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Kapitel 2

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Dank ihrer Mutter war Ruby seit nun ungefähr drei Monaten mit einem Projekt einer Schule in ihrer Stadt beschäftigt. Es hieß ‚Young Adults’. Wie der Name schon versprach handelte es sich bei den glücklichen Projektteilnehmern um junge Erwachsene, die selber gerade erst aus der Schule gekommen waren. Deren Aufgabe war es sich um Jugendliche zu kümmern, die vom Leben gestraft waren und mit ihren ‚Schwestern’ beziehungsweise ‚Brüdern’ – wie die jungen Erwachsenen liebevoll genannt wurden – zu versuchen dennoch die richtige Bahn einzuschlagen. Meistens waren es Schicksale wie Eltern, die tranken, Väter, die vergewaltigten, Mütter, die überehrgeizig waren, Eltern, die nicht wussten, dass Kinder zu lieben waren. Die Variationen an schrecklichen Verhältnissen der Kinder waren übermäßig groß und obwohl vielen diese Umstände bewusst waren, konnten fast alle Straftaten der Eltern nicht nachgewiesen werden, weil die Kinder schwiegen, aufgrund von Angst oder aber auch, weil sie ihre eigenen Eltern nicht verraten wollten.

Bei solchen Problemen sollte das Projekt helfen. Die Jugendlichen bekamen weitere Bezugspersonen denen sie vertrauen konnten, mit denen sie die Welt erleben konnten, die ihnen helfen konnten, bei denen sie eine Zuflucht finden konnten, die sogar die Stellen der eigentlichen Eltern in manchen Fällen übernahmen.

Das Projekt lief noch nicht lange, doch schon jetzt waren bestimmte Erfolge nachzuweisen. Zum Beispiel hatte ein Mädchen sich ihrer ‚Schwester’ anvertraut, dass sie von ihrem eigenen Vater seit knapp drei Jahren angefasst wurde und die Polizei konnte genug Beweise finden um ihn mit ihrer Zeugenaussage hinter Gittern zu bringen. Seitdem lebte das Mädchen mit ihrer Mutter, die davor nichts davon geahnt hatte, in Bonn, da sie dort einen Neuanfang machen wollten. Kurz und bündig, sie war wieder glücklich und befreit.

Wie bereits erwähnt, war Rubys Mutter auf die Idee gekommen ihre Jüngste in das Projekt einzuschleusen, damit sie zur perfekten Hausfrau und Mutter heranreifte. Bis jetzt hatte Ruby es für sich behalten, dass dieses Projekt nicht viel mit mütterlichen Erfahrungen und Fähigkeiten zu tun hatte, sondern eher mit denen einer guten Freundin. Trotz dieser Erkenntnis direkt am Anfang, hatte sie zunächst Widerstand geleistet, aber hier und jetzt war sie beinahe stolz darauf helfen zu dürfen. Das Gefühl Verantwortung übernommen zu haben, für einen Menschen, der ihre Hilfe brauchte, schaffte es freilich sie etwas erwachsener darzustellen. Vielleicht hatte ihre Mutter es doch geschafft ihre widerspenstige Tochter in Sachen Zukunftsplanung etwas umzukrempeln. Normalerweise schaffte sie das nämlich nie; Ruby war im Grunde schon immer das schwarze Schaf der Familie.

Doch heute passte es ihr überhaupt nicht in den Kram sich mit einer übernervigen Lehrerin ihres Schützlings anlegen zu müssen, die sie heute Morgen angerufen hatte, damit sie zu einem Gespräch in die Schule kam. Angeblich sollte sich Lauren geweigert haben einen Fisch zu sezieren und da dies eine Verweigerung der schulischen Leistung war, musste ein Erziehungsberechtigter davon erfahren. Da nun aber Laurens Mutter wie immer nicht einmal ans Telefon ging – sie war eine Trinkerin, die schon längst vergessen hatte, dass sie eine Tochter hatte – musste Ruby nun den Kopf hinhalten. Es sollte nicht die schlimmste Begegnung sein, das Problem war nur, dass Ruby keine Zeit hatte, vor allem da sich Laurens Ärgernisse in letzter Zeit anhäuften. Sie hatte eigentlich gedacht, dass Lauren ein vernünftiges Mädchen war, die Chance auf eine trotzdem noch gute Zukunft wahrnahm, doch von Mal zu Mal veränderte sie sich. Sie wurde trotzig, zickig, ihre nette, schüchterne Art und Weise verwandelte sich in eine Ignoranz, die wehtun konnte wie ein Messerstich in die Brust. Ein Blick war bei ihr seit Neustem wahrlich tödlich.

Wahrscheinlich reichten die drei Monate noch lange nicht um dieses verzwickte Wesen richtig zu verstehen.

Sie seufzte, als sie an der Tür der Biologielehrerin ihres Schützlings klopfte um den Termin gerade eben noch wahrnehmen zu können. Sie trat hinein bevor sie überhaupt ein „Herein“ zu hören bekam. Das Erste was sie sah war die heute hellerstrahlende Sonne, die durch die zugezogenen Lamellen nur schwerlich durchdringen konnte. Schatten und Licht wechselten sich ab, was eine bedrückende Stimmung erzeugte.

Möglicherweise war es unhöflich, aber Höflichkeiten hatte sie für diese Frau nicht mehr übrig. Frau Schwarz machte aus den kleinsten Dinge, große, riesige, völlig unnötige Unannehmlichkeiten, die sowohl Lauren langsam auf die Nerven gingen, als auch Ruby. Wahrscheinlich wollte es der Zufall deswegen so, dass ihr arrogantes Gesicht nur in Schatten gehüllt war; der Name sagte alles.

Mit Heute hatte Schwarz sie schon das vierte Mal hier her ‚eingeladen‘, wie sie es pflegte jene Einladungen zu nennen. Nicht einmal ist etwas Sinnvolles bei den Gesprächen herausgekommen. Und ganz ungewöhnlich war, dass Lauren bei zwei von vier Fällen bestritt die Anschuldigen überhaupt gemacht zu haben. Aber was sollte man gegen verrückte Lehrer machen? Nichts, Ruby hörte es sich einfach stur an. Solange es nicht zu extrem wurde, würde sie nicht anfangen etwas gegen die Lehrerin zu unternehmen. Sie stand jedoch schon an ihren Grenzen, wie es diese Unhöflichkeit mehr als deutlich zeigte.

„Herein Frau Cavillo. Setzen Sie sich doch.“

„Gern. Was kann ich für Sie tun, Frau Schwarz?“ Ruby hatte sich wie erlaubt auf den Schreibtischstuhl vor dem Tisch gesetzt, neben Lauren, die mit verschränkten Armen da saß, ihr aber keines Blickes würdigte. Ihr war klar, dass Ruby ihr nicht in den Rücken fallen würde, dennoch war sie sauer auf ihre Lehrerin, die sie neuerdings terrorisierte ohne ersichtliche Gründe. Demonstrativ verdrehte sie die Augen.

„Ich wollte Sie nur über die neusten Ereignisse informieren, die in meinem Unterricht stattgefunden haben und Sie darum bitten ein intensives Gespräch mit Lauren zu führen.“

„Wenn Sie mir genau erzählen, was vorgefallen ist, werde ich das natürlich machen.“ Ruby kannte es von ihren Kunden, dass man, egal wie genervt, gestresst oder was auch immer war, seinen monotonen Geschäftstonfall nicht verlieren durfte. Dieser machte nämlich relativ unantastbar, was und wie man manches auch von sich gab. Sie lächelte sogar noch freundlich, obwohl sie genau in dem Gesicht der Biotussi erkennen konnte, wie angepisst sie von einer dreiundzwanzig Jährigen war, die die Aufgaben einer Mutter übernehmen sollte. Mit Sicherheit war sie eine Vertreterin der reichen Vorstadtfamilien, die ein vorbildhaftes Familienleben führten.

„In der heutigen Biologiestunde war es die Aufgabe der Schüler eine Forelle zu sezieren, Lauren hat sich jedoch geweigert das zu tun.“

„Hat sie dafür einen Grund genannt?“

„Sie sei sehr tierlieb.“

„Da kann ich nur zustimmen.“

„Es war nur ein Fisch.“

„Eine Forelle.“ Konterte Ruby immer noch im gleichen Tonfall, aber jetzt mit einem schmalen, gehässigen Grinsen. Schwarz verzog sichtlich die Lippen. Ihr war so deutlich anzusehen, wie wenig sie von dem neusten Projekt ihrer Direktion hielt. „Richtig. Das ist allerdings kein triftiger Grund die Arbeit zu verweigern.“

„Haben Sie nicht versucht das direkt vor Ort mit Lauren zu regeln?“

„Doch, aber das hat nicht funktioniert. Sie hat das Tablett mit dem toten Fi… mit der toten Forelle vom Tisch gefegt und ist schnurstracks aus meinem Klassenzimmer gerannt. Und bis jetzt hat sie sich noch nicht bei mir für dieses Verhalten entschuldigt.“

Es war ein indirekter Befehl, den ihr aber keine von beiden netterweise erfüllte. Stattdessen meinte Ruby. „Nun ich kann verstehen, dass die entstandene Unordnung und der Ungehorsam von Lauren Sie etwas auf die Palme gebracht haben, aber war es unbedingt nötig mich herzubestellen und dem Mädchen und mir zum wiederholten Male die Freizeit zu rauben?“ Jetzt hatte Ruby ebenso wie Lauren die Arme verschränkt und sich zurückgelehnt. Wenn diese hochnäsige Lehrerin ein Streitgespräch haben wollte, dann sollte sie es eben haben. Noch hatte sie die nötige Zeit dafür. Außerdem war sie heute irgendwie auf Streit aus.

„Es ist auch meine Freizeit, die hier zunichte gemacht wird und ja es hat mich sehr auf die Palme gebracht, weil Respektlosigkeit vor Lehrkräften nicht geduldet werden darf.“ Ihre Stimme ist scharf angeschwollen, was ihre rote Gesichtsfarbe unterstrich.

„Da gebe ich Ihnen Recht, es wundert mich nur, dass Ihnen diese Respektlosigkeit nur bei Lauren so deutlich auffällt und bei Ihren anderen Schülern nicht.“

„Wollen Sie mir vorwerfen ich würde meinen Beruf nicht richtig ausführen? Ich habe schließlich Pädagogik studiert.“

„Weder werfe ich Ihnen vor Ihren Job nicht richtig zu machen noch, dass Sie nicht studiert haben, es wundert mich nur.“

„Wissen Sie was? Das lasse ich mir nicht von Ihnen bieten. Das ist doch die Höhe, dass ich mir von irgendeiner dahergelaufenen Übergangsvertretungsmutti vorwerfen lassen muss, ich sei inkompetent.“

„Jetzt werden Sie aber beleidigend.“ Warf Ruby in den Rageanfall dazwischen. In der Zwischenzeit war Frau Schwarz aufgesprungen und wedelte mit ihren auffällig langen Fingern vor ihrer Nase herum.

„Ich werde mich demnächst direkt bei der Direktorin beschweren, wenn solch ein Vorfall sich wiederholen sollte. Dann können Sie sehen wie Ihr Schützling damit zu Recht kommt. Und jetzt gehen Sie bitte.“ Es gab zwei Möglichkeiten: Erstens dem Befehl nachzugeben und einfach zu gehen oder zweitens dem Drang nachzugeben dieser befehlerischen Kuh ordentlich die Meinung zu sagen.

„Ich dachte Sie wollen das hier und jetzt ausdiskutieren. Brauchen Sie dafür etwa die Hilfe Ihrer Vorgesetzten? Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ehrlich gesagt hätte ich mehr von Ihnen erwartet. Vier Mal war ich schon hier und nicht einmal haben Sie etwas so Sinnvolles gesagt, als das ich es verinnerlicht hätte. Ist das normal?“ Okay, möglicherweise hatte sie leicht übertrieben, aber da es jetzt schon zu spät war gab es kein Zurück mehr.

„Was haben Sie gerade eben gesagt?“

„Sie haben mich schon richtig verstanden.“

„Diese Frechheiten lasse ich mir nicht mehr bieten. Wenn Sie es so wollen, dann bekommt Lauren von nun an eine Extrabehandlung von mir.“

„Hey!“ Schaltete sich zum ersten Mal das Mädchen ein, die vorher nur stumme Zuschauerin war. „Ruby hat doch vollkommen Recht. Ich gebe zu, dass ich mich heute geweigert habe. Aber die Anschuldigungen ich würde Sie vor der ganzen Klasse bloßstellen oder Ihnen Beleidigungen an den Kopf werfen, stimmen nicht, das habe ich nie getan.“

„Das werden wir noch sehen, Kleines.“ Knurrte die Lehrerin, die es mit wilden Bewegungen geschafft hatte Ruby und Lauren zum Aufstehen zu bringen und sie bis zur Tür zu drängen. Wie eine Süchtige kramte sie sofort in ihrer Hosentasche herum, um die Zigaretten herauszuholen, sich nach dem Rauswurf zu betäuben und beruhigen zu können. Wie nach jedem Treffen zwischen ihr und Ruby.

„Nennen Sie mich nicht Kleines.“ Trotzte das Mädchen dem Ganzen, wurde dann aber von Ruby zurückgehalten. „Ich werde bei der Direktorin beantragen, dass Lauren in einen anderen Biologiekurs wechseln wird. Dann ist doch bestimmt jeder glücklich.“

„Sagen Sie mir den Termin, ich werde dabei sein.“ Die Worte bildeten in den meisten Fällen nur noch Zischlaute, dann knallte auch schon die Tür zu.

„Sie wird mir immer sympathischer.“ Die angespannten Züge des Mädchens entspannten sich ein wenig und sie brachte ein schwaches Lächeln zutage.

„Endlich hat ihr mal jemand ordentlich die Meinung gesagt.“

„Ich dachte du würdest sauer sein, ich habe mich die letzten Male immer zurückgehalten, um dir keine Probleme zu machen.“

Lauren zuckte die Schultern. „Nein ich bin nicht sauer. Es war nötig, irgendwie.“ Ruby legte ihr erleichtert den Arm um die Schultern und zog sie mit sich.

„Selbst wenn, du weißt doch wir haben sozusagen einen Freifahrtsschein bei deiner Direktorin. Sie mag die ‚Young Adults’ und deren Schützlinge mehr, als verhasste, zickige, etepetete Biotussis.“

Lauren lachte laut, als sie aus der großen Eingangstür nach draußen in die schwüle Hitze traten. „Oh ja.“

Wenn sich Ruby hier und jetzt nicht ganz arg irrte, dann war ihr erster Eindruck von der fünfzehnjährigen Lauren Winkler im Großen und Ganzen doch nicht ganz falsch gewesen. Es benötigte wohl nur die richtigen Mittel.

Menschlich

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