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Die Erzählgemeinschaften von Adligen und Dorfbevölkerung
ОглавлениеIm Unterschied zu anderen Oral-History-Studien geht es in meinem Buch nicht um eine einzige Gruppe oder eine Generation, sondern um zwei unterschiedliche Erzählgemeinschaften.[41] Nach Albrecht Lehmann konstituiert sich eine Erzählgemeinschaft aus der Gemeinsamkeit des sozialen Erlebens in einer Familie oder in einem sozialen Milieu, in einem Dorf oder auch in einem städtischen Wohnmilieu.[42]
Adlige und Menschen im Dorf stehen sich als zwei voneinander getrennte Erzählgemeinschaften gegenüber.[43] Für die interviewten Adligen ist die Enteignung von 1945 ein zentrales Ereignis ihrer Familiengeschichte im 20. Jahrhundert.[44] Die Erinnerung an diese Erfahrung konnten die adligen Familien innerhalb ihrer spezifischen Sozialformation in der Zeit der Bundesrepublik weitergeben und sich innerhalb ihrer sozialen Gruppe darüber solidarisieren.[45] Mit dem materiellen Verlust des Eigentums und mit dem verlorenen Zugang zum früheren Gutsdorf waren für diese Familien die zentralen Ressourcen für Macht und Herrschaft verlorengegangen. Vor allem die Schlösser und Gutshäuser, die Kirchen und die Friedhöfe sind die zentralen Räume des Gutes, mit denen sich auf einer symbolischen Ebene die Zugehörigkeit zu einem generationenübergreifenden Familienverband verknüpft. Der Pflege der Familienerinnerung kommt für den Adel eine besondere Bedeutung zu, weil auf diese Weise die herausgehobene gesellschaftliche Position auch in Niedergangsprozessen, wie nach dem Ende der Monarchie 1918 und der Enteignung 1945, zumindest symbolisch gehalten werden kann.[46] Die Selbstwahrnehmung der Erzählgemeinschaft der adligen Rückkehrer ist charakterisiert durch den Bezug auf die eigene Familiengeschichte mit der Gutsherrschaft vor 1945, den Erlebnissen von Enteignung, Flucht und Vertreibung, der Zeit in der Bundesrepublik und vor allem auf das Ereignis der Rückkehr nach Brandenburg.
In den Deutungen der Leute aus dem Dorf und in ihrem Reden über die Adligen verbinden sich hingegen Anti-Junker-Ressentiments aus der Zeit der DDR mit Erwartungshaltungen an einen paternalistischen, fürsorglich agierenden Gutsherrn oder auch mit Kritik an westdeutschen Investoren in der Zeit der Wiedervereinigung. Zentrale Ereignisse in diesen Erzählungen sind die Enteignung, die Bodenreform, die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Umbruch von 1989/90. Die Erzählgemeinschaft der Dorfbevölkerung ist in sich heterogener als die der Adelsfamilien. Unter ihren Angehörigen dominiert eine Selbstwahrnehmung, die vor allem auf die DDR und die Erfahrung des Umbruchs von 1989/90 konzentriert ist. Aus diesen konträren Grunderfahrungen in beiden Gemeinschaften resultieren unterschiedliche Wahrnehmungen und Interessen, die sich auf die Aushandlungsprozesse im Dorf auswirken.