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1.3 Optionen: Hinweise auf künftige Topografien der Bibel

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Die Funktion der Bibel als Erbauungsbuch erfordert sowohl die Stärkung bzw. Ermöglichung der Lesekultur als auch die entschlossene Öffnung gegenüber neuen multimedialen Kulturen. Letzteres wird von der Deutschen Bibelgesellschaft bereits erkannt und entsprechend versucht; außerdem werden immer noch jährlich fast eine halbe Millionen Bibeln, und zwar vor allem Lutherbibeln und die »Gute Nachricht«, verkauft; weltweit waren es 1999 627 Millionen biblische Schriften.38 Dass die verkauften Bibeln hierzulande auch gelesen werden können, erfordert wiederum kreative Angebote in den Gemeinden, der Erwachsenenbildung oder auch der Volkshochschule. Hier wie auch in den verschiedenen Bibelarbeitsformen wird dann der einzelne Mensch innerhalb einer Gruppe im Blick sein – und das erwartungsgemäß über Konfessionsgrenzen hinweg. Darüber hinaus hat Christian Möller immer wieder aufgezeigt, dass die Lehre vom Gemeindeaufbau insgesamt biblisch zu orientieren ist, während Jürgen Ziemer betont hat, dass nicht zuletzt die aktive, aber unsensationelle Bewahrung der Bibelsprache in den Gemeinden der DDR Gebrauch und Funktion der Bibel als Sprachhilfe im Herbst 1989 ermöglichte.39

Die Predigt ist sowohl den Funktionen der Bibel als Erbauungs- wie als Bekenntnisbuch verpflichtet. Nach wie vor wird sie als exemplarische Selbstdarstellung des Protestantismus angesehen. Natürlich ist deshalb eine prinzipielle Bemühung um Qualität unverzichtbar; allerdings gehört dazu in und neben kommunikativer und rhetorischer Qualität vor allem eine theologische Qualität, die m. E. nicht ins stille Gleichgewicht zu führen, sondern die bleibende Spannung von aufklärender Kritik und existentiellen Gefragtseins auszuhalten hat; dabei sollte – verstärkt im urbanen Bereich – weniger der kirchliche Insider als der Randsiedler als Hörer gedacht werden, dessen Akzeptanz je und je zu erringen wäre. Im Blick auf die biblische Predigt wird es dann darauf ankommen, wie Exegese und Homiletik hier miteinander kommunizieren,40 um u. a. auch den sog. »Texttod« in der Predigt zu vermeiden.41

Nach der Überbetonung von Bibel und Verkündigung innerhalb der Seelsorgelehre im Gefolge der Dialektischen Theologie und den seit den 70er-Jahren dann notwendigen und hart geführten poimenischen Konzeptionsdebatten hat es Peter Bukowski 1994 gewagt, programmatisch zu fordern, auch in der Seelsorge »die Bibel ins Gespräch zu bringen«.42 In diesem Programm, das sich – wie auch Klaus Winkler aufgezeigt hat43 – von der sogenannten biblisch-therapeutischen Seelsorge, aber ebenso von Ideen einer biblischen Psychologie unterscheidet, geht es darum, zunächst die alte Kluft zwischen den »bibelfreundlichen Menschenfeinden« und den »menschenfreundlichen Bibelfeinden«44 zu überwinden; dann ist zu entfalten, wie die Bibel gesprächsgerecht – also nicht gegen die Gesprächsdynamik und schon gar nicht als Abbruch des Gesprächs45 – einzubringen ist. Dies wird sich vor allem daran zeigen, ob es gelingt, in einem Seelsorge- oder Beratungsgespräch eine biblische Geschichte oder ein biblisches Motiv so zu erzählen, dass darin eine zunächst fremde Perspektive sich als hilfreich und heilsam erweist.46 Dies zeigt die Chancen der biblischen Sprache zu einer konfrontativ-befreienden wie stützend-entlastenden Seelsorgebegegnung; dieser Sprachraum scheint mir im übrigen offener, vielfältiger und demokratischer zu sein als die neue »energetische« Seelsorge.47 Die Frage, ob man die Bibel ins Gespräch bringen darf oder gar muss oder im Gegenteil nicht darf, ist nach Bukowski eher unsinnig; vielmehr kommt es darauf an, dass es für das Gegenüber zur Problemlösung hilft und dass im Sinne der Grundhaltung der Echtheit bzw. Kongruenz Seelsorgerin und Seelsorger die Bibel ins Gespräch bringen können und werden, ohne dadurch die Haltungen der Wertschätzung und Empathie zu verletzen. Die Frage gewinnt damit eine pastoraltheologische Dimension.

In der Pastoraltheologie, die sich der Problemstellung von Amt und Person und damit auch den Leitbildern pastoraler Identität und – neuerdings wieder – Professionalität widmet, ist die Frage nach der Bibel erneut relevant. Albrecht Grözinger votiert mit Recht für ein neues Profil des Pfarramtes: »Die Menschen der Postmoderne suchen im Pfarrer, in der Pfarrerin nicht den großen Kommunikator, sondern den Interpreten, die Interpretin der biblisch-christlichen Tradition in jeweils bestimmten lebensgeschichtlichen Kontexten. Das Pfarramt gewinnt für diese Menschen seine Bedeutung nicht in der Kommunikation, sondern im besonderen Profil der Tradition, für das es steht. Pfarrerinnen und Pfarrer müssen nicht die besseren oder schlechteren Moderatoren sein, nicht die besseren oder schlechteren Manager, nicht die besseren oder schlechteren Show-Master, sondern sie müssen einstehen für eine bestimmte Tradition.«48

Das Pfarramt wird in Grözingers Beschreibung zum intellektuell zu führenden Amt der Erinnerung.49 Dies mündet bei ihm jedoch in eine Einseitigkeit im Blick auf die Intellektualität, die weder notwendig noch wünschenswert ist. Das Amt der Erinnerung ist ja gleichzeitig das Amt der Interpretation. Das erfordert neben intellektueller Bildung eine lebenspraktische und erfahrungsgesättigte Kenntnis der »Texte« und »Kontexte« des Lebens für die Interpretation. Nicht der Grözinger vor Augen stehende intellektuelle Flaneur auf dem Boulevard der Postmoderne50 wäre ein wünschenswertes pastorales Leitbild, sondern die Interpretin der biblischen Tradition in bewusster Zeitgenossenschaft und Solidarität mit den Menschen. Nötig sind Praktische Theologinnen und Theologen, die die Bibel kennen, zu verstehen suchen und dabei traditionskritisch für die Tradition einstehen.

Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens

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