Читать книгу Alter Adel - neues Land? - Ines Langelüddecke - Страница 15
1.2. Das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945:
Der Untergang der alten Welt von Adel und Dorf Der Abstieg des Adels und das preußische Gutsdorf
ОглавлениеDas 19. und 20. Jahrhundert waren für den preußischen Adel eine Zeit des gesellschaftlichen Abstiegs. Auf gesetzlicher Ebene hatten die Gutsbesitzer mit den Agrarreformen seit 1807 in den Dörfern immer mehr an Einfluss und Macht verloren; außerdem konnten die Gutsbesitzer nun nicht-adliger Herkunft sein.[7] Mit dem Ablösungs- und Regulierungsgesetz vom 2. März 1850 wurden die leibherrlichen Bindungen, die sogenannte Erbuntertänigkeit, aufgehoben. In der Folge konnten sich die Bauern und Leibeigenen gegen eine Entschädigungszahlung von ihren traditionellen Diensten und Abgaben gegenüber ihrem Lehnsherrn freikaufen.[8] Damit war die jahrhundertelange Verfügungsgewalt des Adels über »Land und Leute« aufgehoben, die der preußische König nach mittelalterlichem Lehnsrecht an den Landadel verliehen hatte. 1872 wurden zudem die gutsherrliche Polizeigewalt und die Gerichtsbarkeit aufgehoben.[9] Die größte Zäsur in diesem Abstiegsprozess des Adels aber war das Ende der Monarchie. Am 9. November 1918 dankte Wilhelm II. als letzter deutscher Kaiser ab und emigrierte ins niederländische Exil nach Doorn. Der preußische Hof wurde aufgelöst. Mit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung 1919 (Artikel 109, Absatz 3) wurde der Adel als eigener Stand abgeschafft.[10] Noch bis zum 1. Oktober 1928 bestanden in Preußen neben kommunal verwalteten Bezirken allerdings die sogenannten »Gutsbezirke« fort, in denen der Gutsherr qua Gesetz auch Oberhaupt der lokalen Selbstverwaltung war.[11] Außerdem nutzten die Gutsbesitzer seit dem 19. Jahrhundert ein besitzrechtliches Privileg, ihr Eigentum abzusichern, den sogenannten »Fideikommiss«.[12] Damit wurde das Gut zu einer rechtlichen Einheit zusammengefasst, das nicht verkauft, an verschiedene Erben weitergegeben oder mit Krediten belastet werden durfte.[13] Obwohl in der Weimarer Reichsverfassung festgeschrieben worden war, dass die Fideikommisse aufzulösen seien, zog sich dieser Prozess aufgrund von Protesten aus adligen Kreisen bis 1938 hin.[14]
Diese rechtlichen und politischen Veränderungen im 19. und im beginnenden 20. Jahrhunderts die von einer zunehmenden Industrialisierung und Modernisierung der Arbeits- und Produktionsprozesse in der Landwirtschaft begleitet waren, führten zu einem Wandel im Gutsdorf. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs machten sich hier aber immer noch vormoderne, feudale Herrschaftsbeziehungen bemerkbar. Zu diesen Überresten gehörte auch das Kirchenpatronat, mit dem für den Adel Privilegien und Herrschaftsrechte verbunden waren. Der adlige Kirchenpatron hatte das Recht, den protestantischen Pfarrer zu bestimmen, und verfügte damit über eine Möglichkeit, das soziale Gefüge des Dorfes zu beeinflussen und zu steuern. Gleichzeitig war der Gutsherr für die Renovierungsmaßnahmen an der Kirche zuständig. Das Patronat existierte in den Gutsdörfern bis 1945, obwohl in Preußen schon seit 1848/49 über seine Aufhebung diskutiert worden war.[15] Die landeskirchlichen Leitungsorgane hatten letztlich kein Interesse daran, die Patronate aufzulösen, vor allem weil der Patron die notwendigen Kirchensanierungen, die sogenannte »Baulast«, übernahm.
Trotz aller weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen blieb das preußische Gutsdorf noch während der Zeit des Nationalsozialismus bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein Ort, an dem die Gutsbesitzer und ihre Angestellten zusammen mit den Bauern und Handwerkern des Dorfes in einem klar geordneten Herrschaftsgefüge lebten. Bis zum Mai 1945 waren der Gutsbetrieb der dominierende Wirtschaftsfaktor und der Gutsherr die unangefochtene Respektsperson im Dorf. Die Gutsangestellten erlebten in diesem hierarchisch gegliederten Verhältnis Fürsorge und Schutz, aber auch Ausbeutung und Abhängigkeit. Dieser sogenannte Paternalismus beruhte auf persönlichen Autoritätsbeziehungen und konnte so die Gutsherrschaft als informelles, aber dennoch wirkungsmächtiges Strukturprinzip im Dorf bis 1945 stabilisieren und erhalten.[16]