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II. Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf die nationalen Steuerrechtsordnungen

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Obgleich die Regelungen der europäischen Verträge im Bereich der direkten Steuern sehr zurückhaltend sind, weist der EuGH in stRspr darauf hin, dass die direkten Steuern zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, dass diese „ihre Befugnisse in diesem Bereich jedoch unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben und deshalb jede offensichtliche oder versteckte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit unterlassen müssen“[204]. Damit werden neben der Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff AEUV) auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff AEUV), die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 ff, Art. 56 ff AEUV) sowie die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 ff AEUV) zum Prüfungsmaßstab der nationalen Steuerrechtsordnungen. Allerdings sind die Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand der Harmonisierung nicht verpflichtet, ihr eigenes Steuersystem den verschiedenen Steuersystemen der anderen Mitgliedstaaten anzupassen, um in jedem Fall die sich aus der parallelen Ausübung ihrer Besteuerungsbefugnisse ergebende Doppelbesteuerung zu beseitigen[205].

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Fall 9 („Schumacker“)[206]: S ist bei einem deutschen Unternehmen in Aachen angestellt. Er wohnt zusammen mit Frau und Kindern in Belgien und fährt täglich über die Grenze zur Arbeit. Andere Einkünfte als aus der Tätigkeit des S in Deutschland haben die Eheleute nicht. In seiner Einkommensteuererklärung für 1993 beantragt S die Anwendung des Splitting-Tarifs. Das FA versagt ihm diese im Hinblick auf § 26 EStG, da er mangels Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts in der Bundesrepublik nicht unbeschränkt steuerpflichtig sei (§ 1 Abs. 1 EStG). Rn 221

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Steuerliche Vorschriften können die Grundfreiheiten beeinträchtigen[207]. Die EU hat sich die Schaffung eines „Raumes ohne Binnengrenzen“ zum Ziel gesetzt (Art. 3 EUV), in dem der freie Verkehr von Personen (Art. 21, Art. 45, Art. 49 AEUV), Waren (Art. 34 AEUV), Dienstleistungen (Art. 56 AEUV) und Kapital (Art. 63 AEUV) gewährleistet ist. Diese Grundfreiheiten dürfen weder durch steuerliche Diskriminierung beeinträchtigt noch durch steuerliche Hemmnisse beschränkt werden. Der EuGH hat in stRspr die versteckte (indirekte) steuerliche Diskriminierung der offenen Diskriminierung gleichgestellt[208]. Die Grundfreiheiten wirken also auf die nationalen Steuerrechtsordnungen als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote ein[209].

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Eine offene Diskriminierung liegt vor, wenn Ausländer tatbestandlich benachteiligt werden, wenn also gerade an die Eigenschaft als Ausländer steuerliche Nachteile geknüpft werden. Eine versteckte (indirekte) Diskriminierung liegt vor, wenn die zu beurteilende Regelung nicht ausdrücklich Ausländer betrifft, wenn sie aber „durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale“ typischerweise Ausländer benachteiligt oder Inländer bevorzugt[210]. Da das deutsche Einkommensteuerrecht nicht an die Staatsangehörigkeit anknüpft, scheidet eine offene Diskriminierung regelmäßig aus. Einkommensteuerliche Regelungen wirken sich dann typischerweise zulasten von Ausländern aus, wenn diese bei grenzüberschreitender Tätigkeit im Inland steuerlich gegenüber Inländern benachteiligt werden.

Dies kann insb bei sog. Grenzgängern der Fall sein. Staatsangehörige anderer Staaten, die im EU-Ausland wohnen, aber täglich zur Arbeit in die Bundesrepublik „einpendeln“ und nahezu ihr gesamtes Einkommen hier verdienen, dürfen steuerlich nicht schlechter gestellt werden als Inländer, die im Inland wohnen und arbeiten[211]. Aber auch die Beschränkung steuerlicher Investitionsförderung auf Inlandsinvestitionen ist regelmäßig unionsrechtswidrig[212].

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Die Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote führen also zur steuerlichen Gleichbehandlung gebietsansässiger und gebietsfremder StPfl innerhalb des nationalen „Kästchens“ (sog. Kästchengleichheit)[213], sie führen nicht zu einer Gleichbehandlung innerhalb der EU. Die Rechtsprechung des EuGH hat als „Motor der Harmonisierung“ aber weit über Grenzpendlerfälle hinaus Bedeutung für die innerstaatlichen Rechtsordnungen[214]. Wird eine Zinszahlung einer Tochtergesellschaft an die ausländische Muttergesellschaft als vGA umqualifiziert, so muss diese Umqualifizierung auch für Zahlungen an inländische Muttergesellschaften gelten (s. Rn 1505 ff). Wird der Wegzug ins Ausland mit einer Sondersteuer (Wegzugsteuer, s. Rn 1513 ff) belegt, so beschränkt dies die Freizügigkeit[215]. Werden Dividenden, die an beschränkt StPfl fließen, ungünstiger besteuert als Dividenden an unbeschränkt StPfl, so verstößt das gegen die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 Abs. 1 AEUV, s. Rn 1252)[216].

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Greift eine Steuernorm in eine der unionsrechtlich garantierten Grundfreiheiten ein, so ist zu prüfen, ob dieser Eingriff gerechtfertigt werden kann. Es kommen sowohl geschriebene (zB Art. 45 Abs. 3 AEUV: Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit, Gesundheit) als auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe in Betracht. Als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe hat der EuGH ua die Wirksamkeit der Steueraufsicht[217], die Verhinderung der Steuerumgehung[218], der Steuerflucht[219] bzw des Steuermissbrauchs[220], die angemessene Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse[221] und – in seltenen Fällen – die Kohärenz anerkannt[222].

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Der EuGH sah im Fall 9 (Rn 216) das Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer (jetzt Art. 45 AEUV) als verletzt an. S war nach der damals geltenden Regelung des EStG (§ 1 Abs. 3 EStG) beschränkt steuerpflichtig. Er konnte also nicht den günstigeren Splitting-Tarif beanspruchen (§ 26, § 26b EStG) und auch keine persönlichen Abzüge geltend machen (§ 50 Abs. 1 EStG). Der EuGH sah darin eine (versteckte) Diskriminierung. Zwischen S und einem inländischen Arbeitnehmer bestünden keine nennenswerten Unterschiede, die es rechtfertigen könnten, S steuerlich schlechterzustellen. Wenn sich aber S gegenüber anderen inländischen Arbeitnehmern hinsichtlich der von ihm erzielten Einkünfte in vergleichbarer Lage befinde, verbiete Art. 45 AEUV eine Höherbesteuerung, die nur an die Tatsache der Nichtansässigkeit anknüpft und damit regelmäßig ausländische Staatsangehörige trifft[223]. Der deutsche Gesetzgeber musste nach dieser Entscheidung das EStG ändern. Unter bestimmten Voraussetzungen haben Nichtansässige nun die Möglichkeit, auf Antrag als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt zu werden (§ 1 Abs. 3, § 1a EStG, dazu Rn 694), was ihnen bspw die Vorteile der Zusammenveranlagung (dazu Rn 634 ff) sichert.

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