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2 Methodische Herausforderungen altersdifferenzierter Kriminalitätsstatistiken Gerhard Spiess 2.1 Womit wir rechnen müssen – womit können wir rechnen?

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Unterschiede der registrierten Kriminalitätsbelastung zeigen sich, seit es Kriminalstatistiken gibt,3 durchweg in Abhängigkeit von zwei Größen: dem Geschlecht und dem Alter. Männer werden häufiger registriert als Frauen; in der deutschen Wohnbevölkerung sind es von den Männern 3 von 100, von den Frauen 1 von 100, von den jungen Männern zwischen 16 und 21 Jahren 8, ab 60 dagegen nur 1 von 100, die in einem Statistikjahr der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) als tatverdächtig registriert werden.4

Verändert sich die Altersstruktur der Bevölkerung, so hat das Auswirkungen auf das Delinquenzaufkommen – und entsprechend auf die mediale Wahrnehmung und den politischen Umgang mit diesen Veränderungen. Zu den Alterseffekten kommen aber auch zeitgebundene (Perioden-) Effekte: Die Zunahme von privatem Besitz und Versicherungen, die zur Schadensregulierung auf Anzeigeerstattung bei der Polizei bestehen, erklärt den Großteil des registrierten Kriminalitätsanstiegs der Nachkriegszeit durch Eigentumsdelikte, ebenso wie die wachsende gesellschaftliche Sensibilität gegenüber Gewaltdelikten zu vermehrten Anzeigen und Strafgesetzänderungen führte. Spezifische Kohorteneffekte finden sich in der ›Wanderung‹ der noch relativ starken Geborenenjahrgänge der Vorkriegszeit und in der Nachkriegszeit des ›Babybooms‹ der Jahre 1955 bis 1969 durch die Bevölkerungsstatistik: Der Zunahme der jüngeren Altersgruppen folgte – erwartbar – auch die Kriminalstatistik, medial und besonders in Wahlkampfzeiten reißerisch dramatisiert als angebliche Explosion der Kinder- und Jugendkriminalität aufgrund von Verrohung und Sittenverfall der Jugend und entsprechend im Fokus polizeilicher Aufmerksamkeit. Nach dem Rückgang der Geburtenraten und dem Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge in das Rentenalter bei weiter steigender Lebenserwartung nimmt die Zahl der Senioren absehbar weiter zu – in der Bevölkerung wie in der Kriminalstatistik: Während die Zahl der Verurteilten unter 70 Jahren in den 10 Jahren von 2008 bis 2018 um ca. 1/5 abnahm, stieg sie bei der Altersgruppe ab 70 um 1/3, ab 80 sogar um ca. 90 % – dies nicht zuletzt als Folge der vermehrten motorisierten Verkehrsteilnahme in den entsprechenden Alterskohorten.

Die Abschätzung der künftigen Entwicklung der jüngeren und erwerbsaktiven Bevölkerungsgruppen ist durch Faktoren wie Geburtenrate, Zu- und Abwanderung mit Unsicherheiten behaftet. Dagegen lässt sich aus der Stärke der älteren Jahrgangskohorten unter Berücksichtigung deren weiterer Lebenserwartung recht gut absehen, wie sich deren Größenordnung entwickeln und zu einer Zunahme der Zahl der Hochbetagten führen wird: Selbst bei Annahme dauerhaft hoher Zuwanderung wird die Zahl der Menschen im Erwerbsalter zwischen 20 und 66 Jahren bis Mitte der 2030er Jahre um 4 bis 6 Millionen zurückgehen, dagegen die Zahl der ab- 80-Jährigen längerfristig weiter auf 9 bis 10 Millionen anwachsen und 2050 etwa 1/10 der Bevölkerung ausmachen.

Die nachfolgende Abbildung ( Abb. 2.1) zeigt die auf Basis der Hauptvariante 2 der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausrechnung berechnete Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung ab 60 Jahren in Deutschland:5 Bei einer erwarteten Abnahme der unter 60-Jährigen von 2020 bis 2050 von 59 auf 52 Millionen wird der Eintritt der geburtenstarken Kohorten ins Rentenalter in den 2030er Jahren zur weiteren Zunahme der Bevölkerung ab 60 auf ca. 28 Millionen führen. Unter den Senioren wird die Zahl der Älteren ab 70 Jahren (bis auf ca. 18 Millionen) sowie der Hochbetagten ab 80 (auf mehr als 9 Millionen) anwachsen – und damit auf ein Drittel der ab 60-Jährigen.


Abb. 2.1: Veränderungen in der Altersstruktur bis 2020 und erwartete Auswirkungen bis 2050

Im Gefolge der Zunahme der Zahl der Senioren in Bevölkerung wie Kriminalstatistik finden sich reißerische Berichte über ›Opa-Gangs‹, Banküberfälle durch Rentner, aber auch zunehmende Opferzahlen. Beispielhaft die alarmistische Warnung eines Polizeigewerkschaftsfunktionärs: »Besorgniserregend ist für den Kripoexperten auch die Zahl der Raubüberfälle in Wohnungen… 17 Prozent der Opfer waren über 60 Jahre alt. Auffällig ist zudem die zunehmende Brutalität, mit der die Täter vorgehen.«6 Bei einem Bevölkerungsanteil der über 60-Jährigen von mehr als 26 % im selben Jahr zeigt ein Anteil von 17 % unter den Opfern allerdings eine unter-, nicht über-durchschnittliche Opfergefährdung dieser Altersgruppe. Setzt man die Zahl polizeilich registrierter Opfer ab 60 Jahren in Bezug zur altersgleichen Bevölkerung, so war die so berechnete Opfergefährdungszahl mit 2,8 je 100.000 im Jahr 2016 niedriger als in den meisten Vorjahren und 2019 mit 2,2 auf dem tiefsten Stand überhaupt seit dem statistischen Nachweis der Opferzahlen.7 Und was die angeblich zunehmende Brutalität gegen Senioren betrifft: Wie bei den Raubüberfällen in Wohnungen ist auch die statistisch ausgewiesene Häufigkeit vollendeter Raubmorde an Senioren seit Langem rückläufig und zuletzt (2019) mit 0,03/100.000 ebenfalls auf dem niedrigsten in der polizeilichen Opferstatistik der Bundesrepublik dokumentierten Stand.

Das zitierte Beispiel einer unverantwortlichen Verunsicherung der älteren Menschen zeigt die Wichtigkeit einer seriösen Auswertung und Bewertung der kriminalitätsstatistischen Daten. Vor allem aber zeigt es die Notwendigkeit, die absoluten Zahlen als relative Häufigkeitszahlen methodisch sinnvoll in Bezug zum Umfang der entsprechenden altersgleichen Bevölkerungsgruppe zu setzen: Dass mit der demografischen Entwicklung die absoluten Zahlen und die relativen (Prozent-)Anteile der Altersgruppen wie in der Bevölkerung so auch in der Kriminalstatistik sich verändern, ist trivial, aber für eine Bewertung – Jugend immer krimineller? Alte immer mehr gefährdet? – ungeeignet und häufig irreführend. Zudem ist auch die ältere Bevölkerung keine homogene Gruppe: Innerhalb der Senioren verschieben sich die Gewichte – Zahl wie Anteil – immer weiter in Richtung der hochbetagten Gruppen.

Womit – mit welchen verfügbaren Daten, mit welchen aussagekräftigen Statistiken – können wir rechnen als Grundlage einer faktengestützten Beurteilung der Entwicklung in den Altersgruppen der Senioren? Welche Messgrößen sind geeignet, Struktur und Veränderungen der Kriminalitätsbelastung im Alter zu beurteilen? Die wichtigsten verfügbaren Kriminalitätsstatistiken, ihre Besonderheiten und Beschränkungen und die verschiedenen Messgrößen werden im Folgenden dargestellt.

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