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Siebeneichen

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Siebeneichen ist ein kleines Dorf im östlichen Brandenburg mit etwa 280 Einwohnern. Derjenige Teil des Dorfes, in dem sich bis 1945 das Gut der Familie von Sierstedt befand, ist übersichtlich entlang der Straße angeordnet: eine mehrgeschossige Scheune, einige Häuser, die Kirche, daneben der Friedhof mit den adligen Gräbern, zwei Kriegerdenkmäler und die Wiese hinter dem Teich, wo sich bis Ende der 1940er Jahre das Schloss befand, mit einem Park dahinter. Die bis heute sichtbaren Baulücken im Zentrum des Dorfes stammen aus der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs, als das Dorf stark zerstört wurde – und aus den Nachkriegsjahren. Ende der 1940er Jahre wurden die Ruinen des Schlosses und der meisten Gutsgebäude abgerissen. Auf dem ehemaligen Gutsgelände baute Jasper von Sierstedt nach seiner Rückkehr 1990 zwei ehemalige Nebengebäude des Schlosses zu Wohnhäusern um. In dem kleinen Dorf Siebeneichen gibt es, abgesehen von einem Restaurant in der ehemaligen Gutsscheune, keine Infrastruktur. Es existieren vor Ort keine Einkaufsmöglichkeiten, keine Schule und kein Kindergarten.




In Siebeneichen sprachen der 1961 geborene Jasper von Sierstedt, seine 1964 geborene Frau Franziska und seine 1922 geborene Mutter Clara mit mir über die Rückkehr der Familie ins Dorf. Ihre Erzählungen wurden durch den umfangreichen Nachlass ihres Großvaters und Vaters Botho von Sierstedt (1893-1982) ergänzt. Der Familiennachlass mit Chroniken und Briefen befindet sich im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam und durfte von mir nach vorheriger Genehmigung durch die Familie eingesehen werden. Daneben existiert ein weiterer Teil des Nachlasses, der die Zeit der Gutsherrschaft von Botho von Sierstedt in den Jahren von 1919 bis 1945 umfasst, der wiederum frei zugänglich im Potsdamer Archiv aufbewahrt wird.

Von den Menschen aus dem Dorf waren die Pfarrerin im Ruhestand Johanna Brogel (*1935), die ehemalige Bäuerin Marianne Schulz (*1934) und der Handwerker Sebastian Menzel (*1973) bereit, mit mir über das ehemalige Gut in der Zeit vor und nach 1990 zu reden.[72]

Die Erzählungen der Familie von Sierstedt reichen von der Gegenwart aus gesehen über mehr als 120 Jahre Familiengeschichte zurück. In Verbindung mit dem Nachlass von Botho von Sierstedt geht die familiäre Überlieferung also bis ins 19. Jahrhundert zurück. Sie umfasst die Zeit der Gutsherrschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts, die Vertreibung und die Enteignung, die Zeit in der Bundesrepublik und die Rückkehr nach Siebeneichen. Die Erzählungen der befragten Menschen aus dem Dorf umfassen hingegen einen kürzeren Zeitraum von etwa 80 Jahren. Ihre Lebenserzählungen reichen von der Zeit des Zweiten Weltkriegs, der Enteignung und der Aufbaujahre des Sozialismus mit der Kollektivierung der Landwirtschaft über die Spätphase der DDR bis hin zur Transformationszeit nach dem Fall der Mauer 1989. Die drei Interviewten bewegen sich alle in einem kirchennahen Umfeld. Die Pfarrerin war für mich eine Schlüsselperson: Sie gab mir nicht nur über ihr Leben, sondern auch über allgemeinere Angelegenheiten des Dorfes Auskunft. Ihre Erzählungen waren umso wertvoller, als es in Siebeneichen – von wenigen überlieferten Aktenordnern abgesehen – kein Gemeindearchiv gibt. Neben diesen drei Interviewten noch weitere Menschen aus dem Dorf für ein Gespräch zu gewinnen, stellte sich in Siebeneichen als schwierig heraus. Die Tochter einer ehemaligen Gutsangestellten sagte den bereits vereinbarten Interviewtermin wieder ab. Die ehemalige SED-Bürgermeisterin war nach meiner Anfrage nicht zu einem Gespräch bereit. Man könnte also vermuten, dass in einem kleinen Dorf wie Siebeneichen die soziale Kontrolle sehr ausgeprägt ist, so dass lediglich die Pfarrerin aus einer Position der Unabhängigkeit sprechen konnte. Die beiden anderen Zeitzeugen waren und sind mit Jasper von Sierstedt, dem einzigen Arbeitgeber im Ort, nachbarschaftlich eng verbunden. Sebastian Menzel bietet im Wechsel mit Jasper von Sierstedt Führungen in der Kirche an. Marianne Schulz hat die landwirtschaftlichen Flächen ihrer Familie an ihn verpachtet. Ich gehe deswegen davon aus, dass ihre Bereitschaft, auch kritische persönliche Eindrücke vom Transformationsprozess zu berichten, womöglich geringer ausgeprägt war als in den beiden anderen, größeren Dörfern.

Alter Adel - neues Land?

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