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Kapitel 2 - die Morgengabe
ОглавлениеDer Morgen kroch schon durch die Vorhänge, als Ocko sich zu seiner Foelkedis, wie er sie zärtlich nannte, gesellte. Er spürte, wie sich ihr Körper in Abwehr spannte. Seine Hände liebkosten ihre Schultern, und sie fühlte seine Körperwärme und wie er sein Gesicht in ihren Haaren vergrub.
„Hab’ keine Furcht“, hörte sie ihn flüstern. Zart berührten seine Lippen ihren Nacken. „Mein Traum ist wahr geworden. Du bist mein Licht in der Finsternis, der frische Quell, das täglich Brot. Wenn du mich lieben kannst, erreiche ich die Sterne.“
„Die erreichst du auch ohne mich, brauchst nur aufzustehen und den Betthimmel zu berühren.“
Ocko lachte leise und fuhr fort: „Kratzbürste. - Ich weiß, Kampo hat dich geliebt. Wenn er auch schlecht an dir gehandelt hat, so war es doch nur seine Liebe, seine schreckliche Liebe. Du sollst es gut bei mir haben, sollst nie wieder leiden müssen, Foelkedis.“
Schöne Worte, denkt Foelke, aber warum nur irren meine Gedanken zu Folkmar Allena? Wie sehr habe ich ihn begehrt und geliebt. Wir beide, sind wir nicht füreinander geschaffen gewesen? Oh Gott, welch wildes Verlangen mich damals ergriffen hat! Welcher Teufel hat mich dazu getrieben, mich ihm hinzugeben... in einem Pferdestall! - Welch unfassbarer Leichtsinn! Ein abenteuerliches Spiel! Tödlicher Gefahr habe ich mich ausgesetzt. Wie konnte ich mich dazu hinreißen lassen? Mein Geist, er muss wohl besessen gewesen sein von ihm.
Ockos sanfte Stimme, das kräftige und doch zärtliche Streicheln seiner Hände, die Wärme seines gespannten Leibes schienen geheimnisvolle Kräfte zu haben. An ihrer Hüfte spürte sie seine Erregung. Aber er wusste sich zu zügeln, drängte sich nicht heiß gegen ihren Körper.
Plötzlich fürchtete sie ihn nicht mehr. Er wird mich nicht anrühren, nicht heute - oder ich müsste ihn dazu ermuntern. - Ocko, mein Gemahl... Ob ich dich jemals so sehr lieben kann wie ich Folkmar geliebt habe?
Sie wusste, dass Ocko sie liebte, auch wenn er es nicht unverschlüsselt sagte, sie wusste, dass seine Liebe von anderer Art war... Mit einem Mal umgab Foelke ein Gefühl der Geborgenheit und ihr ganzes Herz flog ihm entgegen.
Es ging bereits auf zwölf Uhr zu. Foelke und Ocko betraten den Prunksaal, um zu vespern. Die Mägde hatten die Reste der vergangenen Nacht längst beseitigt. Alles war sauber geputzt und ein frisches Leintuch bedeckte die aufgetragene Tafel.
Es roch nach Rauch. Feuchter Torf schmullte in beiden Kaminen, verbreitete dürftige Wärme. Fröstelnd zog Foelke die Schultern hoch, nahm den eisernen Feuerhaken und stocherte in der spärlichen Glut herum.
„Der Knecht macht das, Foelkedis. Lass das. Setz dich.“ Ungeduld schwang in seiner Stimme und ihr wurde augenblicklich klar, dass er in ihr die Herrin sah und dies bewusst aufzuzeigen wünschte.
Es störte Ocko, dass Affo Beninga über Nacht geblieben und immer noch da war. Das hörte Foelke an seinem Tonfall. Er hätte es sich gewünscht, mit ihr allein zu sein. Nun sah er sich gezwungen, mit Affo zu plaudern. Mit mühsam unterdrücktem Missfallen gesellte Ocko sich zu ihm an die Tafel.
„Hoho! Das glückliche Ehepaar! Ich habe mich schon gefragt, ob ihr je das warme Nest verlassen werdet!“
Affo bemerkte Ockos 'Unzufriedenheit' nicht. Still beobachtete Foelke, wie dieser große Mann mit seinen Bauernpratzen nach Brotlaib und Messer langte, sich ungeschickt einen Kanten absäbelte.
Ihren Blick bemerkend, lächelte er entschuldigend: „Mea culpa (ich bekenne), früher hat meine Frau das für mich gemacht. Ja, sie ist nun auch schon über ein Jahr tot. Wohl nicht das richtige Gesprächsthema für ein junges Ehepaar? Tut mir leid. Als ich euch vorhin hereinkommen sah, musste ich wieder an sie denken.“
Verdrossen hob Ocko die Brauen. Muss er schon wieder damit kommen?
„Tjadecke war nicht so liebreizend wie deine Foelke“, fuhr Affo fort. „Deine Nichte, Adda Folkmarsna, hat einmal gesagt, sie sähe aus wie ein alter Gaul.“ Unangebrachtes, glucksendes Gelächter kullerte aus seiner Kehle.
Verstohlen zog Foelke ihr silbernes muschelförmiges Riechdöschen hervor, dass Kampo ihr kurz vor seinem Tod geschenkt hatte. Und du siehst auch nicht viel anders aus mit deinen großen gelben Zähnen, na ja, eher wie ein Rindvieh und außerdem riechst du auch so grauenhaft.
„Aber sie war sehr fürsorglich und eine gute Hausfrau.“
„Sie ist vergiftet worden, nicht wahr? Ich hörte davon“, warf Foelke ein.
„Vergiftet worden? Ich weiß nicht. Es war eine Pilzvergiftung. Die ganze Familie ist ausgelöscht. Mertn (=Martin) Syertza, mein Schwiegervater, war ja schon über siebzig, aber Tjadeckes Bruder Omptad..., alle sind daran gestorben. Vorsehung oder reiner Zufall, dass ich seinerzeit nicht an dem vermaledeiten Essen teilgenommen habe?“
„Vielleicht hat er einen Schutzengel, nicht wahr, Ocko?“ Foelke warf Ocko einen vielsagenden Blick zu.
Der schürzte die Lippen und nickte: „Wahrscheinlich.“
Affo Beninga erfasste es nicht: „Wir haben damals an eben diesem Tage verhandelt wegen deines Erbstreites mit Folkmar Allena. Erinnerst du dich, Ocko? Ich war am frühen Morgen losgeritten nach Broke, weil du deinen Herold, den Gelderen, nach mir geschickt und um eine Zusammenkunft gebeten hattest. - Wenn man es recht betrachtet, so hast du mir damit das Leben gerettet.“
Der Ritter lächelte eigentümlich und griff nach dem Zinnkrug: „Richtig“, sagte er fest.
Unwillkürlich musste Foelke an Addas Bemerkung denken, dass man in Italien seine Gegner mit Gift aus dem Weg zu räumen pflegt. Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, sagte sie leise: „So bist du nun also ein sehr vermögender Mann, Affo.“
„Zu meiner Herrlichkeit gehören Pilsum, Berum und Norden“, antwortete er nicht ohne Stolz. „Pilsum ist ererbt von meinem Vater. Auf der Itzinga-Burg in Norden hat der alte Keno mich seinerzeit als Drost eingesetzt, damals, als Eberhard Itzinga einem Mordanschlag zum Opfer gefallen ist. Berum hat Tjadecke - Gott hab' sie selig - mir hinterlassen. Olrik, Tjadeckes Bruder, ist bei Wittmund gefallen. - Na ja, das weißt du ja, Ocko. Dein Oheim, Eberhard Itzinga, ist auf seiner Burg ermordet worden und... Dein Vater führte eine Strafexpedition gegen die Wittmunder. Wir erlitten leider eine bittere Niederlage. Viele der unsrigen sind auf dem Schlachtfeld geblieben. Tjadeckes Bruder auch. Der versprengte Rest wurde in die Flucht geschlagen. Mit Müh' und Not konnten wir unseren Hals retten, der alte Keno, ich und wenige andere. Leider mussten wir viele Freunde zurücklassen. Sie gerieten in Gefangenschaft. Hast du sie nicht später ausgelöst, Ocko?“
Der Ritter nickte ungerührt: „Für meinen Schwager Ulrich Circsena war das leider zu spät.“
„Ach ja, Ulrich, der war schwer verwundet. Er starb in meinen Armen, noch auf der Kampfstatt.“
„Merkwürdig, man hatte mir für ihn eine Lösegeldforderung übersandt.“
„Lösegeld? - Schnöder Betrug!“
„Ich bin ohnehin nicht darauf 'reingefallen“, griente Ocko. „In meinen Augen ist die ganze Strafexpedition unsinnig gewesen.“
„Wie meinst du das?“, fragte Affo Beninga gereizt.
Die Frage kam für Ocko nicht unerwartet: „Ein Ablenkungsmanöver von den wahren Schuldigen, sonst nichts. Weißt du das nicht? Jede Obrigkeit zettelt Krieg an, wenn man innerstaatliche Probleme vernebeln will.“
„Hoho! Da sprichst du eine harsche Anschuldigung aus. Dein eigener Vater führte das Aufgebot gegen die Wittmunder!“
„Ich weiß, aber ich weiß auch, dass die Wittmunder mit dem Mord an meinem Oheim nichts zu tun gehabt haben.“
„Hast du dafür einen Beweis?“
„Beweis? Wozu? Erinnere dich! Wer hat rücksichtslos die Norder Vredemannen beseitigt?“
„Beseitigt! Das hört sich harsch an. So war das gar nicht.“
„Wie denn?“
„Als Consules sind wir von je her für die Außenpolitik zuständig gewesen.“
„Ja, und?“
„Wozu braucht man dann noch die Vredemannen? Das Blutgericht unterliegt uns, da ist es zweifellos sinnvoll, alles zu bündeln. So ist es auch in der Kaiserstadt Nürnberg. Wir haben uns nur angepasst.“ Affo Beninga wirkte keineswegs irritiert. Er fühlte sich im Recht.
„Soso, die Vredemannen haben also die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannt. Das meinst du doch? Nun, und wer hat das 'Bündeln' gemacht?“
„Eberhard Itzinga und einige andere.“
„Siehst du? Ist das nicht Beweis genug?“ In Ockos Stimme lag leiser Triumph, den Affo geflissentlich überhörte. Ungerührt fuhr er fort, seine Familiengeschichten auszubreiten: „Die Familie Syertza hat unter einem bösen Stern gestanden. Wie ihr wisst, wurde auch Haro Syertza ermordet, ein Jahr vor dieser Pilzgeschichte und dem Tod meiner Frau. Ich werde das nie vergessen...“
„Ich auch nicht“, bemerkte Ocko. „Ich erinnere mich noch sehr genau: An Petri Kettenfeier schiffte ich mich in Emden ein.“
„An Petri Kettenfeier - dem Hexensabbat“, grinste Affo vielsagend. „Den Tag hast du dir wohl mit Vorbedacht ausgesucht.“
„Du hast es erfasst, so ist es. Der Hexensabbat mit dem schwarzen Engel Angelo an meiner Seite. Das ist der mit Pferdefuß. Erinnerst du dich?“ Ocko lachte amüsiert über Affos Gesichtsausdruck. „Es war ein wunderschöner Sommertag, und das erste, was mir zu Ohren kam, war die Nachricht, dass mein Onkel Keno Kenisna aus Norden und Haro Syertza zusammen mit Rembold Elana wenige Wochen vorher - ich glaube, es war Ende Juni - auf der Itzinga-Burg ermordet worden waren.“
„War Rembold nicht auch ein Verwandter von dir?“
„Ja, aus dem Rheiderland, aus dem Hause von Ewo Houwerda.“
„Hm, alles Familie. - Der Grund für diese Morde ist mir bis heute verborgen geblieben“, meinte Affo nachdenklich.
Kopfschüttelnd entgegnete Ocko: „Das liegt doch auf der Hand!“ - Dieser Bauerntrottel!
„Ich verstehe nicht. Wo siehst du denn da einen Zusammenhang?“, fragte Affo naiv.
Welch dumme Frage! Entweder stellt er sich dumm, weil er nicht frei von Schuld ist, oder er ist wirklich so dumm. Ungeduldig entgegnete Ocko: „Bist du denn blind? Die Morde und die Beseitigung der Vredemannen! Das hängt doch zusammen!“
Abwehrend hob Affo die Hände, gurgelte ein grimmiges „Oh“.
„Gut, es klingt sarkastisch, aber bei solchen Spitzen redet man sarkastisch“, lenkte Ocko ein. „Mertn Syertza, Haro Syertza, Eberhard Itzinga, Hylo Attena, Keno Kenisna - na ja, der war wohl schon zu alt...“
„Keno war aber geistig voll auf der Höhe. Wäre er nicht umgebracht worden, sicher hätte er die hundert Jahre noch erreicht.“
„ ...dann sieht es doch ganz so aus, als ob auch er daran beteiligt gewesen ist, die Konsulatsverfassung und mit ihr die Norderländer Vredemannen abzuschaffen.“
„Mag sein, das war aber schon anno 1376“, entgegnete Affo abweisend. „Wenn man bedenkt, dass sie noch letztes Jahr zusammen das landesherrliche Siegel, den segnenden Heiligen Ludger, benutzt haben? Da haben sie sich als Häupter des Norderlandes bei der Stadt Bremen für die Freilassung zweier Untertanen bedankt und den Bremer Bürgern ihren Schutz zugesichert. (Urkunde vom 2. Febr. 1378) - Ich bleibe dabei: Du siehst Gespenster, Ocko. Eberhards Tod kann nichts mit der Beseitigung der Vredemannen zu tun haben.“
„Und warum nicht?“, fragte Ocko überdrüssig.
„Es hat einen Zeugen gegeben. Der hat ausgesagt, dass die Wittmunder den Mord an Eberhard Itzinga angestiftet haben.“
„So? Einen Zeugen? Und das hat er freiwillig ausgesagt, ja?“
Zögernd gab Affo Beninga zu: „Nicht ganz freiwillig. Sie haben ihn... überredet.“
„Findest du das nicht kurios? Unter der Folter sagen die Menschen alles, was man von ihnen hören will. Das weiß doch jeder! Und wer das nicht zugibt, will es aus niedrigen Beweggründen leugnen. Folter bringt höchst selten die Wahrheit ans Licht.“
„Trotzdem, der Mord an Itzinga muss andere Gründe gehabt haben“, beharrte Affo stur. „Außerdem, wenn du meinst der Zeuge taugt nichts, muss ich dir sagen, dass man den Itzinga schon ein paar Jahre früher umgebracht hat, nämlich 1372. Räuberische Scholaren sollen es gewesen sein, frag deine Nichte.“
Genugtuung lag in seinen wasserblauen Augen, dann Erstaunen und schließlich Belustigung, als Ocko ausführte: „Ja, ja, das weiß ich. Das ist keine Begründung für mich, denn schon damals gab es Gerangel um die Macht im Norderland, lieber Affo. Wenn ich auch zu der Zeit in Neapel gewesen bin, so weiß ich trotzdem sehr gut über die Vorgänge bei euch Bescheid. Eberhard Itzinga steckte mittendrin in diesen Machtkämpfen. Wie hätte er sich da auch heraushalten können? Man darf nicht vergessen, dass Eberhard der Schwager meines Vaters gewesen ist. Und wenn ich darüber nachdenke, dann muss ich sagen: wenn Eberhard dabei war und wenn meines Vaters Oheim, Keno Kenisna, dabei war, dann mit Sicherheit mein Vater auch. Verstehst du? Jeder hat seine Finger in diesem unsauberen Spiel gehabt: Zuerst wird Eberhard Itzinga ermordet. Vermutlich glaubte man, sich damit den Urheber vom Hals zu schaffen. Dem war aber nicht so, wie man feststellen musste. Es gab da noch andere machtgierige Umstürzler. Mord ist ein beliebtes Mittel, missliebige Leute aus dem Weg zu schaffen; das ist so alt wie die Menschheit, Affo, und ebenso nützlich und wird immer so bleiben.“
Das erheiterte Affo Beninga und er bemerkte amüsiert, dass Ockos Phantasie ’denkwürdig’ sei.
„Wo lebst du, Affo? Auf einem andern Stern? Hör zu, Affo. Du denkst, es läge zu viel Zeit zwischen den Morden, um sie zueinander in Beziehung stellen zu können? Lass dir das gesagt sein: dem ist nicht so. Überdenke einmal in Ruhe die politische Lage dieser fünf Jahre von 1372 bis '77. Ich frage dich: Die Consules, war ihre Herrschaft stabil? Waren sie stark oder schwach?“
„Wenn du mich so fragst, eher schwach. Sie gefielen sich darin, miteinander zu disputieren. Es war ein Klüngel, der nicht aufzubrechen gewesen ist. Sie wollten Veränderungen, aber...“
„... keine, die sie selbst tangierten.“ Ocko nickte befriedigt: „Und? Wenn schließlich nach endlosen Streitereien Beschlüsse gefasst waren, wurden diese dann in die Tat umgesetzt?“
„Nein, das ging ja nicht.“ Affo zog ein Gesicht, als hätte er saures Bier geschlürft.
„Warum denn nicht? Warum setzten sie nicht in die Tat um, was beschlossen war?“, stocherte Ocko gnadenlos nach.
„Beschlüsse zu fassen, ist eine Sache, die Durchsetzung eine andere. Die Vredemannen behinderten und verhinderten, wo sie konnten. Dabei warfen sie uns vor, wir täten nichts.“
Ocko horchte auf: „Also auch dort ein Klüngel mit erstaunlichem Beharrungsvermögen. Die Vredemannen waren euch damit schlechterdings lästig.“
Das konnte Affo nur bestätigen und nicht nur das, Consules und Vredemannen seien hoffnungslos zerstritten gewesen. Ocko beugte sich gespannt vor: „Und? Die Vredemannen? Wollten sie nicht auch lieber heut als morgen die Consules loswerden?“
Ja, es seien Bestrebungen im Gange gewesen, stimmte Affo Beninga kleinlaut zu.
„So trafen die Berichte zu, die mich seinerzeit in Italien erreichten. Um den Vredemannen zuvorkommen, beschlossen die Consules, sie einfach abzusetzen, nicht wahr? Ist das richtig?“
In einem Tonfall, als wäre er gerade persönlich beleidigt worden, erklärte Affo, das sei eine notwendige Maßnahme gewesen, um vernünftig regieren zu können. Die Vredemannen hätten es selbst herausgefordert. Aber die Verfassung habe das ja leider nicht zugelassen.
Aha, jetzt kommt Affo der Sache schon näher, denkt Foelke und Ocko folgert: „Also entledigen sich die Consules der widrigen Verfassung. Ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt, ja? - Als Folge davon musste ein neues Recht geschaffen werden. Das haben die Consules denn auch getan, aber anders als die Bevölkerung sich das gedacht hat. Richtig?“
Affos helle Augen nahmen einen überraschten Ausdruck an: „Dein Verstand ist geschliffen wie ein Schwert, Ocko. Das neue Recht, es missfiel manch wackerem Friesen. Die Bevölkerung wollte ihre alte Verfassung behalten!“
„Genau das! Die Consules aber dachten nicht im Traum daran, sich dem Willen des Volkes zu beugen. Stattdessen haben sie die Pfründe untereinander aufgeteilt und sich zu mächtigen Häuptlingen aufgeschwungen.“
„Wir haben lange genug geduldet, dass die Vredemannen uns dazwischen redeten. Dadurch entstand ein Stillstand, im Handelsbereich, im Ausbau der Deiche, der Häfen und überhaupt. Zuerst meinten die Leute, wir hätten zwar nichts getan aber auch keine Fehler gemacht, also drohte uns von dort auch keine Ablehnung. Das änderte sich aber nach der schweren Sturmflut, in der die Leybucht eingebrochen ist und so viel Land verloren gegangen ist. In den vorangegangenen Jahren war dort kräftig abgeholzt worden. Niemand hat damit gerechnet, dass...“
„...dass man das nicht tun darf, ohne gleichzeitig die Deiche zu verstärken, weil Bäume das Erdreich festhalten. - Im Gegenzug hattet ihr Ackerland geschaffen und gute Gewinne beim Holzverkauf eingefahren. Richtig?“
„Nein, ja... Das Ackerland warf gute Ernten ab, aber die Gewinne für den Holzverkauf..., sie sind in den Schiffbau geflossen...“
„...und in den Bau von Burgen, hab ich Recht?“
„Nun, zum Teil ja... Das war vorrangig. Wer konnte damit rechnen, dass wir eine Jahrhundertflut kriegen? Kein ein! Jedenfalls, weil keine Mittel mehr vorhanden waren, konnten wir nicht deichen. Die Leute fingen an zu murren und warfen uns Versäumnisse vor. Wir mussten im wahrsten Sinne des Wortes handeln. In dieser brisanten Lage haben die Consules die Vredemannen schlicht beseitigt. Das mussten wir uns nicht antun, dass sie uns in den Rücken fallen. Zu lange Zeit haben wir das hingenommen. Das war reiner Selbsterhaltungstrieb, eine notwendige Maßnahme. Und von da an führt jeder nun ein eigenes Siegel und das ist auch besser so. Und wenn der König das nicht gewollt hätte, dann... Er hätte uns kein Siegel zugestanden!“
„Gewiss, das gibt die Macht, besser schalten und walten zu können... Nun ja, gibst du zu, Affo, dass tatsächlich Bestrebungen von den abgesetzten Vredemannen im Gange waren, die Häuptlinge zu beseitigen?“
„Beseitigen! Absetzen, ja! - Aber ermorden? Lächerlich! Das geht denn doch zu weit.“ Affos Gesicht sah aus wie ein rotbackiger Apfel.
Er begreift es nicht, überlegte Foelke, oder will es nicht begreifen. Vielleicht steckt doch mehr dahinter als er zugeben kann und will? Vielleicht ließen nicht die abgesetzten Vredemannen die Häuptlinge ermorden sondern andere Häuptlinge taten das. Vielleicht hatten jene Häuptlinge, die ihr ‚Stück Kuchen' als zu klein ansahen, die Hand im Spiel.
„Die Consules ließen sich aber nicht so ohne weiteres absetzen, weil ja die alte Verfassung in Wirklichkeit doch noch Gültigkeit hatte, da sie ja nicht im Einverständnis mit den Vredemannen geändert worden war. Man berief also wieder darauf und zog die alte Verfassung aus dem Ärmel! – Ein Witz das Ganze! - Da folgte die Abrechnung auf dem Fuße. Glaubst du mir jetzt, dass diese Morde miteinander verknüpft werden können?“ Ocko schlug ärgerlich mit der Hand auf den Tisch. „Wurden sie ermordet? Ja oder nein.“
„Das kann ich nicht leugnen.“ In Affos Miene lag ein fassungsloser Ausdruck. „Wenn du es so siehst...?“
„Ich sehe es so. Wo warst du eigentlich, als die drei Häuptlinge ermordet wurden? Mein Vater hatte dich nach Eberhard Itzingas Tod zum Drosten der Itzinga-Burg in Norden bestellt! Wo warst du also?“
„Was willst du mir unterstellen, Ocko?“ Affos Gesicht verlor eine Spur an Farbe.
„Warum antwortest du nicht drauf, Affo? Es ist eine einfache Frage.“
„Ich war zu Hause in Berum, bei Tjadecke.“
„Zu Hause? Drei Häuptlinge werden ermordet und du bist zu Hause? Dein Platz war dort! Du bist Drost auf der Itzinga-Burg, Himas Vormund!“, und an Foelke gewandt: „Was meinst du dazu? Hima Itzinga hat drei unmündige Kinder! Gehörte es sich nicht für ihn, sein Mündel zu schützen?“
Beifällig nickte Foelke.
„Ich, ich, ich... wurde dort nicht gebraucht, Ocko. Hima hatte genügend männlichen Schutz!“ Affo Beninga stotterte verwirrt.
„Findest du es nicht merkwürdig? Gerade bist du fort und schon ereignen sich ‚Unglücksfälle'? Keno Kenisna, Haro Syertza, Rembold Elana - alles enge Amtskollegen und Freunde von dir und von Eberhard Itzinga - sie alle werden ermordet! Bezeichnend auch der Ort der heimtückischen Tat: die Itzinga-Burg. Genau dort, wo Eberhard Itzinga seinen Freunden vorangegangen ist. Meinst du nicht auch, dass die Itzinga-Burg schon damals als geheimer Versammlungsort gedient haben muss? Ein Jahr später - in Berum - rafft diese unheimliche Pilzvergiftung den Rest der Familie Syertza hinweg - deiner Familie, Affo! Wieder sind drei Menschen tot! - Eine magische Zahl in diesem Geschehen, scheint mir. Alle drei auf einen Streich! - Hatten die Syertza nicht den zweifelhaften Ruf, als Drahtzieher zu gelten? Haben sie nicht den Rahm abgeschöpft und die größte Macht an sich gerissen? Die Syertza haben sich damit keine Freunde gemacht, denke ich.“
„Ja, Veränderungen ziehen das häufig nach sich. Aber eigentlich... Das hat sich so ergeben, Ocko. Immer schon haben die Consules die Verbannungen verhängt oder die freiwillige Selbstverbannung beurkundet. Dafür waren die Consules eben zuständig. Und seit längerem...“ Affos Pferdelippen zitterten.
„Und seit längerem?“
„Nun ja, wenn nun dieser Vertrag von einem Verbannten gebrochen wird, wenn er sich nicht daran hält und doch wieder ins Land kommt, dann folgt die Strafe auf dem Fuße. Das steht in dem Verbannungsvertrag. Dann muss doch jemand die Bestrafung anordnen.“
Warum der Asega das nicht getan habe, fragte Ocko nach.
„Weil eben der Konsul den Vertrag mit dem Verbannten abschließt. Das ist... wie soll ich sagen, ein außergerichtlicher Vertrag, der dem Verbannten das hochnotpeinliche Gericht ersparen soll. Das ist doch besser, als wenn er einen Kopf kürzer gemacht wird, oder?“
„Freilich, nichts dagegen einzuwenden. Dennoch verstehe ich nicht, warum bei Vertragsbruch der Asega nicht eingeschritten ist.“
Das sei nicht seine Aufgabe gewesen, beharrte Affo Beninga.
„Die Consules haben also ein Gericht neben dem Gericht geschaffen, ja?“
„Wenn du es so siehst?“
„So sehe ich das, Affo.“
„Jedenfalls sehe ich nicht, was das mit den Morden an den Syertza zu tun hat, Ocko!“ Affo lehnte sich zufrieden zurück, verschränkte abwehrend die Arme über der Brust.
„Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Ich frage dich, Affo: Wer blieb übrig nach den Morden?“
Ockos Gegenüber überlegte keinen Augenblick: „Hylo Attena!“
„Eben. Hylo Attena, der Norder Vogt... und das Auricherland, das uns gehört, hat er sich durch den Mord an meinem Großonkel auch noch unter den Nagel gerissen.“
„Aber Ocko! Nach dem Tode deines Vaters musste er, als Vogt des Grafen, das Land doch verwalten. Der Lehnvertrag war gelöst, der König hatte sich noch nicht entschieden, wen er mit Ostfriesland belehnen wollte. Er wartete darauf, dass Jülich und Geldern sich endlich einigten… Bis dein Erbstreit mit Folkmar Allena geregelt war, musste Hylo Attena doch das Land unter seinen Schutz nehmen!“
„Unter seinen Schutz nehmen, nennst du das? Ich sehe das anders, er wollte es sich einverleiben und nicht wieder hergeben! Er wollte der neue Lehnnehmer werden und mich ausbooten!“
„Das siehst du falsch.“
„Genauso, wie ich es sehe, Affo, ist es richtig. Das beweist schon allein das ablehnende Urteil, das Hylo Attena in meiner Erbfolgesache gefällt hat. Damit wollte er mich ausmanövrieren!“
„Du unterschlägst, dass es alle Landesrichter waren, die das Urteil gefällt…“
Ocko unterbrach und äußerte ohne Umschweife: „Nun, meines Vaters Lehnvertrag mit Geldern war durch die Todesfälle der Grafen von Geldern seit langem gelöst. Geldern wurde verstrickt in einen blutigen Erbfolgekrieg, nicht wahr?“
Affo Beninga nickte einsichtig.
Ocko fuhr fort: „Während dieser Kriege entdeckte der König sein Herz für seine nächste Verwandtschaft und ließ Friesland an den Herzog von Bayern zurückfallen.“
„Nun ja, das ist doch verständlich, schließlich ist des Kaisers Gemahlin Johanna eine Tochter des Herzogs von Bayern (geh. 1370).“
„Nein, so einfach ist das nicht gewesen. Kaiser Ludwig der Bayer, Herzog Albrechts großmächtiger Vater, hatte Friesland mit Ausnahme des Teils, der seinem Sohn, dem Grafen Wilhelm von Hennegau und Holland gehörte, für 40.000 Mark Silber an Herzog Rainald II. von Geldern verpfändet. Deshalb war Rainald II. gleichzeitig von Kaiser Ludwig zum Herzog von Geldern erhoben und mit Ostfriesland belehnt worden.“
„Ach, Ocko, hör auf damit. Das ist mir alles zu kompliziert“, bat Foelke leise.
„Richtig, das ist es“, warf Affo Beninga ein, „ kompliziert, weil Friesland in drei Hauptprovinzen abgeteilt war. Die erste erstreckte sich von Sincfall bis zum Fly (heutige Zuidersee) und begriff also Holland und Westfriesland, die zweite lag zwischen dem Fly und der Lauwers (Lauer bzw. Laubach) und die dritte war zwischen der Lauwers und der Weser, die ebenfalls dazugehörte. Sie enthielt also die Provinz Groningen, unser Ostfriesland und auch das Herzogtum Oldenburg. Friesland erstreckte sich also von Flandern bis zum Herzogtum Bremen.“
„Wem erzählst du das? Das weiß doch jeder wackere Friese!“, entgegnete Ritter Ocko belustigt und Foelke sah den Schalk in seinen Augen, sein Lächeln, ehe er ernsthaft fortfuhr in seinem Exkurs: „Durch den Erbfolgekrieg in Geldern war Ostfriesland Herzog Wilhelm von Bayern also quasi in den Schoß gefallen. Folglich musste ein neuer Lehnvertrag verfasst werden. Deswegen musste ich Hylo Attena das Auricherland schnell wieder abjagen und all jene Güter, die Folkmar Allena in der Krummhörn an sich gerissen hatte, ebenfalls. Verstehst du das?“
„Ja, ich bin ja nicht blöd. Du meinst, damit Hylo Attena nicht zum neuen Lehnnehmer ernannt werden konnte, nachdem dein Onkel ermordet worden war.“
Foelke bemerkte, wie ein eigenartiges Lächeln über Ockos Gesicht huschte: „Aber dein Herrschaftsbereich, Affo, wurde durch die Morde an meinem Onkel und den anderen Häuptlingen sozusagen bereinigt.“
„Ich habe nichts damit zu tun! Was willst du damit sagen? “ Wie eine Drohung stand Affo Beningas Frage im Raum.
„Nichts, mein lieber Freund. Nur, dass ich damals noch nicht im Lande gewesen bin. Mir kann man nichts anlasten.“
„Habe ich das gesagt? Nein, das habe ich nicht. Die Gerüchteküche kocht zwar über, aber ich glaube nicht, dass du einen solch langen Arm hast wie ein päpstlicher Inquisitor.“
Offenbar hatte Affo sich wieder gefangen, trotz seines hochroten Gesichts.
Es war Foelke nicht verborgen geblieben, dass man dem Ritter Arglist und Hinterhältigkeit nachsagte, ihm jeden Winkelzug, jede Bosheit zutraute. Jedes Mittel sei ihm recht, das ihn seinem Ziel näherbrächte. Und dieses Ziel, wie sah das aus? Wollte er die Herrschaft über alle Häuptlinge erlangen? - Auch hatte man ihn schon mit der Ermordung der drei Häuptlinge in Verbindung zu bringen versucht. - Allerdings, er ist ja tatsächlich nicht hier gewesen. Wenngleich... Ist das ein Hinderungsgrund? Da ist doch ein hansischer Kaufmann gewesen, der berichtet hatte, dass er Ocko im holländischen Harlingen jenseits der Ems getroffen habe. Und Ocko hat das bestätigt. Zu der Zeit sei er auf unserer Burg Donia bei Kimswerd gewesen, um nach dem Rechten zu schauen, hat Ocko mir gesagt... Donia - auch zu weit weg, meinte Foelke, überzeugt von Ockos Unschuld.
Ocko schien belustigt. „Glaubst du nicht, Affo? Wie freundlich von dir!“ Bedeutungsvoll fuhr er fort: „Nun, du konntest jedenfalls mühelos alles übernehmen. So ist es doch?“
„Wer sagt denn, dass ich es haben wollte. Und wozu? Tjadecke hat mir keine Kinder gebracht.“
„Da wird sich doch wohl eine neue Frau finden!“
Dröhnend lachte Affo: „Mit Vergnügen schaue ich Foelke an, aber leider ist sie nicht mehr zu haben!“
Sie senkte den Blick, errötend bis in die Haarwurzeln.
„Ich würde sie dir auch nicht gönnen, mein Freund“, sagte Ocko leichthin, aber Foelke fühlte, wie sich ein Hauch von Abwehr in Ocko regte. „Es gibt genug andere Frauen, die nur darauf warten, den mächtigen Beninga-Häuptling von Pilsum, Berum und Norden heiraten zu dürfen. Du musst dich nur umschauen.“
Betont wandte Affo seinen Kopf: „Ich sehe keine, die so lieblich ist wie die deine.“
Wieder empfing Foelke Ockos eigentümliche Anspannung als er antwortete: „Witzbold. Tröste dich, nicht jeder kann solch ein Weibchen wie Foelke verkraften. Wie wäre es denn mit deinem Mündel, der Hima Itzinga. Da du ohnehin jetzt Witwer bist, schreit das geradezu nach einer Eheschließung. Komm, trinken wir darauf: Hedt ghildt, eele frye Freese!“
Gerade, als sie die Becher hoben, stolperte Widzelt durch die Tür. Ein dünner Faden Blut rann an seiner Schläfe hinunter. Er hielt sich die Stirn: „Puh, das war knapp.“
Erschrocken stürzte Foelke zu ihm, fragte nach, wer das getan habe.
„Gemach, gemach.“ Ocko nahm noch einen Schluck aus dem Zinnbecher, ehe er sich langsam von der Bank erhob. Das bisschen Blut konnte ihn nicht beeindrucken.
„Ach, es ist nichts“, beeilte Widzelt sich, „der dumme Esel, er hat mich getroffen. Es blutet nur wie verrückt.“
Ocko zog fragend die Stirn kraus, hatte wohl einen Knecht im Sinn: „Wer?“
„Dieser bockige alte Esel, den meine Base Adda Folkmarsna hiergelassen hat.“
„Ach der! Ja, der ist gemeingefährlich. Wusstest du das nicht? Das war Addas geheime Rache.“ Lachend setzte Ocko sich wieder, während Foelke nach der Magd klingelte. Die war auch sofort zur Stelle. Kaltes Wasser, Alaun und ein sauberes Tuch, solle sie herbringen, befahl Foelke.
Widzelt hatte ein unglaubliches ’Horn’ davongetragen, aber mit Alaun ließ die Blutung sich rasch stillen. Gehorsam hielt er den kalten Lappen an die Schläfe und setzte sich mit an den Tisch. „Hm, leckere Sachen“, freute er sich und langte kräftig zu.
Foelke ging zum Fenster. Ein plötzlicher Wärmeeinbruch hatte den Schnee geschmolzen. Nebel kroch aus der feuchten Erde, wallte in trägen Schwaden über den Äckern, ließ die Erde dampfen. Morgen würde es gewiss Regen geben. - Paladin, Ockos ’Kalb’, knurrte leise im Traum.
Affo Beninga fragte neugierig nach, was Ocko nun tun wolle, denn Folkmar Allena werde nicht eher ruhen, bis er seinen Besitz zurückgewonnen habe.
Er werde sein Eigentum zu schützen wissen, beschied Ocko. Eine karge Antwort, die Affos Neugier keineswegs stillte. Er ließ nicht locker. Ockos Güter bestünden jetzt in der Herrschaft über Brookmerland, das Auricherland, über zwei Burgen in Oldersum, eine Burg in Suurhusen, in Loppersum, Circwehrum und in Canhusen. Einiges davon habe vordem Folkmar Allena gehört. Er werde zurückkommen.
„Wird er? Vielleicht. Warten wir es ab. Im Übrigen hast du noch Turm und Kirche zu Norden vergessen. Außerdem muss Folkmars Burg in Canhusen erst wieder aufgebaut werden und Suurhusen auch. Sie sind während des Krieges völlig zerstört worden.“
„Wie dem auch sei... Folkmar hat allen Grund zurückzukommen, das weißt du so gut wie jeder. Ich kann mir denken, dass du nicht still dasitzt und abwartest.“
Das klang listig, aber Ocko verzog keine Miene. „Soll er. Folkmar sitzt jenseits der Ems. Für ihn nicht einfach, seine Liegenschaften zurückzuerobern.“ Ockos ironischer Tonfall ließ vermuten, dass er bereits Schritte eingeleitet hatte, seinen Besitz zu schützen.
„Ja, Folkmar sitzt in Groningen bei den Schieringern. Die Schieringer sind voller Bitterkeit gegen den Grafen von Holland. Folkmar verschafft sich dort Anhang. Mir kam zu Ohren, dass er sich als Heerführer verdungen hat.“
„Ich hörte davon. Er muss sich in der Kunst der Kriegführung üben. Da hat er noch viel zu lernen, das dauert...“ Entspannt schlug Ocko die langen Beine übereinander. Mit einer Hand strich er das zottelige Fell seiner Pelzstiefel glatt, die bis zum Knie reichten.
„Er hat sich den Schieringern angeschlossen“, beharrte Affo Beninga mit einem Unterton, der auf Bestürzung schließen ließ.
Das wisse er, nickte Ocko gelassen.
„Ich glaube nicht, dass Folkmar es sich tatenlos gefallen lässt, wenn du ihn beraubst. Er behauptet, der Besitz der Familie käme her von seinen Vorfahren, den sächsischen Pfalzgrafen. Und einer davon, Folcmarus, ist mal Bischof von Utrecht gewesen und Kanzler von Kaiser Otto II. - Hm, edle Abstammung...“ schob Affo Beninga beeindruckt nach.
„Na ja, wenn's denn so ist... Interessiert mich nicht. Edle Vorfahren, haben wir die nicht alle? Stammen nicht alle Edelinge aus uraltem Geburtsadel? Dem Geschlecht der Sachsenherzöge oder weiter noch aus gotischen Königsgeschlechtern? Dafür gibt der Kaiser nichts.“
Affo Beninga zuckte die Achseln. Früher wusste man alle Ahnen bis ins siebte Glied und darüber hinaus. Das wurde aufgrund der beträchtlichen Kinderscharen immer komplizierter und so blieben später nur noch die wichtigsten Vorfahren im Gedächtnis. „Richtig! Wenn man weit genug zurückgeht, stammen wir alle von Adam und Eva ab“, grinste er anzüglich.
„Aber möglicherweise spielt Folkmar mit dem Gedanken, dort hinten was zu machen“ fuhr Ocko unerschütterlich fort. „Vielleicht will er Utrecht zurückerobern, der Träumer. Dafür braucht er starke Verbündete. Für diesen Zweck bieten sich die Schieringer geradezu an. Die sind Utrecht mit seinem Bischof schon länger feindlich gesinnt.“ Spott flog über Ockos Gesicht.
„Du hast Folkmar diesseits der Ems alles genommen, Ocko. Du hast ihm nichts gelassen als das nackte Leben und das seiner Familie.“
„Nun ja, ich habe Gnade walten lassen, immerhin ließ ich ihm sein Leben. Wenn ich ihn geköpft hätte, wäre das gegen das Gesetz gewesen. Ein schlechter Einstand für einen Herrscher, meinst du nicht auch?“
„Ja, aber seit Urzeiten geschieht es. Zuweilen werden himmelschreiende politische Urteile gefällt, die gegen jegliche Gerechtigkeit und alle Gesetze verstoßen, denn Tote kommen nicht wieder.“
Ocko nickte gönnerhaft: „Gewiss, wenn der Amtsinhaber sich selbst oder sonst jemandem gefällig sein will, meinst du, nicht wahr?“
„... oder gefällig sein muss!“
„Ich gebe dir darin Recht, Affo. Manchmal wird solche Rechtsprechung sogar einzig zum Gefallen fremder Herrscher betrieben. – Aber dererlei Urteile aus rein politischer Berechnung sind grundsätzlich ungebührlich, Affo. Das weißt du so gut wie ich. Ich werde dessen mich nicht schuldig machen.“ Ihm, der eine Ausbildung in der juristischen Hochburg Uckel genossen hatte, bei den besten Advokaten Flanderns, war jegliches richterliche Gebaren nicht fremd und er wusste, dass solcherlei Amtsausübung auch künftig beibehalten bleiben würde, weil jeder Richter von irgendwem abhängig ist, sei es vom Landesherrn oder von fremden Mächten, obgleich diese Tatsache stets vehement geleugnet wird. Natürlich spielen oft auch persönliche Emotionen eine nicht unerhebliche Rolle. Das sollten sie nicht, denn Richter sollten neutral sein, aber auch sie sind nur Menschen.
„Vielleicht hat Folkmar Allena sich deshalb diesen Hungerleidern von Schieringern angeschlossen?“, sinnierte Ocko. „Die sind genauso arm dran wie er und haben auch kaum mehr als das Hemd auf dem Leib und die Kutte darüber, haha...“ Er brach in unbändiges Gelächter aus und streckte breitbeinig die Füße von sich. Angelockt, setzte Foelke sich zurück an den Tisch.
„Aber Ocko, Folkmar Allena ist unsagbar reich. Der hat jede Menge Alloden jenseits der Ems. Da können wir nur vor Neid erblassen“, warf Affo Beninga entrüstet ein.
„Neidvoll erblassen? Nein, ich nicht! – Aber Scherz beiseite: Der Sieger hat immer Recht! Wer Krieg anzettelt, muss mit allem rechnen. Das weißt du doch!“ Es folgte eine erneute Lachsalve.
„Richtig! Und das findest du komisch? Folkmar Allena wird voller Hass gegen dich sein. Seine Schieringer und deren Laienbrüder bekämpfen die Vetkoper wie die Pest“, warf Affo gereizt in den Raum. „Siehst du das denn nicht?“
„Was geht mich das an! Meine Familie arbeitet seit langem mit den Vetkopern zusammen. Die Laienbrüder der Prämonstratenser kaufen unser Vieh zu einem guten Preis und verkaufen es weiter. Die Prämonstratenser verwalten selbständig den Grundbesitz ihrer Klöster. Sie gehören den angesehensten Geschlechtern an. Und im Übrigen sind sie sehr geschäftstüchtig. Warum sollte ich mich nach anderen Fettviehkäufern umsehen, Affo? Ich sehe keinen Grund dafür.“
„Du könntest hier und da die Zisterzienser Laienbrüder berücksichtigen. Bricht dir da ein Zacken aus der Krone? Sie verwalten ebenfalls den Klosterbesitz selbständig. Da gibt es wenig Unterschied, selbst die Ordensregeln stimmen beträchtlich überein. Und auch ihnen gehören die angesehensten Mitglieder ostfriesischer Häuser an.“
„Ich sehe im Augenblick keine Veranlassung, plötzlich mehr mit den Schieringern zusammenzuarbeiten als üblich. Denkst du, ich will meine liebsten Feinde unterstützen? Ich werde nicht mit fliegenden Fahnen ins feindliche Lager wechseln. Das käme einem Verrat gleich. Ich werde demnächst das Zisterzienser-Kloster Ihlow in meinen Schutz nehmen, das muss reichen. Wie du weißt, versuche ich eine Gleichbehandlung beider Orden zu bewerkstelligen. Das ist schwierig genug. Mehr ist nicht drin.“
Belustigung strahlte aus Ockos blauen Augen.
„Der Streit zwischen den Schieringern und den Vetkopern wird sich zuspitzen, Ocko. Im Groningerland nimmt er bereits bedenkliche Ausmaße an. Wir, du und alle anderen Häuptlinge, wir sind verpflichtet, Ruhe im Land zu halten. Das ist nicht möglich, wenn wir die eine oder andere Partei bevorzugen“, beharrte Affo Beninga stur.
„Augenblick! Ich bevorzuge möglichst niemanden. - Und wer sagt denn, dass ich um jeden Preis Ruhe halten will? Glaubst du, das sei mein Ziel? Jeder Herrscher sucht Wege, seine Macht zu erweitern“, versetzte Ocko seelenruhig. Kein Zweifel, Herrschaftsanspruch schwang in seinen Worten. „Willst du das denn nicht?“
„Hm, eigentlich nicht.“ Affo runzelte nachdenklich die Stirn. Darauf schien er noch keinen Gedanken verschwendet zu haben. „Wie dem auch sei, da Folkmar sich nun einmal für Groningen entschieden hat, ist sein größter Widerpart Herzog Albrecht von Bayern in seiner Eigenschaft als Graf von Holland.“ Affo räusperte sich, lächelte doppeldeutig, als seien ihm Ockos Pläne wohlbekannt. Foelke bemerkte es mit einigem Unbehagen, während Widzelt unbeeindruckt eine weitere Scheibe des köstlichen Räucherschinkens verspeiste. Auch sie langte zu: Welch ein Genuss!
Es schien so, als wäre Affo auf Krawall aus. „Nun, mein lieber Ritter“, fuhr er bissig fort, „ich denke, du wirst ein guter Schüler deiner Königin Johanna von Neapel gewesen sein.“
Ockos Körper spannte sich: „Meiner Königin? Vorsicht, Affo! Ich war nur Hofmarschall und mit Herzog Otto von Braunschweig gut gelitten am Hofe von Neapel. Bring mir keine dummen Gerüchte in Umlauf.“
Sofort zog Affo den Schwanz ein. Er habe ja nur so gemeint... Pflegte die Königin nicht zu sagen ’Auf ihren Feldherrn Ocko tom Brook könne sie sich verlassen wie auf den Teufel’? Das habe man ihm zugetragen, bekundete Affo mit gewisser Unsicherheit in der Stimme.
Ja, die Königin habe ihm vertraut, entgegnete Ocko geschmeichelt. Oh ja, er und seine wackeren Friesen hätten sich oft durch Hitze und Kälte, Nebel und Regen, Sumpf und Wildnis gekämpft, aber stets sei es ihnen gelungen, Johanna von Neapel den Thron zu retten gegen ihre Feinde. „Manches Mal waberte der Nebel mannshoch über Fluss und Land. Manches Mal deckte der Nebel sein Leichentuch über die leblosen Recken. Manches Mal kreisten die Raben über dem Nebelmeer und zeigten den Geruch von Brand und Fäulnis an, offenbarten, wo die Toten lagen. Manches Mal...“ Er hielt mit bedauerndem Blick auf Foelke inne, der schon die Tränen in den Augen standen. Es sei nicht das rechte Thema am Tage nach der Hochzeitsnacht, äußerte Ocko und fasste abbittend nach ihrer Hand.
Oh, Ocko, dein Herz besitzt wohl einen Panzer aus Eis, dachte sie traurig. Ist noch etwas übrig von deiner warmen Seele? Es fror sie plötzlich, aber sie blieb an der Tafel sitzen und starrte Affo Beninga an, der sich listig erkundigte, ob Ocko gewillt sei, um seine Macht zu festigen, Mittel anzuwenden, die hier bisher nicht genutzt worden sind. Dazu schwieg Ocko, griff nach dem Becher, lehnte sich gelassen zurück, nahm einen tiefen Schluck. Affo Beninga grinste vieldeutig.
Foelke schaute verstört auf ihr Gegenüber, dann zu Ocko. Zu ihm gewandt raunte sie: „Es lugt etwas Schwarzes aus deinem Wams“, mit einer Kopfbewegung auf die lockere Verschnürung seiner Rehlederweste deutend. Gedankenlos knüdelte Ocko das schwarze Etwas zurück unter die Lederbänder und fragte, worauf Affo mit seiner Äußerung anspiele.
„Hm, da du nun zum Ritter erhoben bist, könntest du dir mit Schlauheit und Glück ein fettes Lehen einheimsen... Allerdings, wer sollte dir das wohl geben?“
„Nun“, sagte Ocko, „das muss ich mir nicht erobern. Aber da du schon alles weißt, ist jedes Wort dazu überflüssig. Ah, da fällt mir ein... Was denkst du, würde es nicht anstehen, dass wir hier endlich einen Stapelplatz errichten?“
Affo Beninga schüttelte energisch den Kopf: „Einen Stapelplatz? Bist du toll? Die Milch wird sauer, wenn einer von den Hansischen an einer Kuh vorbeigeht. Ich werde mir doch keine hansischen Läuse in den Pelz setzen! Das sind alles Blutsauger. Sie zerstören rücksichtslos unsere traditionellen Handelsbeziehungen. Sie führen billige Waren ein“, ereiferte sich der Häuptling.
Dem stimmte Ocko zu. Eben deswegen wäre ein Stapelplatz wichtig. Mit einem Stapel könne man besser darüber überwachen und Einfluss nehmen.
Zynisch verzog Affo seinen Mund. Offenbar meinte er, daran sei nichts zu ändern und fragte nach, wie das denn wohl gehen solle. Unbeirrt erklärte Ocko, er wolle Einfluss auf die Preise nehmen.
„Ha, ha! Auf die Preise? Wenn das so einfach wäre! Die Preise der Gilden sind unumstößlich. Davon kommt es, dass Webgut, Rohwolle, Töpferware, eben alles seinen bestimmten Preis hat. Selbst, wenn die hansischen Kaufleute nur minderwertige Ware verhökern, so wird uns das und unserem friesischen Handel unermesslichen Schaden zufügen.“
Ocko konterte, dass die Friesen nicht unbeteiligt gewesen seien an der Bildung der Gemeinschaft der Hansekaufleute und man sich eben nicht aus dem Geschäft drängen lassen dürfe. Dem konnte Affo Beninga nicht widersprechen, schränkte aber ein, dass jetzt hansische Schiffe Frachtgüter aufnehmen würden, die man bisher auf friesischen Schiffen befördert hatte: „Sind wir nicht einst die einzigen Seefahrer und Händler gewesen, die auch in bösen Zeiten, als sich niemand sonst auf die See traute, die Meere befahren haben? Wie war das denn, als die Normannen Seeraub betrieben? Man war auf uns angewiesen!“
„Das ist richtig, Affo, aber die Zeiten ändern sich. Wir sind nicht mehr allein auf der See... Auch ich bin nicht sonderlich zufrieden mit der jetzigen Entwicklung. Seit langem will ich Verträge mit der Hanse abzuschließen, wie viele andere Häuptlinge auch.“
„Und? Ich habe noch keinen Vertrag gesehen, der zu unserem Vorteil geraten wäre! Es ist so wie es ist, Ocko. Die Hansischen suchen ständig Privilegien zu erzwingen, zermalmen die Preise wie das Korn in der Mühle. Sind endlich die Abnahmeverträge unter Dach und Fach, die vereinbarten Waren geliefert, so zahlen sie nicht den ausgemachten Preis unter dem Vorwand, die Ware sei mangelhaft gewesen.“ Affo Beninga war aufgebracht in die Höhe geschossen. Von Natur aus eher träge, fuchtelte er jetzt wild mit den Armen und stieß dabei unabsichtlich seinen Krug um, so dass sich das Bier über das Leintuch ergoss. Das brachte ihn zur Besinnung. Beschämt plumpste er zurück auf seinen Sitz und entschuldigte sich sogar bei der Dame des Hauses.
„Ach, das macht doch nichts“, schmunzelte Ocko, „wozu sonst haben wir Waschweiber? - Affo, ich verstehe deine Erregung. Die Hanse hat sich zum Rivalen entpuppt und macht sich derb bemerkbar. Damit die Handelsbeziehungen zu den hansischen Kaufleuten nicht gänzlich zugrunde gerichtet werden, muss ich in meiner Eigenschaft als Richter nicht selten schlichtend eingreifen. Leider gelingt es mir häufig nicht, eine Einigung herbeizuführen. Das wird dir ähnlich ergehen. Die Friesen fühlen sich zu Recht betrogen von den Hansischen, wenn die Bezahlung zurückgehalten wird, weil ihnen angeblich das gute friesische Bier eben nicht gut genug ist, das dichte, schwere Wolltuch angeblich zu schütter gewebt oder zu schlecht gefärbt sein soll. Nein, wahrlich, keine Freude ist es, mit den Hansischen Handel zu treiben.
Ich muss dir sagen, Affo, ich beobachte mit großer Sorge wie sich die Lage zusehends verschärft. Etliche Händler und Handwerker haben schon um meinen Beistand gebeten. Es verwundert mich gar nicht, dass mancher Häuptling zur Selbsthilfe greift. Nicht wenige Häuptlinge rächen sich gallig an den Hansischen. Ich weiß, dass sie sogar schon Frachtschiffe aufgebracht haben und sich auf diese Art zurückholen, was die hansischen Kaufleute ihnen gestohlen haben.“
„Du sagst es, Ocko. Einer der ärgsten Feinde der Hanse und des Grafen von Holland ist der Häuptling Edo Wiemken aus dem Rüstringerland.“
Das wusste sogar Widzelt, und auch, dass der mächtige Häuptling von Rüstringen und Östringen eine Bedrohung für ihre eigenen Besitzungen darstellte.
„Nun, dann gehe mit Edo Wiemken zusammen, suche ein Bündnis mit ihm“, schlug Affo Beninga vor, ohne zu bedenken, dass ein solches Bündnis für ihn selbst höchst nachteilig sein konnte.
Deshalb ignorierte Ocko den Einwurf und Foelke erinnerte sich, dass schon lange ein Treffen mit Edo Wiemken anstand. Binnen kurzem sollte es auf der Edenburg stattfinden. - Wo das wohl ist? Ocko hat gesagt, dass Edo Wiemken seine neue Burg in Rüstringen an dem kleinen Fluss, den sie die ‚Made’ nennen, errichtet hat. - Warum lässt er kein Wort darüber verlauten?
„Die Zeit wird diese Frage beantworten, denke ich. Würdest du uns bitte entschuldigen, Affo?“, erstickte Ocko das Gespräch über die Hansen, erhob sich von der Truhenbank und beugte sich entschlossen über den Tisch: „Ich denke, wir haben genug geplaudert. Heute werden wir in dieser Angelegenheit zu keinem greifbaren Ergebnis gelangen können. Zudem möchte ich meiner lieben Frau noch die Morgengabe reichen.“
„Hoho, die Morgengabe! Dann will ich nicht länger stören. Foelke, Ocko, ich wünsche euch nochmals ein glückliches langes Leben miteinander. Widzelt, komm, du hast genug gegessen, sonst wirst du noch platzen. Wir hindern das junge Paar an der Ausübung seiner traditionellen Pflichten.“
Er grinste vieldeutig und der Junge stopfte sich noch rasch ein Ende Mettwurst in den Mund, ehe er von Affo Beninga zur Tür hinausgezogen wurde.
„Endlich allein!“ Das klang wie ein Stoßgebet. „Ich habe noch eine Überraschung für dich, Foelkedis.“ Sie schaute erwartungsvoll zu ihm auf.
„Augenblick, ich muss ein wenig zaubern. Rix, rax, rux, dafür krieg’ ich einen Kuss!“ Lachend griff er in sein Lederwams und holte ein Tuch aus schwarzer Seide hervor. Mit der anderen Hand zog er Foelke von der Bank, umfing sie mit beiden Armen.
„Oh, das ist es gewesen! Zeig her, Ocko, gib es mir“, bettelte Foelke.
„Du bekommst es, wenn du mich küsst.“
„Hast du's verdient?“ Sie lachte listig.
„Immer.“
„Wer’s glaubt?“ Flüchtig drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange.
„Bin ich dein Onkel? Mehr.“
„Erst zeigen.“ Kühn suchte sie ihm das leichte Seidentuch zu entreißen, das er zwischen zwei Fingern hoch über sich schwang, dass es sich über ihren Köpfen fast wölbte wie ein Baldachin. - Ein aussichtsloses Unterfangen für Foelke, daran gelangen zu wollen.
„Erst küssen.“ Das Geplänkel mit ihr schürte sein Verlangen. Er hatte sie schon küssen wollen, als sie den Saal betreten hatte, aber da war Affo gewesen, dieser Tölpel... Er fühlte ihre weiche Brust an seinem Körper. Das trieb ihm das Blut in den Kopf und sonst wohin. „Cara mia, glaub mir, heute Nacht wird dein Schößlein gefährdet sein“, flüsterte er ihr ins Ohr und sein Atem wurde heftiger und seine Rechte glitt verlangend von ihrer Körpermitte hinunter zur Hüfte und weiter... Dadurch glückte Foelke der Versuch, ihn unterm Arm zu kitzeln.
„Aufhören! Ich ergebe mich... vorerst. Aber dann wirst du schon sehen, was du davon hast.“ Er hielt inne und blickte so zärtlich auf sie hernieder, dass sie dahin schmolz. Jungenhaft lachend ließ Ocko das unglaublich leichte Seidentuch los. Es fiel, sich blähend, über ihre Köpfe. Dämmerlicht... Einen Augenblick nahm es Ocko den Atem, ihrem Gesicht so nah zu sein, ihren Duft zu riechen, ihre Wärme zu fühlen, und sie spürte das Aufwallen seines Blutes. Dann barg er ihren Kopf in seinen Händen und gab ihr einen langen, vollendeten Kuss, ehe diese schlanken Finger an ihrem Körper entlang glitten. Er stöhnte auf. Er brauchte sie...
Auch Foelke seufzte als er sie plötzlich freiließ und sie aus der Dunkelheit des Tuches befreite. „...schwarze Seide? Was ist das?“
„Das ist ein Mezzaro.“
„Mezzaro?“
„Ja, das ist ein Schleier. Die Frauen in Genua tragen ihn.“
„Schleier? In Genua? Aus Italien?“
„Ja, sie kleiden sehr gut.“ Ocko legte ihr den Mezzaro um. „Du siehst hinreißend aus, Foelkedis. Splendido! Rosig wie chinesisches Porzellan, wenn köstlicher Tee durch die zerbrechliche Wandung schimmert.“
„...chinesisches Porzellan... Du meinst die Schalen, die du aus Neapel mitgebracht hast?“ Foelke zeigte strahlend ihre perlschimmernden Zähne.
„Ja, jetzt sind deine Augen noch grüner - grün und geheimnisvoll wie die tiefe See.“
„Danke, sehr gütig von dir. Das sagt Angelo auch immer.“
„Komm, dreh' dich zum Licht, damit ich dich besser anschauen kann.“ Er fasste Foelke um die Taille und hob sie in die Höhe, während sie sich auf seinen Schultern abstützte. Sonnenglanz spielte auf ihren kupferroten Flechten, die sie heute zu einer Krone gesteckt trug und die nun halb von dem Mezzaro bedeckt war. Bewundernd schaute Ocko sie an, setzte sie ab.
„Und das soll ich fortan tragen?“
„Nicht immer, nur manchmal. Es erinnert mich an Korsika, an Genua, an Italien...“
„...an Johanna von Neapel?“
„Auch das.“ Abwehr klang in seiner Stimme, während er eine Urkundenrolle aus seinem Wams zog.
„Und was ist das da, das Schriftstück?“
„Sieh nach! Du kannst doch lesen.“
Sie nickte und entrollte mit Spannung das Pergament. Ockos großes rotes Siegel hing daran und das weiße Wachssiegel von Herrn Luippe, dem Obersten des Dominikaner-Konvents. Foelke las langsam und sehr sorgfältig. Überraschend war seine Brautgabe - wie alles was er tat.
Ritter Ocko befreite mit dieser Urkunde die Dominikanerinnen des Klosters Dykhusen, denen Foelkes Schwester Hebe als Priorin vorstand, von ihrer drückenden Last dem Herrn Luippe gegenüber. Dafür übertrug der Ritter dem Luippe als Entschädigung drei Benefizen in Marienhafe, Aurichhove und Butae (heute Engerhafe genannt) zur Nutznießung.
Ja, das war eine wunderbare Überraschung. Damit hatte Ocko ihr einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Diese Fürsorge! Sie freute sich darüber wie ein Kind. Tief bewegt, fiel es ihr nicht schwer, ihren Ritter zu küssen. Weich schlangen sich ihre Arme um seinen Hals und er beugte seinen Kopf, berührte unsagbar vorsichtig ihre Lippen. Sie fühlte wie sich seine Zunge den Weg zwischen ihre Lippen suchte, während seine Hände sanft ihren Brustkorb umspannten.
Wie hätte sie sich unter diesen Umständen sträuben können? Hungrig erwiderte sie den Kuss, und seine Hände glitten zärtlich über die sanften Hügel ihrer Brüste. Unvermittelt schob er sie zurück: „Um Himmels Willen, Foelke, du bringst mich um!“
Sie atmete tief ein, lächelte rätselhaft. „Warum tust du das?“
„Was?“
„Das mit der Urkunde.“
„Weißt du das denn nicht?“ Ocko schaute ihr zärtlich in die Augen.
„Nein..., weil du mich liebst?“
Ocko hob lächelnd die linke Braue: „Hm... weil die Dominikaner versöhnend wirken.“
Sein Lächeln geht mir ins Blut. Er liebt mich, aber warum sagt er es dann nicht, überlegte Foelke, fragte aber: „Wie das?“ „Die Gründung des Dominikaner-Klosters in Norden durch den neunten König Ludwig von Frankreich diente dazumal dem Zweck, dass sich unsere Friesen zahlreich an seinem Kreuzzug beteiligen sollten. Des Königs Rechnung ging auf. Tapfer haben sie vor Tunis gegen die Sarazenen gekämpft.“
„Ja und? Das habe ich schon als Kind gelernt. Aber was hat das...“
„Ebenso wie der Upstalsboom seit Urzeiten die Aufgabe hatte, Streitigkeiten zu schlichten, so haben die Orden diese Aufgabe nun übernommen. Mein Land ist zerrissen von Streit und Rachsucht. Ich brauche eine Kraft, die mich unterstützt, die glättet und friedfertig stimmt. Dafür ist kaum ein anderer Orden besser geeignet als der Orden der Dominikaner.“
„Und die Zisterzienser? Im Kloster von Ihlow wird doch sogar das Siegel vom Upstalsboom aufbewahrt und die Urschrift der Gesetzesbriefe vom Brookmerland.“
„Der Upstalsboom besitzt schon lange keine Macht mehr und ausgleichender als die Zisterzienser wirken nun mal die Dominikaner, mein Mädchen.“
„Du missbrauchst also den Orden für deine Zwecke?“
Aber nein, das tue er nicht. Er nutze den Orden und dessen Einfluss. Ob es falsch sei, Frieden zu stiften, fragte er Foelke. Das wohl nicht, meinte sie, aber die Macht der Orden schrumpfe ebenfalls.
Das sah Ocko anders: „Bisher fehlten nur die entscheidenden Kreuzungspunkte zu den Dominikanern. - Die Consules haben oft vergebens versucht, ihren Beschlüssen Geltung zu verschaffen, aber die Stellung der Häuptlinge ist jetzt eine ganz andere als die der Consules früher.“
Das wisse sie auch, schmollte Foelke, aber Ocko bezweifelte, dass sie die politischen Spielchen tatsächlich durchschaute und so erklärte er ihr, dass er in der Schlacht bei Loppersum nicht nur Folkmar Allena und seine Anhänger besiegt habe. Der Erfolg dieses Sieges läge primär darin, ihre Macht zerschlagen zu haben und er werde es nicht zulassen, dass sie sich neu aufstellen.
Ein bisschen zu viel Weihrauch, fand Foelke, denn in Norden hätten die Attena schon vorher ihre Rivalen beseitigt gehabt.
„Korrekt, aber nicht so vollendet wie ich es getan habe. Ich sage dir, die Richter haben die Zeit verpasst. Jetzt ist die Zeit für mich gekommen. Häuptlinge werden fortan die Macht in Händen halten und ich werde mit der Laterne vorangehen und den Weg aufzeigen!“
Witzig, seine Erklärung, aber Foelke konnte dem kaum zustimmen. Das höre sich zwar begehrenswert an, jedoch wisse sie nicht, wie das zu schaffen sei.
„Wie? Das ist doch einfach! Meine Freunde werden mich als ihren Obmann wählen und bestätigen. Gemeinsam werden wir Widerstrebende zum Gehorsam zwingen und Übelwollende schrecken.“
„Du glaubst, das werden sie tun? Dich zum Oberhäuptling wählen? Wollen sie das nicht lieber selber werden?“
Vitales Gelächter entblößte Ockos strahlend schöne Zähne. Er lasse ihnen keine andere Wahl!
„Wie das?“
„Durch Soldtruppen! Durch Kriegsgerät!“
Woher denn das Geld nehmen? Das sei unbezahlbar, wandte Foelke ein.
„Ist es das? Ich bin kein armer Mann, Foelke und im Übrigen: Man erhebt dafür Steuern. So einfach ist das.“
„Ja, sicher. Wenn aber Sturmfluten das Land fortspülen? Wenn die Menschen obdachlos sind? Wer soll dann die Steuern zahlen? Und du hast den Zins erst kürzlich gesenkt, Ocko.“
„Freilich, weil die Marcellusflut die Heete bei Jansum gerissen hat und die Leybucht bis Marienhafe und fast bis nach Aurichhove reicht. Wir müssen das Land zurückgewinnen! Ich lasse Lahnungen bauen und durch Schöpfwerke das überschwemmte Land entwässern. Mehr kann ich zurzeit für den Schutz meiner Küste nicht tun. In alten Zeiten gab es große Inseln vor unserer Küste, die unser Land schützten wie ein goldenes Band. Die gibt schon lange nicht mehr. Nur noch kümmerliche Reste sind übrig davon wie zum Beispiel die Insel Bant. Auch sie wird von Jahr zur Jahr kleiner, weil man dort den Darg abgräbt, um Salz zu sieden. Durch ihre Arbeit zerstören die Salzsieder die Insel. Sie aber ist unser größter Schutz vor den Gewalten der Sturmfluten.“
Da wandte Foelke keck ein, dass die Logik ihr sage, er müsse den Salzsiedern von Bant diese Arbeit verbieten.
„Mein Mädchen, ich bin beeindruckt! Du hast Verstand! Dennoch kann ich das nicht tun, denn nicht nur in Westfalen ist unser Salz heiß begehrt und bringt guten Gewinn. Die Salzsieder gehören zu den wenigen, die mühelos die Schatzung aufbringen können...“
Ja, das wusste Foelke wohl. Darum ging es ständig - um die Schatzung.
Er werde den Schiffbau vorantreiben, sagte Ocko. Das fördere den Handel und er werde sich der Unterstützung des Papstes und des Bischofs versichern.
„Wie meinst du das?“
„Ich hörte, der Bischof von Münster will sein Gericht von Sendenhorst verkaufen, demnach ist er in Geldnot.“
Freilich, das sei der Bischof doch immer, das wisse jedes Kind, bestätigte Foelke.
Nun, dann werde er dem Bischof ein wenig „unter die Arme greifen“, scherzte Ocko und hob stattdessen Foelke hoch. Während sie herumzappelte, erklärte Ocko, er denke daran, dem Bischof eine erkleckliche Summe zu leihen. So etwas wirke wahre Wunder.
Er ließ sie herunter. Ihren Einwand, einem guten Christenmenschen sei es verboten, Geld zu verleihen, küsste er weg. Oh Gott, wie er sie an sich zog, ihren Hals küsste! Da spürte sie wieder das Fieber in seiner Stimme: „Nein, Geld verleihen darf man, nur Zins und Zinseszins darf man nicht dafür nehmen. Ich denke, der Bischof könnte uns aus dem geliehenen Geld eine Rente zahlen. Das ist erlaubt.“
Ein süßer Schauer durchlief ihren Körper. Foelke fühlte sich tief beeindruckt von Ocko. Wie klug er ist, klug und mutig! Sie löste sich von ihm, schaute ihn verliebt an. Er sah hinreißend aus, wenngleich... Sie fand, dass er schief sei. Als sie ihn danach fragte, dröhnte Ockos unnachahmlich kraftvolles Gelächter durch den Prunksaal. Liebevoll zog er sie zurück in seine Arme und erklärte, dass das von den täglichen Schwertübungen herrühre, darum sei seine rechte Seite kräftiger ausgebildet als die linke. Aber dieser Makel lasse sich durch Polster in der Kleidung leicht ausgleichen. Ob sie denke, er sei ein Krüppel? Freilich fand sie das nicht und es war ihr auch egal. Selbst, wenn er von Geburt an oder durch äußere Einwirkungen tatsächlich ein Krüppel wäre, sie liebte diesen bestrickenden Recken.
Eigentlich wollte sie ihn noch nach dem eitrigen Fleck auf dem Laken fragen, den sie im Brautbett entdeckt hatte, aber dann verzichtete sie darauf. Das würde sich ein anderes Mal vielleicht besser ergeben. Vielleicht hatte er eine eiternde Wunde am Fuß durch dieses schrecklich unbequeme Schuhwerk.