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Kapitel 5

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Bei ihrer Schwester Zuhause war es um einiges gemütlicher, als bei ihr. Vermutlich lag das an ihrer unaufgeräumten Behausung, die sie in nächster Zeit auch nicht aufräumen würde, aber auch daran, dass der Freund von Lex nicht daheim war. Sie hatte es ihrer Schwester noch nie gesagt, aber sie konnte den Kerl nicht ausstehen. Er war ein absolutes Arschloch und sie verstand nicht aus welchem Grund Lexie so blind war in seiner Gegenwart. Normalerweise hatte sie nämlich einen messerscharfen Menschenverstand, konnte jegliche Emotionen rasant erkennen und wusste Gesichtsausdrücke sowie sprachliche Ausdrücke zu deuten wie eine dafür ausgebildete Psychiaterin. Bei ihm allerdings traf das Sprichwort „Liebe macht blind“ vollkommen zu.

Dieses Bild hatte sie nicht immer von ihm, denn die ersten Wochen, die sie ihn kannte empfand sie ihn wie geschaffen für Lex. Er war charmant, gut aussehend, charismatisch und noch viele andere augenscheinlich positive Eigenschaften, die trotzdem allesamt von seiner Untreue übertroffen wurden. Ruby konnte nicht sagen, ob Nick ihre Schwester mit anderen Frauen betrog, sie konnte nur vermuten.

Angefangen hatte sie damit, nachdem Lexie ihren Freund auf Rubys einundzwanzigsten Geburtstag mitgebracht hatte und er es unglaublich interessant fand sie mit Alkohol abzufüllen. Wie dem auch sei, sich zu wehren war ihr schon nach zwei Drinks versagt und diese Chance nutzte er schamlos aus. Er war schuld, dass sich ihre Schwester und sie verkracht haben, wie sie es nie zuvor getan hatten. Während Ruby selber noch froh war relativ aufrecht stehen zu können, machte er sich an die kleine Schwester seiner Freundin ran. Aufgrund des Alkohols konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen und ließ sich von seinen Schmeicheleien und Komplimenten voll säuseln, was er so lange tat, bis er sie einfach küsste. Gedankenlos hatte sie mitgespielt, wahrscheinlich auch noch Schlimmeres, wenn Lexie sie nicht erwischt hätte. Aber anstatt ihrem Freund die Schuld zu geben, der die Situation damals so ausgesehen lassen hat, dass Ruby, betrunken wie sie war, sich über ihn hergemacht hatte, bekam sie die volle Wut von ihr ab. Es dauerte ganze vier Wochen, bis ihr Verhältnis wieder auf dem Stand von vorher war. Und dieser Wichser hatte sie diese vier Wochen über getröstet und ihr beigestanden, freilich auf seine Art und Weise.

Wenn sie noch heute darüber nachdachte, bekam sie diesen Drang ihn erwürgen zu wollen, aber bis jetzt ist er noch unangreifbar. Sie durfte seitdem nicht mehr in seine Nähe, sonst würde sie von Lex gnadenlos zerstört werden.

„Dir geht’s gut, nicht wahr?“ Ruby sah an sich selber herunter. Ihre Füße waren auf dem Couchtisch abgelegt, sie hatte eine Bierflasche in der Hand und die Schale voller Chips lag auf ihren hochgelegten Beinen. „Ja, ja doch mir geht es gut.“ Danach widmete sie sich wieder dem Fernseher, in dem die Spätnachrichten liefen. Sie hatte ihn irgendwann auf stumm gestellt, wusste aber nicht mehr wann und warum. Gerade als sie den Ton wieder anmachen wollte, setzte Lexie sich zu ihr und lehnte sich an ihre Schulter.

„Wann haben wir das letzte Mal einen Abend zusammen verbracht, nur wir beide?“ Ruby blickte in das Gesicht ihrer Schwester, die die Augen geschlossen hatte und die Beine an den Körper gezogen hatte.

„Ich weiß nicht, es ist schon länger her.“

„Ich hab’s vermisst.“ Es trat ein Lächeln auf die zarten Züge von Lex, die so schien, als ob sie gleich einschlafen würde.

„Ich auch.“ Es trat Stille ein. Keine betretene Stille, sondern eher eine Vertraute. Ruby kam es zwar komisch vor, aber diese Geborgenheit, ja sogar die Wärme an ihrer Seite, hatten ihr gefehlt. Lex war zwar nur vier Jahre älter, aber sie hatte immerzu über ihre kleine Schwester gewacht und für Ruby war sie, wenn man es so sagen durfte, die Wichtigste ihrer Geschwister. Sie hatte sie immer so sein lassen, wie sie wollte; ihr beigestanden. Diese Zweisamkeit war jetzt etwas was besser half als jegliche Worte, vor allem nach so einem Tag.

Auf eine Weise erinnerte es sie an ihre Verantwortung Lauren gegenüber, dass sie ebenfalls eine so führsorgliche ‚Schwester’ sein musste; für sie da sein musste, all jenes, was Lex ihr beigebracht hatte. Einmal genauso ein Vorbild wie sie zu sein.

„Lex?“

„Hm?“

„Ich war gerade nicht ganz ehrlich, ich möchte doch ganz gerne mit dir über etwas reden.“

Ihre Schwester atmete tief ein, kuschelte sich noch mehr an sie und murmelte leicht unverständlich. „Kann das warten, ich bin…ich bin so müde.“ Ruby wollte abermals ansetzen, ließ es allerdings, als sie bemerkte, dass Lexie eingeschlafen war. Ihr Atem ging regelmäßig und sie war mit einem zufriedenen Lächeln eingeschlafen.

Wie schmerzlich ihr klar wurde, dass sie ihre Schwester niemals verlieren wollte. Ein Leben ohne sie; undenkbar.

Sie konnte ihren Blick lange Zeit nicht von ihr losreißen, weil sie die Sehnsucht nach alten Zeiten einholte. Letztendlich erzählte sie ihr doch bruchstückhaft, was ihr auf der Seele brannte, doch ein kurzer, nur ganz kurzer Blick zum Fernseher herüber brachte sie in die harte Gegenwart zurück. Das Gerät zeigte ohne Ton ein Bild, das sie besser kannte als ihr in diesem Moment lieb war. Sie hörte zwar nicht, was der Nachrichtensprecher sagte, doch das Abbild der jungen Frau und dem darunter liegenden Wort, reichten vollkommen um ihr selber die Sprache zu verschlagen.

Ganz vorsichtig legte sie ihre Schwester so, dass diese an die Sofalehne gelehnt liegen blieb, um dann zur Fernbedienung zu greifen und den Ton auf ganz leiser Lautstärke anzuschalten.

Sie schluckte, als sie nur ganz vage vernahm, was der Moderator zu dem Bild unter dem „verschwunden“ stand zu sagen hatte: „Die vierundzwanzig jährige Mia-Sophie Seidel ist nun seit über zweiundsiebzig Stunden verschwunden. Sie ist weder zu ihrer regulären Arbeit als Bankangestellte aufgetaucht, noch weiß jemand wo sie stecken könnte. Laut der Polizei sei jegliche Kommunikation fehlgeschlagen, sie ist wie vom Erdboden verschwunden. Aufgrund der ungewöhnlichen Umstände stehen die örtlichen Polizisten vor einem Rätsel und erhoffen sich nun von der Gesellschaft Hinweise…“ Er berichtete noch mehr. Aber noch mehr wollte sie nicht hören. Ihr war schlecht geworden. Mia-Sophie Seidel, sie kannte sie, gewissermaßen waren sie sogar Freundinnen. Sie hatten sich bei dem Programm der Schule kennengelernt und wenn sie sich ehrlicher Weise zurückerinnerte, dann hatte sie sie seit knapp einer Woche nicht mehr gesehen. Verschwunden, unauffindbar, das konnte doch nicht wahr sein.

Erst nach einiger Zeit bemerkte sie, dass der Bericht längst vorbei war und sie zitternd da saß. Das war bestimmt alles nur ein Zufall; nichts davon, rein gar nichts, hatte etwas mit dem Zusammenhang von Mia mit dem Programm zu tun. Sie war schließlich eine schöne Frau, wahrscheinlich war der Täter irgendein Perverser, den sie schnell fassen würden.

So etwas kam oft vor.

Es schockte eben nur im ersten Moment. Wobei auch in den nächsten; wie würde das Team des Programms damit umgehen? Wie würde Mia-Sophies Schützling damit umgehen? Oh Gott, die Kleine war doch erst vierzehn. Ruby fasste sich fassungslos, willkürlich an die Kehle und schluckte.

Sie wollte nicht mehr daran denken, es war zu grausam. Es schnürte ihr geradezu die Luft zum Atmen ab. Das Ganze wollte ihr Kopf noch nicht als wahr wahrnehmen. Vielleicht ein Verbrechen, ganz in ihrer Nähe, an einer Person, die sie persönlich kannte. Auch wenn sie dagegen ankämpfte eine stille Angst erfüllte sie. Nicht daran denken wie diese Geschichte weitergeht, bloß nicht daran denken Ruby, ermahnte sie sich selber und schaltete ganz instinktiv den Fernseher aus.

Dunkelheit erfüllte den Raum so urplötzlich, dass sie zusammenzuckte. Draußen war es bereits dunkel geworden und bis auf den Fernseher hatte im Raum nichts Licht geworfen. Es war mit einem Mal stockduster. Dieses bekannte Gefühl beobachtet zu werden beschlich sie.

„Hier ist niemand, du bist doch verrückt.“ Flüsterte sie sich selber zu, rutschte etwas das Polster herunter, um sich dann wie eben eine kleine Schwester an ihre Schwester zu kuscheln, die keinen Mucks von sich gab. Wie ein kleines Kind, das freilich Angst vor einem Monster im Schrank hatte, kniff sie die Augen zu und versuchte dieses fürchterliche Gefühl loszuwerden.

Sie war allein, nur ihre Schwester neben ihr. Nur weil sie jetzt diesen Bericht gesehen hatte, musste sie nicht ihre jegliche Selbstbeherrschung verlieren, das wäre für den heutigen Tag freilich zu viel.

Ganz ruhig, Ruby, wiederholte sie immer wieder und wieder in Gedanken.

Ganz ruhig, Lex liegt genau neben dir.

Das wird sich ganz schnell regeln, du wirst sehen, morgen sieht die Welt schon wieder anders aus…

Menschlich

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