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Jugendeindrücke: Kabarett, Literatur, Theater
ОглавлениеMeine frühe Begeisterung für Kurt Tucholsky, Walter Mehring, Erich Kästner und die übrigen großen Schriftsteller, Satiriker, Lyriker und Chansondichter der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die vor allem in Berlin engagiert gegen die Nazis anschrieben und vor ihnen warnten, verdanke ich einem Mann, den ich in späteren Jahren als alten Herrn in Wien dann auch persönlich kennengelernt habe.
Guy Walter war in den 1950er-Jahren Literaturchef beim Südwestfunk Baden-Baden. Da seine Sendungen erst zu später Stunde ausgestrahlt wurden, habe ich sie gewissermaßen unter der Bettdecke mit Hilfe eines kleinen Koffer- oder Transistorradios angehört.
Guy Walter hatte die Emigration in Frankreich überlebt und war überaus frankophil. Wir lebten in der französischen Besatzungszone, und er gehörte zu jenen Persönlichkeiten, die eingesetzt wurden, um nach dem Krieg die »Denkumkehr« nach der Nazi-Zeit mit zu bilden. Bei mir brauchte er nichts umzukehren, bei mir fielen die Sendungen auf fruchtbaren Boden.
Da gab es unter anderem eine Sendung mit den berühmtesten Chansons und Interpreten aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Da fanden sich Namen wie Kate Kühl, Trude Hesterberg, Ernst Busch oder Max Hansen (der 1936 der berühmte Partner von Zarah Leander in der Uraufführung von Ralph Benatzkys Axel an der Himmelstür im Theater an der Wien gewesen war).
Aber die Sendung brachte auch die frühe Edith Piaf und sogar Beispiele der legendären Yvette Guilbert, die Toulouse-Lautrec so oft und hinreißend verewigt hat. Ihr Chanson von »Madame Arthur« kann man heute auf YouTube anhören, ein Lied über eine beliebte Pariser Schönheit, die von den Männern umschwärmt wird und die man aus heutiger Sicht möglicherweise als Vorgängerin von Conchita Wurst bezeichnen könnte.
Ich meine, dass Guy Walter, dieser Liebhaber und Kenner des literarischen Kabaretts, in mir auch den Wunsch nach dem Theater und nach Paris geweckt hat.
Einer der Protegés von Guy Walter war der deutsche Kabarettist und Poet Hanns Dieter Hüsch, der im Basler »Theater Fauteuil« für Sensationserfolge gesorgt hat. Dort habe ich dann auch Reinhold Brandes und seine Frau Sonja Wilken bei der Truppe »Die Schiedsrichter« gesehen, mit denen ich dann später im Stuttgarter Renitenztheater von Gerhard Woyda auf der Bühne stehen durfte. Das war noch in meiner Zeit am Max Reinhardt Seminar – man hat es mir gestattet, wofür ich sehr dankbar war.
Basel war eine Theaterstadt mit zwei großen Bühnen, dem Stadttheater und der Komödie Basel von Egon Karter. Dort haben viele Schauspieler aus Wien gastiert, der Star war dort zu meiner Zeit die unvergleichliche Blanche Aubry, die dann ans Burgtheater kam.
Grace Bumbry hatte ihren ersten Auftritt in Europa 1960 als Carmen im Stadttheater Basel und war eine Sensation. Sie war schön und sang wunderbar, aber mir Halbwüchsigem hat Dorothy Dandridge, die ich in den 1950er-Jahren in dem Carmen Jones-Film von Otto Preminger sah, noch besser gefallen …
Aber wieder zurück zu Guy Walter und dem Radio. Von daher rührt meine erste literarische Bekanntschaft mit Walter Mehring. Kurt Tucholsky ist nach wie vor bekannt, Mehring weit weniger. Rudolf Buczolich, mein Kollege vom Burgtheater, hat mir erzählt, dass er ihn in Zürich als verbitterten alten Mann kennengelernt hat. Er hatte seine Bedeutung überlebt – und wäre es doch so sehr wert, wiederentdeckt zu werden.
Anfang der 1990er-Jahre hat der Regisseur Georg Mittendrein einen Kabarettabend mit den Größen des politischen deutschsprachigen Vorkriegs-Kabaretts gemacht. Der Abend war fantastisch, und ein Text von Walter Mehring hat mich besonders angesprochen. Er stammte aus dessen Briefen aus der Mitternacht, in denen er alle Stationen seiner Flucht und Emigration gewissermaßen poetisch beschrieb – Wien, Berlin, Frankreich –, mit grandiosen chansonartigen Gedichten und Bildern. Der Refrain »Der beste Jahrgang deutscher Reben / Ließ vor der Ernte so sein Leben« hat sich mir tief eingeprägt. Hier beschreibt er alle von den Nazis ermordeten oder auf der Flucht umgekommenen literarischen Größen der Zeit. Geschrieben hat er es zu Silvester 1940 auf 1941 im Gedenken an die Freunde:
An meine Kammer, wo ich welk,
Pocht zwölfmal an das Neue Jahr,
Spricht zugig hohl: Es war … es war …
Hängt seinen Jahrkranz ans Gebälk,
Verblüht – von Lügenluft erstickt –
Erschlagen – von der Not geknickt:
Der beste Jahrgang deutscher Reben
Ließ vor der Ernte so sein Leben …
Es weht ein Blatt - kaum leserlich:
»Die Dummheit, die wir persifliert …
Die macht Geschichte. Die regiert …
Herzlichst Tucholsky … Ohne mich! …«
In Schweden, krank, doch unbekehrt
Hat er den Schierlingstrank geleert …
Der beste Jahrgang deutscher Reben
Ließ vor der Ernte so sein Leben …
Nach dem Abend ging ich zum Kollegen Georg Mittendrein und seiner Gattin, der Schauspielerin Irene Budischowsky, gratulierte ihnen herzlich und sagte: »Den Walter-Mehring-Abend macht ihr aber mit mir!«
»Am Rand der Zeit« – Verfilmung eines Walter-Mehring-Programms, 1990 in Berlin (MDR) mit Irene Budischowsky und Georg Mittendrein.
Von einem Mehring-Abend war an sich nie die Rede gewesen, aber Georg verstand sofort, was ich meinte und hat in kürzester Zeit ein grandioses Buch zusammengestellt, in dem die ganze Geschichte des Berliner Kabaretts genau, witzig und schrecklich beschrieben war, und es wurde ein umwerfendes Programm. In Wien haben wir es in Béla Korénys Broadway Piano Bar gespielt, und im damals gerade wieder vereinigten Berlin konnte Georg Mittendrein in den Adlerhof-Studios sogar eine Filmaufzeichnung initiieren, die der MDR dann ausgestrahlt hat …
Wieder zurück in meine Jugend und zu Guy Walter: Ich weiß nicht mehr, durch welchen Zufall ich diesen für mich so prägenden Mann des Südwestfunks viel später, als sehr alten Herrn, in Wien kennengelernt habe. Ich denke, es war nach einer Vorstellung im Burgtheater, und ich musste ihm sagen, wie viel er zu meinem literarischen Geschmack und zu meinen politischen Einstellungen beigetragen hat. Er hat es gerne gehört.
Im Zusammenhang mit ihm erinnere ich mich auch an einen Ausspruch einer alten Dame, einer Freundin von Guy, mit der wir im Café Landtmann saßen. Er erwähnte eine Altersliebe in München, die viel jünger war als er und die ihn genauso beglückte wie frustrierte. »Sei klug«, sagte die alte Dame lebensweise. »Genieße es, kränk dich nicht, nimm’s wie ’n Aspirin.«