine Revision der ErziehungszieleErziehungszieleErziehungsziele, der Kursprofile und der Lehrlernmethoden: Wurden diese noch in Zeiten der Kommunikativen Fremdsprachendidaktik (↗ Art. 30) einzelzielsprachlich definiert, so stellt die EUEU nun hierneben das Ziel des mehrsprachigen Minimums. Die quantitative Zielperspektive hat qualitative Folgen. Weil Sprachen in Zahl und jeweiligem Umfang individuell nur begrenzt lern‑ und lehrbar sind und staatlicherseits FremdsprachenunterrichtFremdsprachenunterrichtder Nationalstaaten nur für wenige Sprachen breit und qualifiziert anbietbar ist, ist eine Abstufung und Präzisierung des Kompetenzziels für dritte, vierte und weitere Fremdsprachen unerlässlich: Auch in diesem Zusammenhang treten die rezeptive Mehrsprachigkeit qua InterkomprehensionInterkomprehension, sodann die Sprachlernkompetenz und in der Methodik das sprachenvernetzende LernenSprachenlernenvernetzendes (↗ Art. 14) in den Blick. Doch welche neuen Ziele fügt der neue Anspruch den bisherigen Zielen hinzu?

„Identität“ – ob kollektiv oder individuell – ist nicht nur ein Bewegungsbegriff des politischen Bezirks (Koselleck 1972). Das Wort hat auch in den Fremdsprachendidaktiken ein Echo gefunden (Meißner 2013; Burwitz-Melzer, Königs & Riemer, passim). Es bezeichnet eine starke Verbindung zwischen einzelnen Menschen einerseits und einer kollektiven Entität (Staat, Region, Stadt, Religionsgemeinschaft, Arbeiterschaft, GeschlechtGeschlecht, Generation, Parteizugehörigkeit usw.) andererseits. Offensichtlich kann sich personale Identität nur an der Identität einer Gruppe ausbilden. Das, was Erneste Renan 1882 für die französische Nation beschreibt („…une grande solidarité, constituée par le sentiment des sacrifices qu’on a faits et de ceux qu’on est disposé à faire encore“), gilt mutatis mutandis auch für ein zu entwickelndes europäisches Wir-GefühlWir-Gefühl. Dieses müssen die Bürger ausbilden; insbesondere, wenn sie die EU nicht nur als einen losen Staatenbund verstehen (wollen?): Das Wissen um eine gemeinsame Vergangenheit (und deren gemeinsam erlittene Katastrophen) und der Wille zu einer gemeinsamen Zukunft sind für den politischen Bestand der Europäischen Union konstitutiv. Bis heute machen indes die nationalen Staaten weitaus mehr nationale Identifikationsangebote an ihre Bevölkerungen, als solche EU-seitig pro Europa existieren. Nicht nur das: Zu oft wird die Union zum Sündenbock abgestempelt, um von Fehlern der nationalen Politik (Politiker) abzulenken. Die politische Semantik spricht in nahem Zusammenhang hierzu von Miranda‑ und TabuzonenMiranda u. Tabuzonen: verehrungsträchtige oder zur Diskriminierung führende ThemenThemenሴbሴdes kollektiven GedächtnissesThemenሴbሴu. Symbolwörter und Symbolwörter. Für Luhmann (1987: 224, 229) ist Kultur ein Repertoire an Themen, die innerhalb einer Sprechergemeinschaft – zumeist eine nationale – intensiv und langzeitlich kommuniziert bzw. geteilt werden. So wachsen ein gemeinsames Grundwissen (common grounds) und das kollektive Gedächtnis mit der Semantik der Gesellschaft (Luhmann 1980). Die unterschiedlichen und unterschiedlich verteilten Miranda- und Tabuzonen sind Teile der verschiedenen gesellschaftlichen Semantiken in der EU. Die Europäische Gesellschaft ist – auch – in dieser Hinsicht vielfach kulturell fragmentiert. Die jüngere semantische Frame-Forschung beleuchtet diesen Zusammenhang mit anderen Mitteln (passim: Wehling 2018). – Fraglos ist eine EU-identitätsstiftende ErziehungErziehungErziehungidentitätsstiftende nicht nur eine Aufgabe der sprachlichen Fächer. Doch sind die Fremdsprachen die einzigen, die die Begegnung mit zielkulturellen Themen in den Sprachen der EU-Bürgerinnen und -Bürger selbst erlauben. Im Klartext: Fremde Sprachen liefern uns die Sichtweisen der fremden Sprachgemeinschaften auf die jeweils eigenen, die nationalen sowie die europäischen Themen. Die rezeptive Mehrsprachigkeit ist die unseren Horizont erweiternde Brille, die wir uns aufsetzen müssen, um mehrere fremde Kontexte und dortige Meinungsbildungen erkennen und in ihren passion, reasonreasonVernunft und interestinterestInteresses verankerten Voraussetzungen besser verstehen zu können. Kenntnisse in nur einer einzigen Fremdsprache neigen dazu, dass alle Fremdheiten in der Sammelkategorie der einzig bekannten sprachlich-kulturellen Fremdheit zu subsumiert werden.

Fazit: Eine europäische Identitätsbildung kann nur polyreferentiell, plurinational, sprachlich diversifiziert und mehrsprachig gedacht und gemacht werden (↗ Art. 18). Sie muss an wirkungsmächtige national kommunizierte Inhalte anknüpfen, diese international-EU-europäisch vergleichen, integrieren und weiterführen, und zwar so, dass interests, passions und reasonreasonሴbሴVernunft kulturspezifisch-differenzierend mitbedacht werden.

Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik

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