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Die Methode der Oral History
ОглавлениеIn dieser Studie werden die Aussagen von Frauen und Männern, von Menschen adliger und nicht-adliger Herkunft analysiert, die mir Auskunft darüber gegeben haben, wie sie die Begegnungen zwischen den beiden Akteursgruppen – Adelsfamilien und Dorfbevölkerung – und die damit verbundenen lokalen Aushandlungsprozesse nach 1990 wahrgenommen haben. In themenzentrierten Interviews mit autobiographischen Anteilen haben Landwirte, Handwerker, ein Pfarrer und eine Pfarrerin, Bürgermeister, Menschen im Ruhestand und Angestellte, insgesamt 21 adlige und nicht-adlige Interviewte aus drei ehemaligen Gutsdörfern, berichtet, wie sich ihr Leben nach dem Umbruch von 1990 verändert hat. Ihre erzählten Erinnerungen handeln von der Zeit nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung, aber auch von der Zeit der DDR, der Zeit der Bundesrepublik und von den Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, als in ihren Dörfern mit der Enteignung und der Bodenreform die traditionelle Gutsherrschaft endete. Sieben Adlige, die drei Adelsfamilien angehören, und vierzehn Einwohner aus drei verschiedenen Dörfern blickten aus den Jahren 2010 und 2011, als diese Interviews entstanden, auf ein wechselvolles 20. Jahrhundert zurück.[34] Es war mir wichtig, mit Schlüsselpersonen des öffentlichen Lebens in dem jeweiligen Dorf ins Gespräch zu kommen, mit Bürgermeistern und Pfarrern, die nicht nur über ihre eigene Lebensgeschichte, sondern auch über allgemeinere Angelegenheiten Auskunft geben konnten. Außerdem habe ich Personen mit einer engeren Beziehung zur Geschichte des Guts befragt, beispielsweise Kinder von Gutsangestellten. Von allen angefragten Zeitzeugen erklärten sich nur zwei Siebeneichener nicht zu einem Interview bereit. Das könnte Zufall sein, hat aber möglicherweise auch Gründe, um die es in den Kapiteln über Siebeneichen gehen soll. Bei den Adligen war die Bereitschaft, sich interviewen zu lassen, hingegen sehr groß: Alle, die ich um ein Interview bat, reagierten ausnahmslos mit Zusagen. Mit den Nachfahren der Gutsbesitzer in den drei ausgewählten Dörfern habe ich nach dem ersten Interview noch ein weiteres geführt, in dem ich auf ungeklärte Fragen zurückkam und eine biographische Erzählung, vor allem mit Schwerpunkt auf deren Leben in der Bundesrepublik, anregte. Besonders interessierte mich in diesen Gesprächen die innerfamiliäre Tradierung von Erinnerungen innerhalb der Adelsfamilien.[35] Für die beiden Dörfer Siebeneichen und Bandenow konnte ich zwei Generationen der ehemaligen Gutsfamilie interviewen. In Kuritz konnte ich nur den Enkel des letzten Gutsbesitzers befragen, der heute wieder in diesem Dorf lebt.
Die in den Interviews greifbaren Erinnerungen sind ebenso konkretes Ergebnis des Interviewprozesses selbst wie der individuellen Erfahrungsaufschichtung innerhalb jeder Lebensgeschichte.[36] Biographisches Erzählen zielt zum einen auf die Vergegenwärtigung der Vergangenheit und zum anderen auf die Darstellung einer in sich kohärenten Lebensgeschichte. Jede subjektive Erinnerungserzählung ist zudem sozial gerahmt, das heißt, sie ist an die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gruppen gebunden, wie zum Beispiel Familie, soziale Schicht, Altersgruppe, Beruf, Religion oder Geschlecht. Ob Mann oder Frau, adlig oder nicht-adlig, jung oder alt, Pfarrer oder Bäuerin: In allen diesen Erzählungen gibt es Schichten, die auf die jeweilige soziale Gruppe verweisen, aber auch solche Aspekte, die die Individualität jedes einzelnen Gedächtnisses ausmachen.[37] Die eigene Biographie zu erzählen heißt also nicht nur, eine in sich selbst schlüssige Geschichte zu präsentieren. Mit jeder lebensgeschichtlichen Interviewerzählung wird die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bekräftigt.[38] Das Erzählen folgt immer einem spezifischen sozialen Drehbuch oder Skript.[39] Bei der Interviewanalyse stehen nicht nur die dominanten Erzählmuster innerhalb dieses Drehbuchs im Mittelpunkt, sondern auch die Brüche und Widersprüche, die aus dem Erzählkontext hervorscheinen und auf tiefere Schichten der Erfahrung verweisen können.[40]