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Eine Kindheit im Krieg
ОглавлениеMein Vater hieß Heinrich Zuber, war gelernter Werkzeugmacher und Deutscher. Meine Mutter Lina, geborene Wunderle, war als junges Mädchen Schneiderin und stammte zwar auch aus einer deutschen Familie, war aber in der Schweiz aufgewachsen. Großvater Wunderle arbeitete bei der Eisenbahn in Basel, und wenn die Familie auch später wieder über die Grenze nach Deutschland umzog, fühlte sie sich doch als Baslerin. Wir hatten jedenfalls überall Verwandte, in Deutschland, in der Schweiz, im Elsass.
Meine Eltern haben sich beim Theaterspielen in Weil am Rhein, wo beide lebten, kennengelernt, er war beim Fußballverein, sie in der Jungfrauenkongregation, einem katholischen Mädchenverein, und beim Laienspiel kamen sie zusammen. Sie heirateten und blieben länger kinderlos, bis ich kam, der einzige Sohn, das war 1941.
Mein Vater wurde eingezogen und kam in den Krieg nach Frankreich. Später hat er mir erzählt, wie angewidert er davon war, wie sich die Deutschen dort benommen haben. Meine Mutter, eine höchst energische Frau, wollte meinen Vater von der Front befreien. Ein früherer Arbeitskollege meines Vaters, der schon bei der kriegswichtigen Firma Dornier in Friedrichshafen arbeitete, hatte ihr erzählt, dass man dort Fachkräfte suchte. Heute denkt man bei »Dornier« und »Friedrichshafen« vor allem an das Luft- und Raumfahrt-Museum mit dem Zeppelin, das ich später oft und gern besucht habe. Damals war es ein kriegswichtiger Rüstungsbetrieb, mein Vater war mit seinem Beruf genau richtig – und meine Mutter schickte für ihn die Bewerbung ab. Mit seiner Unterschrift, was glatte Urkundenfälschung war, wovon sie aber später nichts mehr wissen wollte. Sie hat sich damit zweifellos ihren Ehemann und mir meinen Vater gerettet, denn seine ganze Truppe ist bald darauf nach Russland verlegt worden.
Meine Mutter als junges Mädchen.
1941, ich bin ein Kriegskind. Mein Vater war sehr stolz.
Mein Vater nach dem Krieg 1946
Vater bekam den Job und arbeitete fortan in Friedrichshafen und Bregenz in einer Firma mit französischem Namen, die für die Deutschen Flugzeuge herstellte.
Mutter und ich waren daheim, wohnten im äußersten südwestdeutschen Zipfel, nahe am Rhein, genau neben der Schweizer Grenze. Die war damals ein Stacheldrahtzaun, wir lagen also zwischen einer Landesgrenze auf der einen Seite und dem Zaun eines Arbeitsdienstlagers auf der anderen. Ich erinnere mich an eine Szene, wo bei mir schon als kleiner Knirps mein Gerechtigkeitssinn ausbrach. Ich sah, wie ein Uniformierter einen von den alten Männern, die noch eingezogen worden waren, erbarmungslos zusammenbrüllte. Der Dreijährige, der ich war, schrie empört, mit kindlicher Logik: »Lass ihn in Ruhe! Er kann doch nichts dafür!« Die ganze Truppe lachte verstohlen, und die Autorität des Schreihalses geriet ins Wanken. Er ließ von seinem Opfer ab, ich war zufrieden.
Die Schweiz war für Grenzbewohner damals ein wahres Wunder, das man nur vom Hörensagen kannte; bei uns gab es Verdunkelung, rationierte Lebensmittel und Krieg.
Jenseits des Gartenzauns musste das Paradies sein: Lichter in der Nacht, Musikfetzen wehten herüber, dort gab es Schokolade, Bananen, Orangen, was immer man sich darunter vorstellte.
Dort war Frieden.
Ich weiß auch noch, dass eine Tante aus der Schweiz öfter versucht hat, mir über den Stacheldrahtzaun Schokolade zuzuwerfen. Aber der Zaun war zu hoch und die Schokolade ist in den Stacheln hängengeblieben.
Wenigstens konnte man mit den Verwandten durch den Zaun reden.
1944 mussten meine Mutter und ich mit anderen Frauen und Kindern vor den anrückenden Alliierten flüchten. Aus diesen ganz frühen Jahren stammen die ersten Bilder meiner Kindheit. Die lodernd brennende Nachbarortschaft Haltingen, die als »kriegswichtig« beschossen wurde. Wir waren in unserer Enklave praktisch eingekesselt. Und so flohen wir im Kugelhagel bis zum Grenzübergang in die Schweiz, ich im Kinderwagen, die Mutter mit Riesenrucksack. Ich habe auf dieser Fahrt durch Basel im Kinderwagen zum ersten Mal gesehen, dass Regentropfen im nächtlichen Licht bunt strahlen können.
Unser Nachbarort wurde bombardiert. Wir waren eingeschlossen zwischen Rhein und Schweizer Grenze.
Die Schweizer haben uns erst einmal gerettet, wir durften über die Grenze, vorbei am Haus unserer Verwandten. Dort ließ man uns allerdings nicht hinein, und man konnte auch niemanden verständigen.
Letztendlich wurden deutsche Flüchtlinge nach 30 Kilometern wieder nach Deutschland abgeschoben. Wir flüchteten zunächst an den Bodensee zu Tante Amalie in Radolfzell, das war Luftlinie ca. 100 Kilometer von unserem Heimatort entfernt, aber man hat uns dort, wie mir meine Mutter später erzählte, als »das Pack von der Front« beschimpft. Ich denke heute oft daran, wenn ich das Flüchtlingselend sehe.
Schließlich besorgte uns mein Vater ein Zimmer in Bregenz, im Hotel Pfänderdohle hoch auf dem Pfänder, dem Hausberg der Stadt. Da pendelte man mit der Seilbahn rauf und runter. Damals verliebte ich mich in die Bodensee-Region, und noch heute, wenn ich ein Bild vom Pfänder sehe, mit Blick über den ganzen Bodensee und Lindau, im Vordergrund die Pfänderbahn, erwacht in mir ein Glücksgefühl …
Vater kam zu uns, sooft er in Friedrichshafen frei bekam. Dornier hatte, weil die Erzeugung von Flugzeugen natürlich »kriegswichtig« war, für seine Angestellten einen vielstöckigen Bunker in die Erde bauen lassen, angeblich völlig bombensicher. An einem Tag, als mein Vater nach Bregenz musste, wurde Friedrichshafen bombardiert – und fast alle im Bunker starben.
Später habe ich den Schweizer Autor Thomas Hürlimann kennengelernt, der in seinem Stück Großvater und Halbbruder beschrieb, wie die Schweizer Bürger am gegenüberliegenden Ufer die Bombardierung von Friedrichshafen wie ein Schauspiel betrachteten.
Wir haben uns lange darüber unterhalten.
Als der Krieg zu Ende war, wollte mein Vater mit uns zurück nach Weil am Rhein. Das ging allerdings nur etappenweise vonstatten. Unser Haus war beschossen worden, wie die Eltern erfahren hatten, also kamen wir zuerst in Säckingen unter, bei Tante Luise und ihrem Mann, Onkel Josef, die genau neben dem »Trompeterschloss« direkt am Rhein wohnten. Der Onkel, ein Mann mit eindrucksvollem Riesenschnurrbart, hatte noch bei Kaiser Wilhelm in dessen Garde gedient. Als der Kaiser ihn einmal fragte: »Er ist aus Säckingen? Kann er auch trompeten?«, antwortete der Onkel forsch: »Jawohl, Majestät, mit der Weinflasche.« So erzählte er wenigstens.
Tante Luise war es, die 1945, als sie durchs Radio von den Konzentrationslagern und den Morden dort erfuhr, weinte und schrie: »Wir sind ein Volk von Verbrechern.« Sie hatte einen Nervenzusammenbruch, aber ich habe nicht begriffen, was da mit ihr passierte. Ihr Sohn, der Onkel Adolf, Jahrgang 1906, war als Kommunist in Dachau gewesen. Als ich 13 Jahre alt war, erzählte er mir von den unfasslichen Grausamkeiten des KZ-Alltags. Das hat bei mir bis heute nachgewirkt.
Dort, bei Tante Luise und Onkel Josef, gab es eine Dachterrasse über dem Rhein mit Blick in die Schweiz und mit einer leeren Fahnenstange. Und als ich hochschaute, fingen die Terrasse und das ganze Haus an, sich zu drehen. Ich schrie: »Mutti, Mutti, das Haus fällt um.« Dann wurde ich ohnmächtig.
Ich war offenbar so unterernährt, dass ich einen Kreislaufkollaps erlitten hatte.
Die ersten französischen Soldaten waren freundlich. Meine Mutter sprach mit ihnen Französisch, was mich sehr erstaunte, denn während des Krieges hatte sie natürlich keine Gelegenheit zu zeigen, dass sie das konnte.
Und als einer auf dem Platz vor dem wunderschönen Säckinger Münster Fettrationen zum Kochen verteilte, gab es bei uns Spaghetti mit Tomatensauce und echter Margarine. Es schmeckte köstlich, und ich fragte: »Mutti, ist jetzt Frieden?« Es war Frieden.
Wir machten uns erneut auf den Weg, so kamen wir zu Fuß oder mit dem Leiterwagen wieder nach Hause. Dort hatte sich einiges verändert. Als wir weggegangen waren, war jenseits des Rheins das deutsche Elsass gewesen. Nun war es französisch. Man durfte als Deutscher nicht mehr über den Rhein, man konnte die Verwandten drüben nicht besuchen, und die elsässischen Kinder mussten Französisch lernen.
Es hatte sich viel geändert nach dem Krieg.