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Kapitel 11

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Die stehende Luft des späten Sommerabends kam herein, als Ruby die Schiebetür zur Terrasse öffnete. „Was machst du hier?“ Dem Mädchen war ganz deutlich anzusehen, dass sie überrascht war. Und verlegen, denn ihre Hände umklammerten den Riemen ihres Rucksacks, der über ihrer Schulter hing.

Dennoch kam sie sofort auf den Punkt. „Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“ Ruby legte die Stirn in Falten. Seit dem Ausraster im Café hatte sie nichts mehr von Lauren gehört und die neusten Ereignisse waren nicht gerade das, was sie für förderlich in ihrer Beziehung hielt.

„Was ist passiert?“

„Meine Mom hat mich rausgeworfen.“ Schnell sah Lauren auf den Boden und versuchte die knifflige Lage mit einem schüchternen Lächeln abzuschwächen. Doch das nahm Ruby ihr nicht ab, da sie ganz genau wusste, dass Lauren ganz sicher nicht unschuldig war. In der letzten Zeit hatte sich das Verhalten des Mädchens radikal verschlechtert.

Sie baute sich mit verschränkten Armen in der Tür auf. „Warum?“ „Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung.“

„Inwiefern denn?“

„Ist das denn so wichtig?“

„Ja ich denke schon.“ Sie durchbohrte Lauren förmlich mit ihrem Blick, was diese nervös werden ließ. Ihr gefiel es gar nicht, wenn Ruby nicht einfach sofort das tat, was sie von ihr verlangte. War das denn so schwer? Es musste doch nicht immer alles erklärt werden.

„Es war halt wie immer, ich habe mich mit ihr über den Alkohol gestritten und sie hat mich am Ende rausgeworfen.“

„Klar, dass du dann zu mir kommst.“

„Wohin soll ich denn sonst? Auf die Straße?“ Sie verstand Rubys Handeln nicht ganz. Normalerweise war sie immer auf ihrer Seite, ihr Nachfragen umfasste immer nur das Nötigste und sie gab sich mit dürftigen Antworten immer zufrieden, warum jetzt dieses lange Zögern? Außerdem sah sie vollkommen genervt aus und sauer, aber warum?

Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee gewesen hier her zu kommen, aber sie hatte keine andere Möglichkeit.

„Komm rein.“ Sagte Ruby letztendlich und lief voraus, keinen Gedanken daran verschwendend die Tür wieder zu schließen. Stattdessen ließ sie sich schwermütig auf die Couch fallen. Der vorausgegangene Adrenalinschock war wie weggeblasen und all jene Erinnerungen der zwei Tage fielen auf sie ein. Das allerdings konnte das Mädchen nicht ahnen. Sie setzte sich nur verwundert neben Ruby, die in der Zwischenzeit die Augen geschlossen hatte. Eine Stille entstand, in der sich Lauren verunsichert umschaute.

Zwar wusste sie, dass Ruby umgezogen war, aber in den drei Wochen hatte es nie die Chance gegeben sich das neue Heim anzusehen. Sie war überwältigt. Allein von dem Wohnzimmer, trotz des Chaos. Viel größer, gemütlicher als die Wohnung, in der Ruby zuvor gewohnt hatte. Vor allem viel, viel luxuriöser als das, was sie jemals bei sich zuhause kennengelernt hatte. Aber das Besondere war der künstlerische Hauch, den Ruby allem was sie in Angriff nahm, einverleibte.

Sie lebte schließlich mit ihrer Mutter in einer Zwei-Zimmerwohnung, die durch und durch nur das aller Nötigste enthielt, dies jedoch völlig alt und kaputt sowie dreckig war. Würde ihre Mutter nicht auf der Couch schlafen, hätte sie nicht einmal ein Bett.

Diese Wahrheit traf sie zutiefst.

Genauso wie die Erinnerungen, wie diese Armut, dieses Schicksal auf sie eingebrochen waren: es gab einmal ein Leben, die Zeit vor einem Jahr, wo noch alles im Reinen war. Damals war sie eine ganz normale Tochter, die mit ihren dreizehn Jahren in die Pubertät gekommen war, die ersten Erfahrungen des Teenageralters gemacht hatte, ein ganz gewöhnliches Kind mit Vater und Mutter, die sie liebten. Doch dann kam der Tag an dem sich alles änderte: es war ein Tag wie dieser, heiß, ein Sommertag, die Hitze verbrannte den Menschen auch noch die letzten Gehirnzellen. Der 16. Juli 2008 war einer dieser typischen Schicksalsschläge. Und dennoch ein Tag, der für die meisten einfach in den Statistiken unterging. Der irgendwann vergessen wurde. Lauren allerdings würde diesen Tag niemals aus ihrem Gedächtnis löschen können.

Ihr Vater war mit seinem Wagen auf dem Heimweg auf dem Neustadtring einer Straße auf der recht schneller Verkehr herrschte. Doch ein angetrunkener Raser erhöhte seine Geschwindigkeit bei einem riskanten Überholmanöver so sehr, dass er seinen Sportwagen nicht mehr unter Kontrolle hatte. Er kam ins Rudern, ihr Vater versuchte noch zu bremsen, auszuweichen. Doch der Wagen des Betrunkenen rammte ihn mit voller Wucht. Innerhalb von Sekunden kam der Kleinwagen ihres Vaters von der Fahrbahn ab und überschlug sich mehrmals. Übrig blieb ein einziges Wrack aus Metall mit einem blutenden Klumpen im Innenraum. Keiner der Helfer hatte es jemals gewagt eine Beschreibung dieses Anblickes über die Lippen zu bringen. Weder der Anrufer, der die schreckliche Nachricht überbracht hatte, noch die Polizisten die kurz darauf bei ihnen Zuhause, in jenen Tagen ein idyllisches Vorstadthaus, geklingelt hatten. Alle standen sie da, mit betrübten Gesichtern, leierten das herunter, was sie sagen mussten, versuchten ihre zusammenbrechende Mutter zu trösten.

Und am nächsten Tag? In den nächsten Tagen, Wochen, Monaten? Keiner war mehr da, der Fall wurde zu den Akten gelegt, wie jeder andere; ein Autounfall, wie jeder andere. Alles war falsches Spiel. Niemanden interessierte es, dass mit dem Tod ihres Vaters alles zerstört wurde. Er hatte keine Lebensversicherung abgeschlossen, weswegen das Geld sehr schnell knapp wurde. Ihre Mutter war seelisch nicht mehr zurechnungsfähig, hatte begonnen zu trinken. Ihre Großeltern waren schon Jahre zuvor gestorben, keiner ihrer Eltern hatte viele Bekannte. Wie gesagt, niemand interessierte sich oder half.

Sie wusste nicht wie lange sie so dagesessen hatte, über Vergangenes nachdenkend, doch plötzlich spürte sie, wie jemand ihre heißen Tränen sanft wegwischte.

„Hey, Kleines, was ist los?“ Es war Ruby, die näher an sie herangerutscht war und sie mit sorgenvollem Blick ansah. Lauren blinzelte und blickte ihr lange Zeit in die Augen. Möglicherweise gab es doch jemanden, der zumindest versuchte für sie da zu sein und um ihr in dieser schweren Zeit beizustehen. Aber sie war einst, als sie sozusagen zu dem Projekt gezwungen wurde, schon nicht überzeugt, dass eine Dreiundzwanzigjährige ihr helfen könnte.

Noch eingehender musterte sie Ruby mit ihrem verschwommen Blick, dabei atmete sie tief ein und aus. Sie war wohl alles was sie noch hatte. Sie vertraute ihr. Ruby würde alles für sie tun, das wusste sie.

Ihr wurde warm ums Herz, niemals, auf keinen Fall, wollte sie auch noch Ruby verlieren.

„Lass mich bitte nicht allein.“ Flüsterte sie mit erstickter Stimme und gab dem Drang nach sich einfach fallenzulassen. Sie sank in Rubys Arme, die beinahe überfordert begann über ihren Rücken zu streicheln und sie zu beruhigen.

„Das werde ich nie tun. Ich werde immer für dich da sein.“

„Versprich es mir.“ Forderte das Mädchen schluchzend. „Ich verspreche es dir, Süße.“ Behutsam nahm Ruby ihr Gesicht zwischen ihre Hände und lächelte sie warmherzig an. „Ich verspreche es.“ Wiederholte sie und küsste ihr auf die Stirn, so wie es eine gute Schwester zu pflegen hatte.

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