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… und die Wirklichkeit?
ОглавлениеOstern zu denken, bedeutet eine theologische Revolution: Gottesrede, Christologie, Pneumatologie und das gesamte Verständnis von Leben und Wirklichkeit sind radikal verändert. Die Zeugnisse des NT sind sich einig, dass hier der befreiende und neuschöpfende Gott ein für alle Mal gehandelt und sein Ziel gültig offenbart hat. Hermeneutisch wird damit eine große Herausforderung deutlich, denn gemessen an den von Ernst Troeltsch klassisch formulierten Kategorien ist Ostern kein historisches Ereignis, da es analogie- und korrelationslos erscheint und schon gemäß der neutestamentlichen Texte allein auf Gottes Handeln zurückzuführen ist. Angesichts dieser Problemkonstellation sind dann beispielsweise die drei maßgeblichen theologischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts zu profilieren, die darauf existential, offenbarungsorientiert oder universalgeschichtlich antworten.39
Fragen wir hier nicht geschichts- und erkenntnistheoretisch weiter, sondern nach der Auswirkung des Osterglaubens! Diese lässt sich konzentrieren in der Aussage, dass unsere traditionelle Weltsicht und Alltagsontologie dadurch einen Riss erhalten.40
Wolfgang Drechsel hat diesbezüglich in seminaristischen und kollegialen Diskussionen immer wieder darauf hingewiesen, dass er das besonders im Isenheimer Altar abgebildet sieht. Ist der Wandelaltar geöffnet, sieht man zuerst das große Kreuzigungsbild und in der Predella den ins Grab gelegten Jesus: die historische Wirklichkeit, die grausame Wirklichkeit von Leid, Unrecht, Sterben und Tod! Dann hebt Wolfgang Drechsel aber die Überraschung hervor: Wer nah an das Bild herantritt, erkennt plötzlich einen Spalt entlang des Kreuzesstamms; hier kann das Altarbild noch einmal geöffnet werden, so dass die bekannten Bilder von Weihnachten und Ostern sichtbar werden.
Dieser Spalt, dieser Riss ist das, was Ostern unserer Wirklichkeit schon jetzt hinzufügt. Wir können noch nicht hindurchschauen, aber darauf setzen, dass unsere Wirklichkeit nicht letzte Gültigkeit besitzt, sondern verwandelt wird. Gottes Leidenschaft zum Leben, die durch und an Jesus deutlich und wirksam wurde, will die Menschen zum Leben begeistern. Dem hat auch das kirchliche Handeln in Seelsorge und Diakonie, in Gottesdienst und Bildung zu dienen: in Theorie und Praxis ein wunderbarer Beruf!