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3.2 Seniorenkriminalität im polizeilichen Hellfeld

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Im Jahr 2019 wurden in Deutschland insgesamt 155.205 Tatverdächtige im Alter von 60 und mehr Jahren in der PKS wegen des Begehens irgendeiner Straftat registriert.26 Senioren stellen damit 7,7 % aller registrierten Tatverdächtigen. Vergleicht man diesen Anteil mit dem Bevölkerungsanteil der Senioren, der im selben Jahr 28,2 % betrug, zeigt sich, dass Senioren deutlich seltener als Tatverdächtige registriert werden als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Vergleichbare Befunde ergeben sich für die Schweiz, wo im Jahr 2019 7,4 % aller Beschuldigten ein Alter ab 60 Jahren aufwiesen (6.001 Beschuldigte), während sie 24,4 % der Bevölkerung stellten.

Um die Kriminalitätsbelastung einer bestimmten Gruppe darzustellen, wird gewöhnlich auf die Tatverdächtigenbelastungszahl (bzw. in der Schweiz die Beschuldigtenbelastungszahl) zurückgegriffen. Diese Zahl setzt die Anzahl an Tatverdächtigen/Beschuldigten ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl; sie gibt an, wie viele Personen pro 100.000 Einwohnern der Wohnbevölkerung wegen der Ausübung einer Straftat polizeilich registriert wurden.27 Nachfolgende Abbildung ( Abb. 3.1) stellt die Belastungszahlen für verschiedene Altersgruppen für das Jahr 2019 für die Länder Deutschland und die Schweiz dar. Bei vier Altersgruppen lassen sich aufgrund abweichender Alterszusammenfassungen keine direkten Vergleiche der beiden Länder vornehmen. In Deutschland werden in der Kriminalstatistik 10- bis 13-Jährige, in der Schweiz 10- bis 14-Jährige ausgewiesen usw. Die erste von zwei Altersangabe in der Abbildung ( Abb. 3.1) steht insofern immer für Deutschland, die zweite für die Schweiz.

Die Ergebnisse zeigen erstens, dass Jugendliche und junge Erwachsene (14- bis 24-Jährige) die kriminalstatistisch auffälligste Gruppe in beiden Ländern darstellen. In Deutschland sind es jeweils ca. sechs Prozent dieser Altersgruppen, die polizeilich registriert werden, in der Schweiz ca. zwei Prozent.28 Unter 10-Jährige, strafunmündige Kinder sind in beiden Ländern am geringsten belastet, gefolgt von den Senioren. 60- bis 64-Jährige treten dabei noch häufiger als Tatverdächtige bzw. Beschuldigte in Erscheinung als 65- bis 69-Jährige usw. Zweitens belegen die Auswertungen, dass die Belastungszahlen in allen Altersgruppen in Deutschland höher ausfallen als in der Schweiz. Unter der Annahme, dass die Polizei in beiden Ländern in etwa ähnlich erfolgreich bei der Ermittlung von Tatverdächtigen ist, kann dies einerseits damit begründet werden, dass bestimmte Deliktsbereiche wie Verstöße gegen das Betäubungsmittel- oder das Ausländergesetz in der Schweiz in der Straftaten-Statistik nicht berücksichtigt werden. Allerdings machen diese Straftaten in Deutschland auch nur max. ein Zehntel der in der Kriminalstatistik registrierten Straftaten aus. Andererseits ist daher davon auszugehen, dass das Kriminalitätsniveau in der Schweiz insgesamt etwas niedriger liegt, was u. a. mit dem höheren sozio-ökonomischen Status in Zusammenhang stehen könnte.


Abb. 3.1: Tatverdächtigen-/Beschuldigtenbelastungszahl nach Altersgruppe und Land (eigene Berechnungen)

In der weiteren Abbildung ( Abb. 3.2) wird die Entwicklung der Belastungszahlen seit dem Jahr 2011 betrachtet. Wird dabei zunächst die Belastungszahl der ab 60-Jährigen insgesamt zwischen Deutschland und der Schweiz verglichen, so zeigt sich eine gegenläufige Bewegung: In der Schweiz steigt auf niedrigerem Niveau die Belastungszahl vom geringsten Wert 242,9 im Jahr 2013 auf den höchsten Wert 288,4 im Jahr 2019 (Anstieg um 18,7 %). In Deutschland hingegen ist die höchste Tatverdächtigenbelastungszahl im Jahr 2014 festzustellen (721,6); im Jahr 2019 liegt sie mit 663,9 um acht Prozent niedriger. In der Schweiz nimmt die Seniorenkriminalität also zu, in Deutschland ab. Allerdings ist letzteres in längerfristiger Betrachtung zu relativieren: Wie Hanslmaier und Baier (2015) zeigen, lag die Belastungszahl der ab 60-Jährigen Mitte der 1990er Jahre ebenfalls bei ca. 650; das heutige Niveau entspricht damit mehr oder weniger dem Niveau früherer Zeiten.

Die seit 2014 zu beobachtende rückläufige Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen findet sich in Deutschland nur bei den drei jüngeren Alterskohorten der 60- bis 64-Jährigen, 65- bis 69-Jährigen und 70- bis 79-Jährigen. Bei den ab 80-Jährigen steigt die Belastungszahl leicht von 258,2 auf 275,6 um 6,7 %.


Abb. 3.2: Tatverdächtigen-/Beschuldigtenbelastungszahl der ab 60-Jährigen seit 2011 (eigene Berechnungen)

Die Kriminalstatistiken erlauben es zudem, zwischen den Geschlechtern und Nationalitäten zu differenzieren. Dabei zeigt sich bezogen auf das Jahr 2019, dass die Tatverdächtigenbelastungszahl für ab 60-jährige Männer etwa 2,8mal über der Belastungszahl der Frauen liegt (1.028,9 zu 365,5). Der Geschlechterunterschied ist dabei über die Zeit hinweg einigermaßen konstant (vgl. Hanslmaier & Baier 2015). Für Senioren mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit findet sich eine ca. dreimal so hohe Belastungszahl wie für Senioren mit deutscher Staatsangehörigkeit (1.896,7 zu 594,5). Auch dieser Befund einer höheren Kriminalitätsbelastung der Nichtdeutschen findet sich bereits seit vielen Jahren (vgl. Hanslmaier & Baier 2015).

In Tabelle 3.1 sind zusätzlich Angaben zu einzelnen Delikten dargestellt. Bislang fokussierte die Darstellung auf die Straftaten insgesamt. Wie bereits erwähnt, wurden in Bezug auf alle in Deutschland registrierten Straftaten im Jahr 2019 155.205 Senioren als Tatverdächtige erfasst, was eine Belastungszahl von 663,9 entspricht. Diese ist im Vergleich zum Jahr 2014 um 8,0 % gesunken. Eine solch rückläufige Entwicklung findet sich dabei nur für einzelne Delikte; bei der Mehrheit der Delikte hat es hingegen Stabilität oder sogar Anstiege gegeben. Die Befunde für Deutschland sollen nachfolgend Schritt für Schritt vorgestellt werden.

Die meisten Tatverdächtigen im Alter ab 60 Jahren wurden im Jahr 2019 im Bereich der Diebstahlsdelikte registriert (30.893 Tatverdächtige). Hierbei handelt es sich meist um einfache Ladendiebstähle, insofern mehr als zwei von drei wegen Diebstahls registrierter Senioren dieses Delikt begangen haben (22.004 Tatverdächtige). Die Tatverdächtigenbelastungszahl zu Ladendiebstählen ist insgesamt am stärksten gefallen, und zwar um 38,7 % (Diebstahl insgesamt: -32,7 %). Dieser Rückgang ist dabei sicherlich u. a. mit verbesserten technischen Vorkehrungen zu erklären, die das Begehen von Ladendiebstählen erschweren.

Nach den Diebstahlsdelikten ergeben sich für folgende Delikte ebenfalls recht hohe Tatverdächtigenbelastungszahlen: Beleidigungen, leichte Körperverletzungen und Betrugsdelikte. Etwa jede achte registrierte Tatverdächtige hat eines dieser Delikte verübt (zwischen 18.885 und 22.686 ab 60-jährige Tatverdächtige). Es handelt sich durchweg um eher leichte Delikte, wobei mit Blick auf die Körperverletzungen deutlich wird, dass auch (leichte) Gewaltdelikte im höheren Alter weiterhin vorkommen. Bezüglich der Entwicklung ergeben sich unterschiedliche Trends bei diesen drei Delikten: Während Betrugsdelikte stark und Beleidigungen leicht zurückgegangen sind (-18,0 bzw. -3,1 %), ist die Tatverdächtigenbelastungszahl zu leichten Körperverletzungen um 8,5 % gestiegen. Der Anstieg kann dabei als ein Resultat einer zunehmenden Gewalttätigkeit älterer Personen gedeutet werden, was mit Blick auf die ansteigenden Zahlen der anderen Gewaltdelikte eine mögliche Deutung ist. Zu beachten ist zugleich, dass auch die Anzeigebereitschaft zugenommen haben könnte, weil die Sensibilität gestiegen ist und Opfer bzw. Angehörige von Opfern häufiger die Polizei informieren. Entwicklungen im Hellfeld sind immer auch davon abhängig, wie sich die Anzeigebereitschaft verändert.

Nahezu zwei von drei Tatverdächtigen haben eines der vier bisher erwähnten Delikte begangen (Diebstahl, Beleidigung, leichte Körperverletzung, Betrug). Andere Delikte bilden dementsprechend im Seniorenalter eher die Ausnahme. Im Jahr 2019 wurden 7.616 ab 60-Jährige wegen der Ausübung einer Sachbeschädigung als Tatverdächtige registriert, 6.751 wegen der Ausübung einer Gewalttat und 6.811 wegen Nötigung.29 Die Tatverdächtigenbelastungszahl zur Sachbeschädigung ist dabei mehr oder weniger konstant geblieben, ebenso wie die Belastungszahl zur Nötigung. Die Belastungszahl zur Gewaltkriminalität ist hingegen um 7,4 % gestiegen. Der Mord bzw. Totschlag (inkl. Versuch) als Delikt der Gewaltkriminalität ist dabei zwar unverändert geblieben – im Jahr 2019 wurden 188 Senioren als Tatverdächtige dieses Delikts registriert. Die drei anderen als Gewaltdelikte eingestuften Delikte sind hingegen gestiegen. Am stärksten trifft dies für die Vergewaltigungen/sexuellen Nötigungen zu, wobei hier gleichzeitig die insgesamt niedrige Zahl von 288 Tatverdächtigen im Jahr 2019 zu beachten ist. Zusätzlich sollte bei der Interpretation der Entwicklung der Zahlen zur Vergewaltigung berücksichtigt werden, dass im Jahr 2016 der Tatbestand des § 177 StGB erweitert wurde: War früher für die Einstufung eines Delikts als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung entscheidend, dass es zur Gewaltanwendung kam, wird nunmehr auch der sexuelle Übergriff mit Strafe bedroht, wenn »gegen den erkennbaren Willen« gehandelt wurde. Im Resultat werden Handlungen als Vergewaltigungen registriert, die vorher unter anderen Deliktkategorien oder gar nicht juristisch abgebildet werden konnten. Ein Anstieg der Zahlen ist nach solch einer Veränderung zu erwarten. Bedeutsamer als der Anstieg der Vergewaltigungen ist daher der Anstieg der Raubtaten und der schweren Körperverletzungen um 12,7 bzw. 6,9 %, da hierfür keine Gesetzesänderungen oder veränderte Erfassungsmodalitäten verantwortlich gemacht werden können. Inwieweit eine veränderte Anzeigebereitschaft oder eine veränderte Gewaltbereitschaft für diesen Anstieg bedeutsam ist, ist mit den Daten der Kriminalstatistik allein nicht zu klären. Da die Anzeigebereitschaft bei den beiden zuletzt genannten Delikten aber grundsätzlich höher ausfällt, sollte der beobachtete Anstieg nicht allein als Veränderung der Anzeigebereitschaft eingestuft werden.

Tab. 3.1: Tatverdächtige Senioren nach Delikt (eigene Berechnungen)


Schließlich sind in Tabelle 3.1 noch zwei weitere Delikte abgebildet: Fahrlässige Körperverletzungen (bspw. im Straßenverkehr) und Straftaten gegen das Waffengesetz. Letztere werden mit 4.775 Tatverdächtigen etwas häufiger registriert als erstere (3.655 Tatverdächtige). Zu beiden Delikten ergibt sich im Zeitvergleich ein Anstieg, der bei den Straftaten gegen das Waffengesetz mit 11,0 % stärker ausfällt als bei den fahrlässigen Körperverletzungen (5,6 %). Die Zunahme der fahrlässigen Körperverletzungen könnte damit in Zusammenhang stehen, dass Senioren verstärkt am Pkw-Straßenverkehr teilnehmen und hier häufiger ins Unfallgeschehen involviert sind. Zunehmende Verstöße gegen das Waffengesetz könnten darauf zurückgehen, dass sich Senioren häufiger bewaffnen und dabei auch häufiger versuchen, in den Besitz unerlaubter Waffen zu gelangen.

Tabelle 3.1 enthält zusätzlich zwei Spalten, in denen die Tatverdächtigenzahlen der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen und der ab 80-Jährigen abgebildet sind. Insbesondere die Spalte zu den ab 80-Jährigen soll an dieser Stelle noch betrachtet werden, insofern es sich hier um Hochbetagte handelt, über deren kriminelles Verhalten noch insgesamt recht wenig bekannt ist. Wie Heinz (2014) konstatiert, sind mit dem Hochbetagtenalter (auch als »viertes Alter« bezeichnet) häufiger Probleme wie Multimorbidität, Angewiesenheit auf Pflege oder Demenz verbunden, die nicht ohne Auswirkung auf die Kriminalität sein sollten. So sollten die Möglichkeiten, Straftaten zu begehen, für Menschen, die etwa auf Grund von Pflegebedürftigkeit oder motorischen Defiziten in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt sind, beschränkt sein.

Die Besonderheiten der Kriminalität von Hochbetagten werden ersichtlich, wenn die Tatverdächtigenzahlen der einzelnen Delikte ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Tatverdächtigen der Altersgruppe gesetzt wird (ohne Abbildung). Dabei wird deutlich, dass 22,5 % der ab 80-jährigen Tatverdächtigen wegen des Begehens eines einfachen Ladendiebstahls polizeilich registriert wurden; fast jeder vierte hochbetagte Tatverdächtige ist also ein Ladendieb. Bei den 60- bis 64-Jährigen liegt der Anteil mit 10,2 % nur halb so hoch. Ebenfalls deutlich höher fällt der Anteil an Tatverdächtigen aus, die wegen Straftaten gegen das Waffengesetz registriert wurden: Bei den Hochbetagten liegt der Anteil bei 8,5 %, bei den 60- bis 64-Jährigen nur bei 1,9 %. Erwähnenswert ist nicht zuletzt, dass 0,2 % der Hochbetagten wegen Mord oder Totschlag tatverdächtig waren, aber nur 0,1 % der 60- bis 64-Jährigen.

Umgekehrt zeigt sich für folgende Delikte, dass sie von jüngeren Senioren häufiger verübt werden als von Hochbetagten: Raub (0,3 zu 0,2 %), Betrug (14,7 zu 6,3 %) und Nötigung (4,8 zu 2,9 %). Die mit zunehmendem Alter abnehmende körperliche Leistungsfähigkeit mag für diese Unterschiede eine Erklärung darstellen, ebenso wie die rückläufigen Möglichkeiten der Ausübung dieser Delikte.

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