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2. Terra incognita – PTund Exegese 2.1 Wahrnehmungen: Ein weitgehendes Defizit und zwei Angriffe

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Die Bibelwissenschaften spielen in den prinzipiellen Reflexionen der Praktischen Theologie keine erkennbare Rolle. Bis auf einen eher allgemein bleibenden Hinweis innerhalb eines Schaubildes, das die Wechselbeziehung von Bibelwissenschaft, Kirchengeschichte, Systematischer Theologie, Religionswissenschaft sowie anderen Fächern einerseits und PT andererseits als Provokation und Korrektur beschreibt, wobei interessanterweise die PT stets provoziert und die anderen korrigieren,51 ist in den von mir gesichteten neueren Veröffentlichungen ein weitgehendes Defizit zu konstatieren. Selbst das vorzügliche Arbeits- und Lernbuch zur Praktischen Theologie von Michael Meyer-Blanck und Birgit Weyel bietet hier keine Ansätze, strukturiert aber gleichzeitig die Wissenschaftsgeschichte so,52 dass eine Ursache für dieses Defizit erkennbar wird: PT hat sich in ihren Versuchen wissenschaftlicher Selbstvergewisserung entweder systematisch oder historisch oder empirisch orientiert. Und selbst in den Zeiten, in denen im Gefolge der Dialektischen Theologie das Paradigma »Verkündigung« die PT dominierte, war dies über das systematische Sola-scriptura-Prinzip, nicht über die Exegese verankert; eine Gesamtdarstellung der PT hat es dann ja auch hier nicht gegeben.53

Drei Ausnahmen sind allerdings innerhalb der Defizitbeschreibung wahrzunehmen. In dem 1997 erschienenen Lehrbuch der Praktischen Theologie von Eberhard Winkler, in dem PT pointiert als »Lehre von der Mitteilung des Evangeliums«54 verstanden wird, spielen biblische Bezüge eine nicht geringe Rolle. Leider tauchen sie oft nur in Gestalt von Zitathäufungen auf und sind außerdem mit der praktisch-theologischen Theorie nicht verbunden. Letztere wird vielmehr abgewertet als ein Unternehmen, dass kaum jemanden interessiere und weder in ein Repetitorium noch ins Examen gehöre.55 Bleiben diese Bezüge eher an der Oberfläche, so sind sie bei der zweiten Ausnahme, den ihrerseits nur Fragment gebliebenen Entwürfen des früh verstorbenen Praktischen Theologen Henning Luther in der Tiefe aufzuspüren. Gerade in Auseinandersetzung mit neuzeitlichoptimistischen Identitätskonzepten verweist Luther auf biblische Anthropologie und die paulinische theologia crucis; dies führt ihn zum »Annehmen der Fragmentarität des Lebens«, zum »Verzicht auf dauerhafte Ganzheit« und zur Erweiterung der Dimension der »Sehnsucht« nach dem Unendlichen um die des »Schmerzes«56. Diese für Henning Luther zentralen Einsichten bleiben allerdings auf der Ebene biblischer Grundmotive, deren Status innerhalb der ihn stark interessierenden Religions- und Alltagstheorien unklar bleibt.57 Schließlich hat Henning Schröer immer wieder die Bibelfrömmigkeit beschrieben, die Berechtigung verschiedener Zugänge zur Bibelauslegung betont und für eine praktischtheologische Hermeneutik votiert, die über eine Texthermeneutik zu einer Hermeneutik gegenwärtigen Lebens und Handelns fortschreitet.58

Ob insgesamt den Defiziten auf Seiten der Praktischen Theologie auch solche auf Seiten der Exegese entsprechen, kann hier nicht weiter geprüft werden. Es ist immerhin der Trend wahrzunehmen, dass die historisch-kritische Exegese allmählich in die Defensive gerät. Konnte Gerhard Ebeling vor 50 Jahren die historisch-kritische Exegese noch in ihrem inneren Sachzusammenhang zur reformatorischen Rechtfertigungslehre systematisch würdigen,59 sah sich Werner H. Schmidt vor 15 Jahren veranlasst, im Herausgeberkreis der Zeitschrift »Evangelische Theologie« eine »kleine Verteidigungsrede« für die historischkritische Methode zu halten.60 Im Frühjahr 2000 konnte man darüber hinaus Zeuge eines internen und eines externen Angriffs werden: Ein Kirchenführer polemisierte gegen die »desaströse Lage evangelischer Bibelforschung deutscher Sprache«, machte sie für alle Schwierigkeiten bei der Weitergabe des Glaubens verantwortlich und verkündigte sogleich deren Ende;61 eine gute Resonanz in den evangelikalen Pressediensten war ihm sicher.62 Der Berliner Philosoph Herbert Schnädelbach veröffentlichte in der »Zeit« seine Abrechnung mit dem Christentum, zu deren Geburtsfehlern auch der »strategische Umgang mit der historischen Wahrheit« gehöre, der von der modernen Bibelwissenschaft seines Erachtens nur entschuldigt und damit letztlich bestätigt würde.63 Auffällig ist, dass die ansonsten vorzügliche Replik von Richard Schröder, aber auch die Leserbriefe auf diesen Punkt nicht eingehen.64 In der zweiten Replik, die der Philosoph Robert Spaemann verfasst hat, heißt es immerhin: »Auf das Feld neutestamentlicher Exegese mich einzulassen, fehlt mir die Kompetenz fast ebenso wie Schnädelbach.«65

Die Beziehung zwischen Praxis bzw. PT und Exegese stellt sich also einerseits als ein ungestörtes Nebeneinander dar, kann aber andererseits auch zu aggressiven Ausfällen führen. Beides erfordert eine neue Sachbezogenheit und ein Ausloten der Möglichkeiten und Chancen, die PT und Exegese einander bieten.

Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens

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