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3.Die nächste Wegstrecke: Formale Überlegungen zu Lesung und Auslegung

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Auf dieser Wegstrecke werden weiter die gottesdienstlichen Lesungen bedacht; über das Verhältnis von liturgischen zu biblisch bezeugten Sprechakten wie loben, klagen, danken, bekennen, segnen muß ebenso an anderer Stelle nachgedacht werden wie über das Verhältnis von Bibel und Riten.

Auf dem internationalen Kongreß der Societas Liturgica zum Thema »Bibel und Liturgie«, der 1991 in Toronto stattfand,23 hat der amerikanische Liturgiewissenschaftler Paul F. Bradshaw die verschiedenen Modelle der Lesungen im Gottesdienst historisch und systematisch dargestellt.24 Er unterscheidet vier Funktionen der Schriftlesungen, die er typisiert in didaktische, kerygmatischanamnetische, parakletische und doxologische Primärfunktion.25

Die didaktische Funktion läßt sich in den frühen Synagogengottesdiensten ebenso wie bei Justinus Martyr oder den monastischen Gemeinschaften des 4. Jahrhunderts und in vielen reformatorischen, meist reformierten, Gottesdiensten wiederfinden: Sie tendiert zu einer lectio continua, die mit einer Auslegung oder einer Zeit der Meditation verbunden ist; dies stellt im Grunde ein Bibelstudium im Rahmen der gottesdienstlichen Versammlung dar. Die kerygmatisch-anamnetische Funktion geht – nach Vorformen in der Tora zur Erläuterung des Passafestes und der Darbringung der Erstlingsgaben26 und in frühchristlichen Ostervigilien – auf die Schriftlesungen im konstantinischen Jerusalem zurück27 und breitet sich infolge der Herausbildung des Kirchenjahres aus. Nicht eine lectio continua steht im Mittelpunkt, sondern es wird die Grundlage und Berechtigung des gefeierten Ritus anamnetisch, also erinnernd und Gedächtnis stiftend, expliziert. Die parakletische Lesung nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Gemeinde und bei deren Situation. Dies wird historisch am deutlichsten bei den Lesungen zu Votivmessen und Bestattungen. Die doxologische Funktion als Primärfunktion wird schließlich dort erkennbar, wo Lesungen in einer der Gemeinde unverständlichen Fremdsprache vorgetragen werden – dies geschah in den alten nichtgriechischen Liturgien auf ägyptischem und syrischem Boden und in der römischen Liturgie bis zur Einführung der Volkssprache. Solche Lesungen sind daher eigentlich auch in der Sprechrichtung auf die Verherrlichung Gottes bezogen, obwohl es hier durchaus rubrizierte Aufmerksamkeitsrufe für die Gemeinde gibt.28

Diese vier Funktionen bieten auch für die gegenwärtigen Gestaltungen unserer Gottesdienste Anregungen und Veränderungspotentiale. Das erfordert allerdings eine Mehrzahl von Gottesdienstformen und -stilen, wenn denn solche Lesungstypen stimmig vorkommen sollen.

Die doxologische Funktion der Lesung läßt sich heute positiv in ökumenischen Gottesdiensten mit Gemeindegliedern unterschiedlicher Muttersprache gestalten. Sie wird dann jedoch eher die Wahrnehmung, daß das Volk Gottes weltweit verbreitet ist, eröffnen und höchstens sekundär darin den Lobpreis Gottes wiederfinden. Daß die doxologische Funktion hier insgesamt ein Randphänomen darstellt, sollte in Erinnerung bleiben. Keinesfalls taugt sie also dazu, Unverständlichkeit und Überlänge unserer Lesungen gegenüber kritischen Zeitgenossen legitimieren zu wollen.

Die parakletische Lesung ist in den Kasualien verankert und hat dort ihr gutes Recht. Gleicherweise kann sie aufgrund der flexiblen Auswahl zur Gestaltung von Themengottesdiensten hilfreich sein. Dem sollte dort auch eine flexible Gestaltung der Auslegung korrespondieren, indem anstelle der Kanzelrede Podiumsdiskussionen, Interviews oder andere dialogische Formen gewählt werden. Eine Anwendung dieses Lesungstyps in allen Gottesdienstformen oder als Regel im sonntäglichen Hauptgottesdienst halte ich dagegen nicht für ratsam. Dadurch würde nicht nur die durch Tradition vermittelte Ursprungsbindung unserer Gottesdienste unkenntlich werden, sondern voraussichtlich auch die genannte Pluralität biblischer Grundmotive verkümmern.

Obwohl heute nicht zu Unrecht gegen die Pädagogisierung evangelischer Gottesdienste polemisiert wird, behält eine didaktisch fungierende Lesung ihr bleibendes Recht. Der weitgehende Verlust von gemeindlichen Bibelstunden und die Schwierigkeiten, Bibelwochen durchzuführen, verweisen auf einen ernstzunehmenden Traditionsabbruch. Hierauf kann auch reagiert werden, indem in regelmäßigen Abständen im Sonntagsgottesdienst oder in Wochenschlußgottesdiensten biblische Bücher oder zusammenhängende Kapitel gelesen und ausgelegt werden, Auch hier erscheinen mir – die Kanzelrede ergänzend – gemeinschaftliche Auslegungen, beispielsweise in Gestalt des sog. »Bibel-Teilens« (»gospel sharing«),29 als sinnvoll.

Den Normalfall stellt die kerygmatisch-anamnetische Funktion der Lesung dar. Während der Anglikaner Bradshaw eindeutig die Kennzeichnung »anamnetisch« favorisiert und im Ergebnis den konstitutiven Bezug zum Ritus hervorhebt,30 scheint mir die doppelte Begrifflichkeit gerade für die protestantische Tradition angemessen zu sein, will sie doch im sonntäglichen Hauptgottesdienst verkündigend und erinnernd, Verheißung zusprechend und Gedächtnis stiftend lebendig werden. Ich komme darauf noch zweimal zurück.

Alle Lesungstypen erfordern eine neue Vielfalt der Gottesdienstformen. Sie erfordern in gleicher Weise eine angemessene Inszenierung der Lesung. Dazu gehören in evangelischer Überlieferung die traditionellen Akklamationen bei der Evangeliumslesung; aber auch katholische wie orthodoxe Riten können Gestaltungsimpulse geben und Formen von Bewegung oder Prozession entdecken lassen. Die größte Stärke unserer kulturellen Tradition, die Kirchenmusik, bietet u. a. in den Evangelienmotetten in alter und neuer Klanggestalt die Möglichkeit, Lesungen musikalisch auszuführen oder gesprochene und gesungene Teile zu verschränken. Zur gekonnten Inszenierung der Lesung zählt last not least – und es ist leider nicht überflüssig, das zu betonen – das professionelle Lesen selbst, das nicht improvisiert, sondern von den Lektorinnen und Lektoren geübt und vorbereitet werden muß. Daß Bibeltexte – wie der französische Katholik Louis-Marie Chauvet grundsätzlich hervorhebt – in der gottesdienstlichen Versammlung öffentlich proklamiert werden müssen und nicht »face down« zu lesen sind,31 entscheidet sich nicht zuletzt an der konkreten Ausführung. Daß hierbei nicht die Liturgen, sondern Gemeindeglieder die Lesungen – einschließlich des Evangeliums – ausführen, halte ich für einen besonderen Gewinn.

Am Ende dieser Wegstrecke ist eine Rast sinnvoll. Zur Stärkung reiche ich Ihnen noch ein leicht verdauliches Beispiel zum Verhältnis von Lesung und Predigt.

Das neue Evangelische Gottesdienstbuch, das seit einem Jahr die Agende der EKU- und der VELKD-Kirchen ist,32 schlägt vor, das Credo nach der Predigt zu sprechen. Diese kleine, fast unscheinbare Umstellung hat außerordentliche Folgen, wenn sie verstanden und ernst genommen wird.

Zunächst: Es handelt sich hier im Kern nicht um eine Umstellung des Credo, sondern um eine Umstellung der Predigt; sie soll im direkten Anschluß an die Lesungen erfolgen. Dies impliziert nichts weniger als eine neue Leitvorstellung des evangelischen Gottesdienstes: Nicht mehr das Gegenüber von sog. »Liturgie« und »Predigt«, das die evangelische Gottesdienstkultur und -wahrnehmung bisher weitgehend bestimmt hat, soll Gehalt und Gestalt prägen, sondern das Ineinander von Fest und Rede. Die Predigt ist integraler Bestandteil der Liturgie. Sie kann dann freigehalten werden von allen rituell-herrschaftlichen Relikten eines »Predigtauftritts« und soll als textauslegende Rede, und zwar als Auslegung des zuvor vom Lesepult verlesenen Abschnitts und nicht eines zusätzlich proklamierten Predigttextes, gekennzeichnet sein. Dies erfordert und ermöglicht eine biblisch orientierte – also auf Geist und Buchstaben der Bibel bezogene – Kanzelrede, die zugleich die Situation homiletisch aufnimmt. Letzteres ist nicht nur aufgrund der homiletischen Erkenntnisse Ernst Langes,33 sondern auch aufgrund der Liturgie notwendig. Denn der Wortteil des Gottesdienstes endet mit dem Fürbittengebet, also dem bittenden Aussprechen der Situation vor Gott, und führt mit Sendung und Segen in den Gottesdienst des Alltags. Die biblische Predigt wird also die kerygmatisch-anamnetische Funktion des Wortteils und die homiletische Situation zu berücksichtigen haben und erfordert als Festrede ebenso ästhetische Kompetenz.

Als jemand, der in den letzten Jahren wenig zu predigen hatte und Gottesdienste als kritischer Predigthörer mitfeierte, gebe ich außerdem die Hoffnung nicht auf, daß solche Kanzelrede kürzer wäre als 20 Minuten und dadurch gleichwohl an Substanz gewinnen würde. Daß dies gerade nicht zur »Sprache Kanaans« führt, ist beispielsweise an dem letzten Träger des Predigtpreises zu lernen, an Hanns Dieter Hüsch – wie ich finde, ein gutes Vorbild für Predigerinnen und Prediger!

Machen wir uns noch ein Stück weiter auf den Weg!

Die Bibel ist in der Liturgie »wie ein Fisch im Wasser« – so hat es der schon erwähnte Louis-Marie Chauvet einmal ausgedrückt.34 Dies zeigt sich u. a. an der biblisch geprägten Sprache in Gebeten und hat wiederum prinzipielle Aspekte, Beides soll abschließend bedacht werden. Zunächst:

Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens

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