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4. Die letzte Wegstrecke: Materiale Überlegungen zum gottesdienstlichen Gebet

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Im Blick auf die Gebetssprache biete ich nicht einen allgemeinen Überblick, sondern wähle als konkretes Beispiel ein Tages- oder Kollektengebet der neuen Agende aus. Tagesgebete beschließen die Eingangsliturgie und bilden gleichzeitig den Übergang zum Lesungsteil. Daher werden in ihnen neuerdings verstärkt biblische Anklänge hörbar. In der neuen Agende gibt es zu jedem Sonn- und Festtag drei Tagesgebete zur Auswahl. Ich wähle eines der Gebete zum 4. Advent, das gemäßigt modern ist. Hören Sie bitte genau auf die einzelnen Formulierungen:

»Gott, unser Befreier,

du erhebst, die tief unten sind:

Wie Elisabeth und Maria einander umarmten

und dein Lob gesungen haben,

erfülle auch uns mit deinem Geist,

daß wir einander bestärken in der Hoffnung auf dein Erbarmen.

Dir sei Ehre in Ewigkeit.«35

Auf den ersten Blick ist dies – vor allem im Vergleich zu den Kollektengebeten der alten Agenden – ein durchaus gelungenes Gebet. Es vermeidet die früher stereotype Anrede Gottes als »Herr« und andere einseitig männlich geprägte Gottesbilder. Daß das grammatische Genus hier dennoch maskulinum bleibt, also »Gott, unser Befreier« und nicht »Gott, unsere Befreiung« oder aber »Gott, unsere Befreierin« heißt, finde ich hier zunächst akzeptabel; zumindest wäre die Anrede »Gott, unsere Befreiung« untauglich. Die folgende Prädikation und die Bitte knüpfen an das Evangelium zum 4. Advent an – an die Begegnung von Maria und Elisabeth und das anschließende Magnifikat. Die Berücksichtigung biblischer Frauengestalten ist immer noch etwas auffallend Neues in agendarischen Gebeten. Die Fortführung der Bitte (»erfülle auch uns […]«) bleibt allerdings sehr allgemein und ist auch etwas zu lang geraten.

Aufschlußreich ist ein Vergleich zu dem Entwurf dieses Gebetes, der zwei Jahre zuvor veröffentlicht wurde. Die Formulierung lautete 1997:

»Gott unser Befreier,

du wirfst Mächtige nieder

und erhebst, die ohne Ansehen sind:

Wie Elisabeth und Maria sich umarmten

mit dem Lied der Befreiung,

so erfülle auch uns mit deinem Geist,

daß wir einander bestärken in der Hoffnung.

Dir sei Ehre in Ewigkeit.«36

Dieses Gebet hat durchaus sprachliche Schwächen im Mittelteil – sich mit einem Lied zu umarmen, ist ein etwas verunglücktes Bild; man kann sich höchstens mit einem Lied auf den Lippen umarmen, aber das paßt natürlich nicht zu einem agendarischen Gebet. Jedoch – der Entwurf ist an einer Stelle besser als die gewollte Verbesserung. Die Gottesprädikation (»du wirfst Mächtige nieder und erhebst, die ohne Ansehen sind«) ist erkennbarer vom biblischen Text und dem dortigen Grundmotiv des Positionswechsels geprägt: Gottes Geschichtshandeln stürzt Mächtige vom Thron und erhöht die Niedrigen – so wie Maria selbst eine Niedrige war und doch die Mutter des Messias wird.37

Gestrichen wird in der offiziellen Version oberflächlich die revolutionäre Aussage aus dem Magnifikat und – gestatten Sie mir eine leichte Polemik – durch eine Umformulierung dem kerngemeindlichen Milieu und seiner oft depressiv gestimmten Normalfrömmigkeit angepaßt: »du erhebst, die tief unten sind« und dann: »Hoffnung auf dein Erbarmen« und nicht etwa die Hoffnung, die aus dem »Lied der Befreiung« entspringen könnte. Hier bot der Entwurf das kräftigere Gottesbild und eine Infragestellung typisch christlicher Frömmigkeit der Ersten Welt.

Gleichzeitig ist die Streichung eine Schwächung, wenn nicht Beseitigung des Grundmotivs: Es geht eigentlich nicht mehr um den Positionswechsel, sondern um die Richtung von oben nach unten, um den sich in seinem Erbarmen zu uns Menschen tief unten gütig herabneigenden Gott mit großväterlichen Zügen. Der entspricht weder dem biblischen Basismotiv, noch kann Gott hier so handeln wie er eigentlich angeredet wurde, also als »Gott unser Befreier«.

Das Beispiel zeigt: Der Rückgriff auf Geist und Buchstaben der Bibel führt in der Gebetssprache nicht zu Worthülsen, sondern potentiell zur Vielfalt biblischer Gottesbilder, auch samt ihrer möglichen Anstößigkeiten und Fremdheiten.38 Es ist außerdem im Blick auf Gottes- wie Menschenbild Genauigkeit erforderlich und eine theologisch durchdachte Bibelkunde, die tiefer reicht als bloße Oberflächenkenntnis. Dann kann auch in der Bibel als Erbauungsbuch der bisher verborgen gebliebene spirituelle Reichtum samt seiner Veränderungspotentiale neu entdeckt werden.

Damit ist zugleich deutlich, daß es nicht darum gehen kann, die gesamte Liturgiesprache mit biblischen Zitaten anzureichern oder zu reformulieren. Abgesehen von der Unmöglichkeit, ein solches Unterfangen durchzuführen, spricht dagegen, daß die Biblizität der Liturgie eben nicht nur an wörtlichen Zitaten zu bemessen ist. Chauvet geht sogar so weit zu behaupten, daß die Bibel häufig nur ein »pre-text«, ein »Vor-text«, ja sogar ein »Vorwand« der liturgischen Texte sei; seiner Meinung nach kann die Liturgie durchgehend biblisch geformt und geprägt sein, ohne daß Stoff oder Formulierung liturgischer Texte als solche der Bibel entnommen sind.39 Das bedeutet umgekehrt: Die Bibel behindert nicht die sprachschöpferische Tätigkeit des Glaubens, sondern ermöglicht und erfordert sie.

Damit sind wir vor die Fragen gestellt, wie die Biblizität der Liturgie aus evangelischer Sicht zusammenfassend zu beschreiben ist und welche Kriterien hierzu formulierbar sind. Mit dieser Fragestellung haben wir nun den Gipfel unserer heutigen Tour erreicht.

Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens

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