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Kapitel 8
ОглавлениеVöllig gelangweilt starrte sie auf den flimmernden Bildschirm des Laptops, der vor ihrer Nase stand. Seit ungefähr fünf Minuten hatte sie die Maus nicht mehr bewegt, keine der Tasten der Tastatur auch nur ansatzweise berührt, noch die Warnung bemerkt, dass der Akku nur noch fünf Prozent hatte. Den ganzen Vormittag über bis hin jetzt zum späten Nachmittag hatte sie damit zugebracht die geschossenen Fotos zuerst zu sortieren, sie auf den Computer zu spielen, sie zu bearbeiten, sie wieder den unterschiedlichen Namen zuzuordnen und bereits einige fertige Bilder auszudrucken. Insgesamt hatte dieses Prozedere mit Sicherheit fünf Stunden gedauert. Fünf Stunden in denen sie weder etwas gegessen noch getrunken hatte, sondern nur das Rauschen des Laptops gehört hatte und ihre Augen nichts anderes als Bilder von Hunden, Katzen, Meerschweinchen, Ratten und Gott weiß was sonst noch gesehen hatten. Heißt: Ihre Laune stand kurz vor dem Tiefpunkt. Sie war genervt, halb verhungert, ausgetrocknet und wollte nur noch Schlaf. Da war gar nicht daran zu denken, diese Stimmung auch nur im Geringsten zu verbergen.
Doch wie das grausame Schicksal es wollte, sollten ihre Nerven noch weiter gespannt werden – wenn sie in diesem Moment nicht sogar rissen -, denn plötzlich war der ganze Bildschirm nur noch schwarz. Vor Schreck rutschte ihr Kinn von ihrer Hand herunter, was sie so sehr überraschte, dass sie nicht rechtzeitig reagieren konnte und sie eben mit jenem Kinn auf die Tischkante schlug.
„Gottverdammte Scheiße.“ Fluchte sie, während sie sich das schmerzende Kinn rieb und versuchte mit der Maus den Laptop wieder zum Leben zu erwecken. Es war jedoch nicht, wie sie dachte nur der Bildschirmschoner, sondern die Tatsache, dass der Laptop aufgrund von Akkumangel ausgegangen war, leblos, ohne Energie. Als ihr dies bewusst wurde, wurde ihr noch eine ganze andere Sache klar: Da sie so dösig war alle Projekte, die sie bearbeitet hatte, offen zu lassen und nicht direkt nach der Bearbeitung abzuspeichern, hat sich ihre restlose Arbeit gerade zur Hälfte in Luft aufgelöst.
„Nein, tu mir das nicht an, bitte.“ Flehte sie das wie tote Gerät an, aber es geschah natürlich nichts. „Nein, nein, nein! Mist! Ich hasse es, ich hasse es!“ Verdammte sie sich selber, wegen ihrer permanenten Schusseligkeit.
Mit Wucht klappte sie die Klappe herunter, rutschte mit dem Schreibtischstuhl zum anderen Ende des Ateliers, welches nur einen kleinen Raum im ausgebauten Dachgeschoss des Hauses darstellte, um in ihren Terminkalender…in ihre Terminkalender zu schauen. Freilich sie hatte insgesamt vier Organizer. Zwei hier oben, wo sie den größten Teil ihrer Arbeit ausübte, einen in ihrer Handtasche und einen im Auto. Im Auto, weil sie ihre Handtasche gerne vergaß, zwei hier oben, weil sie einen immer gerne verlegte. Alle waren vollkommen identisch, das war ja der Witz an der Sache.
Nun jedenfalls hatte sie keine Termine mehr, die sie heute noch einhalten musste, dann würde sie die Mühen wohl oder übel noch mal über sich ergehen lassen müssen.
„So eine Zeitverschwendung.“ Stöhnte sie auf und rutschte wieder zurück, um den Laptop jetzt ans Stromnetz zu verbinden. Aber anstatt ihn darauf wieder anzustellen, stand sie auf und streckte sich. „Die Grundbedürfnisse eines Menschen gehen vor.“
Innerlich brodelte sie noch immer, der Gedanken allerdings an ein leckeres Focacciabrot, ein ligurisches Fladenbrot aus Hefeteig belegt mit Olivenöl, Salz und Oregano, lenkte sie davon ab. Ihr großer Bruder Christopher hatte sie ihr die letzten Tage vorbeigebracht, als verspätetes Einzugsgeschenk. Komischer Weise schenkte er zu jedem Anlass etwas zu Essen, war wohl irgendein Tick. Aber in diesem Fall war es sogar ein Treffer ins Schwarze gewesen. Ruby war keine begnadete Köchin. Nicht einmal diese Fähigkeit, die ihre Mutter wirklich perfekt beherrschte, hatte sie vererbt bekommen. Anscheinend hatte sie nur das Schlechte von ihren Eltern geerbt. Vielleicht hatte ihr Bruder David doch recht, mit dem was er früher immer gesagt hatte; dass sie adoptiert wurde. Sie hatte es ihm nie geglaubt, weil sie genauso wie alle anderen Cavillo-Kinder die dunklen Haare, den dunklen Teint und die Größe des Vaters hatte, aber bezogen auf den Charakter schien sie freilich anders zu sein. Ihrer Meinung nach im negativen Falle, was auch immer jeder ihrer Familienmitglieder meinte. Sie war und blieb eben das schwarze Schaf. Damit hatte sie sich abgefunden.
Sie drehte die beiden Knöpfe des Ofens, der glücklicherweise bereits angeschlossen war, sodass die Umluft aktiviert wurde und der Ofen auf zweihundert Grad erhitzt wurde. Jetzt musste sie nur noch sechs Minuten warten, bis sie in das schmackhafte, speichelanregende, saftige, mit einem unverkennbaren Geschmack bestücktes Brot beißen - ihr Magen begann laut zu knurren, wie ein halbverhungerter Bär. Wehmütig setzte sie sich im Schneidersitz vor den Ofen, um zu warten. Sich den wohligen Geschmack bereits vorstellen zu können, zu widerstehen irgendetwas anderes aus dem Kühlschrank zu nehmen und es willenlos in sich hineinzustopfen. Dabei konnte sie es sich sogar leisten zu schlemmen, aber diese Figur hatte sie auch nur aufgrund eiserner Disziplin, Stress und Sport. Bei ihrem Glück hatte sie die Anlagen ihrer Mutter geerbt, die sehr gerne aß, und zwar Deftiges, somit auch den dafür bekannten Körperumfang hatte. Wenn ein Cavillofamilienmitglied, vor allem die Frauen nicht aufpassten, quellten sie auf wie ein Hefepilz.
„Schneller…“ Maulte sie wurde jedoch gestört, denn ihre Haustürklingel ertönte. Im ersten Moment nahm sie das Geräusch erst gar nicht wahr, da sie ihre neue Türklingel erst zum zweiten oder dritten Mal gehört hatte. Das eine Mal, als sie die Einweihungsparty gegeben hatte, das andere Mal, als ihre Schwester zu Besuch gekommen war. Vielleicht war es einer ihrer Brüder, aber um diese Uhrzeit? Vor allem aus welchem Grund?
Obwohl es ihr etwas komisch vorkam, sprang sie mit einem Satz aus dem Schneidersitz auf, um die Tür zu öffnen. Mit ihrer für sie typischen Durcheinanderheit dachte sie nicht eine Sekunde daran aus dem Küchenfenster zu schauen, von dem aus sie die Einfahrt und dadurch das Besucherauto hätte sehen können. Sie war vielmehr damit beschäftigt sich einen Weg durch die immer noch verstreuten Kartons zu bahnen. Sie dachte darüber nach, dass, wenn es einer ihrer arschkriechenden Brüder war, er ihr direkt beim Aufräumen helfen konnte. Das Erstbeste wäre wohl die blaue Schutzfolie von der Tür abzureißen, die noch zu Hälfte an der Tür klebte und ihr nur einen verschwommenen Blick auf eine Gestalt durch den Spion werfen konnte.
Groß, gut gebaut, dunkle Haare, also doch einer ihrer Brüder. Vor Vorfreude drückte sie die Klinke herunter und riss die Tür auf. „Heeeey Brüderchen!“ Rief sie dabei aus, bemerkte aber dass es keiner ihrer Brüder war, als das Peinlichkeitsgefühl ihre Wangen bereits errötete.
Dennoch, obwohl der Spion zugeklebt war, hatte sie Recht behalten, dass ein gutaussehender, junger Mann vor ihrer Tür stand.
„Für wen auch immer Sie mich halten, ich möchte mich dennoch vorstellen. Ich bin Kommissar Jonas Drewes von der Kriminalpolizei und möchte mich hiermit für meinen späten Besuch entschuldigen.“
Sie starrte seinen Ausweis, den er demonstrativ in die Höhe hielt, konfus an. „Oh.“ Bekam sie schließlich einen Laut zustande, während sie den Blick vom dem Stück Papier noch in sein Gesicht wandern ließ. „Kriminalpolizei?“ Obwohl ihr Mund noch offen stand um etwas zu sagen, brachte sie kein weiteres Wort mehr heraus. Sie war von seinem Lächeln, das er an den Tag legte, wie gelähmt. „Richtig ich hätte einige Fragen an Sie, Frau Cavillo. Darf ich reinkommen?“
Ihr völlig verwirrter Kopf schaltete nur in kleinen Etappen. Da war Gedanke Nummer Eins: Warum? Gefolgt von Überlegung Nummer Zwei: Das Verschwinden von Mia-Sophie! Die dritte Eingebung - völlig fehl am Platze – war das Begehren: Dieser Mann zog sie bereits beim bloßen Anblick an, was absolut ungewöhnlich und selten war. Und zuletzt der vierte und letzte Geistesblitz: Sie konnte diesen Kommissar doch nicht in diese Unordnung einladen. Vollkommen überfordert mit der Situation, bemerkte sie nicht ansatzweise, dass er sich vorbei an ihr ins Haus gedrängt hatte. Erst als er meinte. „Sie scheinen ja gerade erst umgezogen zu sein.“, erwachte sie aus ihrer Trance und dackelte ihm mit hochrotem Kopf hinterher ins ‚Wohnzimmer’.
„Ja vor drei Wochen.“
„Drei Wochen?“ Es schwang etwas Verwunderung in seiner Stimme mit, aber er war so nett es vor ihr zu verbergen.
„Es ist noch etwas unaufgeräumt, ich hatte in geraumer Zeit nicht mit Besuch gerechnet.“
„Wenigstens ehrlich, aber sehen Sie mich nicht als Besuch an.“ Im Wohnzimmer hatte sich Jonas an die Fensterfront gestellt, die zum Garten hinausführte. Ruby stand einige Meter von ihm entfernt im Türrahmen zur Küche, die Hände unruhig hinter dem Rücken verschränkt.
“Ich hatte noch keine Zeit aufzuräumen, weil…“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen…“ Er wandte sich um, sah genau wie sie schnell ihren Blick von seiner Schusswaffe erhob. „…Sie haben es wunderschön hier, im Gegensatz zu meiner mickrigen Beamtenwohnung.“
Er grinste frech, ein freches Grinsen, weder zynisch noch anmaßend, eher jungenhaft und anziehend, welches ihr einen heißkalten Schauer über den Rücken jagte. Aus diesem Grund antwortete sie auch nichts auf seinen Einwand. Es entstand eine Pause. Eine von ihm gewollte Pause. Weil er wusste, dass sie diese Pause nicht wollte, da sie sie nicht ertrug.
„Was wollen Sie mich über Mia-Sophie fragen?“
„Wer ist Mia-Sophie?“ Jonas sah sie gespielt erstaunt an, was sie zum hektischen Zurückweichen brachte. „Ja, ich dachte Sie, dass Sie…dass Sie wegen dem Verschwinden von ihr zu mir gekommen sind.“
„Verschwinden?“
Ihr Stottern endete schließlich in einem verwirrten Schweigen, während sie nun mit verschränkten Armen dastand. Der Kommissar, der es außerordentlich gut verstand seine Gesten zu beherrschen, erhob eine Augenbraue und verschränkte ebenfalls die Arme.
„Ich weiß wirklich nicht wovon Sie sprechen.“ Er schüttelte den Kopf, gefolgt von einem vielsagenden Schulterzucken. Doch trotz seiner sehr bewussten Gesten fand Ruby letztlich doch ihre Fassung sowie große Klappe wieder.
„Gut, Herr Kommissar Drewes, was hat Sie dann hierher getrieben? Meine Wenigkeit, vielleicht?“ Er schmunzelte flüchtig.
„Nun Frau Cavillo, ich muss mich korrigieren, hierbei geht es um Mia-Sophie Seidel.“ Abrupt wurde er ernst. „Sie kannten sie?“ Fragte er und hatte auch ebenso geschwind einen Notizblock gezückt. Ruby schluckte und setzte sich vorsichtshalber auf einen der vier Esszimmerstühle, die vorerst noch aufgereiht an der Wand standen.
„Ja ich kenne sie.“
„Woher?“ Sie fixierte ihn mit ihrem Blick, mit einem Mal hatte sich seine ganze Körperhaltung verändert. Das zunächst lockere Verhalten war spurlos verschwunden, was sie selber dazu brachte alles aufmerksamer zu erfassen. Dennoch erfasste sie eben jene kalte Angst, die ihr den Rücken herunter lief, von gestern Abend.
„Wir haben uns bei dem Projekt ‚Young Adults’ kennengelernt. Wir hatten damals gemeinsam dort begonnen und uns dann ab und zu untereinander ausgetauscht.“
„Was hat es mit diesem Projekt auf sich?“
„Es ist ein Projekt das vor drei Jahren von einer Direktorin namens Greta Bolzmann ins Leben gerufen wurde. Sie war die Direktorin an der J.L. Gymnasium, die damit die erste Schule war, die dieses Projekt angewandt hatte. Da es sich auf bestimmte Art und Weise bewährt hat, haben einige anderen Schulen es auch übernommen. Nach meinem Kenntnisstand sind es jetzt um die fünf. Ich weiß nicht genau welche.“
„Sind die verschiedenen Schulen miteinander verbunden? Kooperieren sie sozusagen miteinander?“ Sie überlegte kurz. Hier und jetzt kam es ihr zugute, dass sie sich immerzu mit den Dingen beschäftigte, die sie anging. „Nein, jede Schule kann selber entscheiden wie die Gruppe aufgebaut und strukturiert wird, wer mitmachen darf, wie weit alles ausgebaut wird, welche Mittel zur Verfügung stehen und so weiter. Die unterschiedlichen Schulen arbeiten bei diesen Projekten nicht zusammen.“
„Warum?“ Sie wusste, dass er das fragen würde. Sie selbst hatte es sich schließlich auch schon gefragt. „Das habe ich auch noch nicht wirklich verstanden. Möglicherweise zu viele verschiedene Ansichten, wie mit diesem Problem umgegangen werden sollte.“
„Hat Ihre Schule bestimmte Anforderungen an die jungen Erwachsenen?“
„Ja ziemlich Strenge sogar, also meiner Meinung nach: Keinerlei Vorstrafen, nicht einmal ein Strafzettel wegen zu schnellem Fahren, einen klaren Schulabschluss, einen festen Wohnsitz, Angehörige, was bedeutet, dass man nicht vollkommen allein ist und man muss ebenfalls noch einen kleinen, nenne ich ihn mal ‚Einstellungstest’, bestehen.“
„Klingt sicher.“ Sein Hinterton war nicht zu überhören. „Und bei Mia-Sophie gab es dabei keine Probleme?“
„Sonst hätte sie niemals die Zulassung bekommen.“ Plötzlich kroch Ruby ein strenger, verbrannter Geruch in die Nase. Sofort kam es ihr in den Sinn woher. Ihr Essen! Ohne weiter auf den Kommissar zu achten, sprang sie von ihrem Stuhl auf und hastete in die Küche. Er hörte sie nur husten, aufgrund des scharfen Geruches, als er ihr in die Küche folgte und sie mit der Hand herumfächeln sah. Ruby fluchte ununterbrochen, ob er nun dastand oder nicht, sowohl auf Spanisch als auch auf Deutsch. Am Ende landete das vertrocknete, verkohlte Fladenbrot mit pfefferndem Wurf im Mülleimer.
„Ich hasse mein Leben!“ Motzte sie und setzte sich wie ein schmollendes Kind auf die Küchentheke. Zum Glück kam ihr in diesem Moment keiner mit den Worten: ‚Und du hast dein Leben auf der Reihe?’.
„Spanierin, hm?“ Sie nickte einzig und allein. „Halbspanierin, oder volles, temperamentvolles, spanisches Blut?“ Infolge ihres Schmollens – nennen wir es besser Selbstmitleid – bemerkte sie seinen wiederholten Umschwung nicht.
„Halbspanierin. Meine Mutter hatte damals einen Deutschen geheiratet, obwohl sie sehr fromm in solchen Sachen ist. Meine Eltern haben sich in Spanien kennengelernt und haben auch dort geheiratet und sind dann zusammen nach Deutschland gezogen. Es war die wahre Liebe.“
„Ach, dennoch dieses aufbrausende Naturell.“ Der Kommissar beobachtete sie mit wachen Augen, als sie, immer noch auf der Theke sitzend, mit geschmeidigen Bewegungen aus einem der Schränke eine Schachtel Kekse herausfischte. „Auch welche?“ Bot sie ihn mit vollem Mund an. Er verneinte dankend, verweisend auf seine Fitness, worauf sie nur die Schultern zuckte.
Nach einer kurzen Pause erkundigte er sich weiter über das Projekt. „Gab es eine bestimmte Anzahl an Teilnehmern die am Anfang des Projekts zugelassen waren?“ Auch wenn es ihr komisch vorkam, als ob er sich erst sammeln musste, um diese Frage zu stellen, antwortete sie ihm bereitwillig. „Erst mal nur fünfzehn, um in der Probezeit nicht zu übertreiben.“
„Wie viele hatten sich den beworben, wissen Sie das zufälligerweise?“ Durchgehend machte er sich Notizen auf einem Block; seine Schrift jedoch konnte sie auf Kopf nicht entziffern. Schon von Kindesalter an war sie chronisch neugierig und sie wusste auch von da an, wie sie mit gewissen Taktiken an die gewünschten Informationen kam.
„Mehr als dreißig, wenn ich mich nicht irre.“
„M-hm.“ Meinte der Kommissar nur knapp, um ihr danach einen tadelnden Blick zuzuwerfen, weil sie ständig auf sein Geschriebenes linste. Sie lächelte unschuldig.
„Was haben Sie als ‚Young Adult’ zu tun?“
„Alles.“
„Genauer.“ Einmal wollte sie Strenge in seiner Stimme hören. Innerlich lächelte sie, äußerlich zuckte keiner ihrer Muskeln.
„Das Problem der Kinder ist, dass sie Eltern haben, die sich nicht um sie kümmern. Das zweite Problem ist, dass diese Eltern nicht diese gewisse Grenze überschreiten um sie deswegen zur Rechenschaft zu ziehen. Da kommen die ‚Young Adults’ ins Spiel. Während die Justiz…“ Sie machte eine bildhafte Pause zum Atmen. „…völlig versagt, versuchen wir den Kindern zu helfen und ihnen eine sichere Zukunft zu sichern.“
„Sehr edel.“ Das verärgerte sie. „Es ist eine gute Sache. Außerdem erfordert es viel Kraft von den Verantwortlichen.“
„Ihr Schützling ist Lauren Winkler, richtig?“ Wechselte er das Thema offensichtlich.
„Ja genau.“
„Kannten sich Lauren und Charlotte von Langen, der Schützling von Mia-Sophie?“
„Sicherlich, jeder, der in das Projekt integriert ist, kennt auch die anderen. Wie eine Familie.“
„Wie eine Familie…“ Wiederholte er und änderte wieder das Thema. „Ist Ihnen aufgefallen, dass Mia-Sophie einige Tage verschwunden war, so in der Familie?“ Seine Andeutungen erfreuten sie nicht wirklich, das wusste er. Aber sie war auch gefasst genug um zu wissen, dass er das extra machte. „Was meinen Sie?“
„Das Verschwinden von Frau Seidel hat ein Ende. Sie ist aufgetaucht. Heute Morgen. Sie ist tot, Frau Cavillo. Ermordet.“ Der Keks der gerade zu ihrem Mund wandern wollte, hielt inne. Ihren Mund, den sie bereits geöffnet hatte, blieb noch kurz offen, dann schloss sie ihn um mit pochendem Herzen. Sie war völlig perplex.
„Es tut mir sehr leid um Ihre Freundin.“
„Ja…ja.“ Stammelte sie. „Aber das kann doch nicht sein.“ Unwillkürlich fasste sie sich an ihren Hals, erst dann versuchte sie sich wieder auf den Kommissar vor ihr zu konzentrieren. Nochmals fragte er nach, ob sie sich erinnern konnte, ob ihr das Fehlen von Mia-Sophie in der Gruppe aufgefallen war. Sie versuchte die letzten Tage irgendwie Revue passieren zu lassen und tatsächlich da war nie eine Erinnerung an Mia-Sophies Anwesenheit.
„Sie…Sie haben Recht, ich habe sie bestimmt schon einige Tage nicht mehr gesehen.“ Ruby konnte es kaum fassen, dass es augenscheinlich niemanden aufgefallen war. Und nun das!
„Können Sie sich erklären woran das gelegen haben kann?“ Unbeholfen rutschte sie von der Küchentheke herunter und bemühte sich mit zittrigen Händen die Keksdose zurückzustellen.
„Ich…ich kann es mir nur so erklären, dass es niemandem aufgefallen war, weil es nicht verpflichtend ist sich zu melden. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man länger von einem Mitglied nichts hört.“
„Wissen Sie ob sie Feinde hatte?“
„Ich kannte sie nicht so gut. Ich würde unsere Beziehung wie die von Kollegen bezeichnen.“
Dazu sagte er nichts. „Kam sie Ihnen irgendwann anders vor. Verschreckt, ängstlich?“
„Es ist schon länger her, aber nein. Bei den Besprechungen war sie wie immer.“
Er machte sich ein letztes Mal Notizen, dann erhob er sich abrupt. „Danke vorerst…“ meinte er im Gehen, „…wenn ich noch Fragen an Sie habe, werde ich mich melden. Wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt, rufen Sie mich an.“ Sie ging immer noch sehr wackelig auf den Beinen hinter ihm her und nahm seine Karte. Irgendwie kam ihr sein Abschied sehr abgehackt vor, aber ihre Gedanken waren gerade viel zu durcheinander, um über so etwas nachzudenken.
Mia-Sophie war ermordet worden.
Doch so einfach wollte sie ihn nicht gehen lassen, vorher wollte sie noch versuchen ein bisschen aus ihm rauszubekommen.
„Warum hat der Vorstand der Gemeinschaft nichts erfahren? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie niemand vermisst gemeldet hat.“
„Wer sagt denn, dass das nicht getan wurde?“
„Wie? Das hätten wir doch erfahren.“
„Wenn Sie mit ‚Wir’ die Mitglieder des Projekts meinen, würde ich anfangen mich zu fragen wie seriös diese kleine Selbsthilfegruppe wirklich ist.“ Sie runzelte die Stirn.
„Mia-Sophies Tod war kein normales Verbrechen, habe ich Recht oder habe ich Recht?“
„Das sollten Sie uns überlassen.“
„Weichen Sie mir nicht aus.“
„Passen Sie auf sich auf, Frau Cavillo.“ Entgegnete er mit einem Tonfall der sie in ihrem derzeitigen Hochmut gar nicht erfreute. „Das werde ich!“ Rief sie ihm nach, als er gerade an seinem Wagen ankam.
„Passen Sie auf sich auf…“ Wiederholte sie sauer. „…als ob ich ein kleines Dummchen bin, das mit der Realität nicht klarkommt.“ Sie schimpfte noch weiter, aber nach einiger Zeit verlor sich ihre Aufmüpfigkeit gegenüber dieser Begegnung etwas und sie verfiel in Gedanken.
Er hatte nicht eine Frage über Charlotte gestellt, aber wieso? War ihr auch etwas geschehen?