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Kapitel 3
ОглавлениеLaurens Mutter war schon heute Morgen zu betrunken gewesen, um überhaupt ans Telefon zu gehen, somit war es keine Frage mehr, wo das Mädchen den Freitag verbrachte. Ruby hatte ihr angeboten in dem neu eröffneten Starbucks eine kreative Kaffeezeit einzulegen, mit viel Spaß dabei die ganzen Kaffeegenießer dabei zu beobachten, wie sie ihren Kaffee auf unterschiedlichste Weisen schlürften. Manche mit ganz kurzen Schlucken, andere nach fünf Minuten Wartezeit in einem Zug und andere sogar mit einem Strohhalm. Es war wahrhaftig beeindruckend, wie ein Weltkonzern so viele unterschiedliche Gemüter auf einen Fleck konzentrieren konnte. Das fand Ruby schon bei McDonalds verdammt interessant. Sie fand es sogar so fesselnd, dass sie ihren Kaffee zu lange hat stehen lassen, sodass er nun eiskalt war. Darüber hinaus hatte sie auch ganz vergessen, dass Lauren ihr gegenüber saß und genüsslich die zwei riesigen Schockokekse verdrückte. Sie hatten nicht ein Wort miteinander gewechselt. Mit dieser Erkenntnis schob sie den kalten Kaffee leicht angewidert beiseite und verschränkte die Finger ineinander. „Es sind bald Ferien.“
„Ja ich weiß.“ Kam es nur knapp zurück, so als ob die Sommerferien, die von jedem Schüler benebelnd heraufbeschworen wurden, nichts Besonderes waren.
„Freust du dich nicht?“
„Doch natürlich.“
„Als ich noch kleiner war, da hat sich das noch etwas anders angehört. Hey…“ Sie stupste das Mädchen am Arm an und lächelte ihr entgegen, als sie aufsah. „…noch eineinhalb Wochen, dann bist du all diesen Stress für mehrere Woche los. Und die schräge Braut auch.“
Sie bekam ein Lächeln zurück. „Ja wahrscheinlich hast du Recht. Ich freu mich ja auch. Der Sommer ist was Schönes.“
„Das hört sich doch schon besser an.“ Es entstand wieder eine Pause des Schweigens, die Ruby als erste brach, da sie mit Stille in letzter Zeit gar nicht mehr klar kam. Eigentlich total banal, weil sie sich ihre Kindheit und Jugendzeit über immer so sehr Zeit für sich gewünscht hatte, aber dank ihrer vier Geschwister und ihren nervigen Eltern nie Zeit für sich hatte. Es war immer irgendetwas los gewesen in dem riesigen Farmerhaus, das die wohl fünf schrecklichsten Kinder dieser Stadt überlebt hatte. „Hat es dir geschmeckt?“
„Ja, Dankeschön.“ Entweder Lauren hatte heute gar keine Lust mit ihr zu sprechen, oder ihr schlug diese ganze Geschichte doch mehr auf den Magen, als sie vorher befürchtet hatte.
„Willst du über irgendetwas mit mir sprechen?“
„Es gibt nichts zu bereden.“ Laurens Augen verrieten sie sofort, genauso wie der hohle Unterton. „Ach nicht? Habe ich mich also geirrt? Ich irre mich ja immer.“
„Ja tust du.“
„Freilich. Gut, dann treffe ich abermals eine Fehlentscheidung und werde wohl mal wieder mit deiner Mutter reden müssen.“ Symbolisch lugte Ruby auf ihre Uhr, die kurz vor fünf Uhr zeigte. Ihre Kundin würde erst in knapp einer Stunde kommen. Die nötige Zeit hätte sie. Nur die Erlaubnis nicht. „Lass es bleiben, Ruby. Ich warne dich.“
„Wer will mich daran hindern? Deine Lehrerin habe ich auch geschafft.“
„Schwarz ist ein anderes Kaliber als meine Mutter. Du weißt doch bestimmt noch was das letzte Mal passiert ist, als du nur mit ihr reden wolltest.“ Oh ja, das würde sie so schnell nicht vergessen, obwohl sie ein verdammt miserables Gedächtnis hatte. Das Projekt war erst seit einem Monat angelaufen und sie hatte darauf bestanden Laurens Mutter einmal persönlich kennenzulernen, sowohl gegen den Rat der Direktorin als auch gegen den von Lauren. Wie immer war Laurens Mutter betrunken gewesen und hatte Ruby am Anfang gar nicht erst beachtet, sondern ihr Kind zur Schnecke gemacht, weil es vergessen hatte den Briefkasten zu leeren. Wie auch immer, sie hatte sich leicht zurückhaltend an sie gewandt und das erste was geschehen war, war, dass sie mit einem abschätzigen Blick begutachtet wurde und als hässliche Schlampe bezeichnet wurde, die hier nichts zu suchen hatte. Dank Rubys spanischen Temperaments, das vor allem bei ihr sehr ausgeprägt war, überreizte sie diese Anmerkung stark und es kam zu einem Wortgefecht. Das Wortgefecht jedoch entwickelte sich im Laufe der Zeit - mit Unterstützung des erhöhten Promillegehaltes der Mutter - zu einem Gefecht ohne Worte. Am Ende bekam Ruby nämlich beinahe die Schnapsfalsche gegen den Schädel gedonnert und wurde auf diese Art und Weise aus der Wohnung befördert und hatte Laurens Mutter seitdem nie wieder gesehen.
„Das würde nichts bringen und das weißt du.“
„Ich will nun mal helfen.“ Lauren seufzte laut und presste die Zähne aufeinander. Langsam hatte sie genug davon ewig auf ihren Problemen mit ihrer Mutter herumzukauen. Es war sowieso nur noch eine Frage der Zeit bis restlos alles den Bach herunterging.
Wie diese stinkende Bachforelle von heute Morgen; sie wollte gar nicht anfangen darüber nachzudenken.
„Ist es denn schon besser geworden?“ Am liebsten hätte sie Ruby mitten ins Gesicht sagen wollen, sie solle doch endlich leise sein, doch Rubys Sorge war echt und das rührte sie, sodass sie sich fügte. Tief im Inneren tat es gut zu reden. „Es wird nur noch schlimmer. Sie geht auch nicht mehr zu den Anonymen Alkoholikern. Was rede ich da, wenn sie sagte sie gehe zu der Selbsthilfegruppe war sie hundertprozentig in irgendeiner Kneipe und hat sich die Hucke voll gesoffen.“
„Hast du sie mal damit konfrontiert?“
„Ich bin Luft für sie geworden. Als ob ich gar nicht existieren würde. Sie guckt mich mit leeren Augen an und dreht sich wieder dem Fernseher zu. Dann schreie ich sie wie wild an, aber sie nuckelt nur weiter an ihrer Flasche wie ein kleines Baby.“ Lauren atmete tief ein und aus, als ob sie die aufrauschende Wut niederstrecken musste. „Wenn ich ihr die Flasche dann aus der Hand reißen will dann, dann wird sie plötzlich hellwach, kämpft um dieses Teufelszeug und schreit mich stattdessen an, ich soll doch zu meinem gottverdammten Vater kriechen.“
„Das kann doch nicht sein.“ Ruby war fassungslos. Sie hatte schon einige Geschichten gehört, konnte sich aber nie vorstellen, wie es im Alltagsleben aussah.
„Dabei ist er doch tot.“ Flüsterte Lauren, während sich ihr zorniges Gesicht abrupt änderte und sich ihre Augenbrauen nach oben bewegten. Auf der Stelle nahm Ruby ihre Hand in Ihre.
„Denk nicht über den Unfall nach, Süße. Wir machen das schon. Wir zusammen. Ich helfe dir bei allem.“ Lauren entwand sich ihr und stand starr auf. Sie war stark aber diese Stärke entwickelte sich aus rasenden Aggressionen, die sie die Tage über hinweg in sich hineinfraß. Irgendwann explodierte diese riesige Ansammlung, in den meisten Fällen allein zuhause im Bett und endete in einem Heulkrampf, doch heute sollte es anders sein. Heute sollte der trauernden Wut keine Grenzen gesetzt sein, heute sollte sie jemand zu spüren bekommen, der vielleicht nicht dafür verantwortlich war, der vielleicht sogar helfen wollte, der hier und jetzt aber in der richtigen Reichweite dafür war.
„Wie willst du mir helfen, Ruby? Sag mir das, wie? Indem du mit meiner Mutter versuchst zu reden, die nicht einmal ihrer eigenen Tochter zuhört? Deren Leben sie sofort für eine Flasche ihres Fusels verkaufen würde? Das ich nicht lache. Renn zu meiner Direktorin, renn zum Jugendamt, mach was du willst, diese ganzen Dreckskriecher interessiert es einen Scheiß, was mit Kindern wie mir passiert. Verluste gibt es immer, oder nicht? Seitdem mein Vater gestorben ist, ist auch mein Leben gestorben. Also fang nicht wieder an irgendwelche Reden zu schwingen. Mach es wie alle, ergötze dich an deinem wunderbaren Leben und vergiss mich einfach. Es ist einfach, versuch es mal.“ Es waren nicht nur die Worte, die sie trafen wie ein Stich mit glühendem Stahl ins Herz, sondern auch der Ernst, der in der Stimme des jungen Mädchens lag. Es brachte sie mit all ihren Sinnen um den Verstand. Sie konnte nichts dagegen unternehmen, sie bewegte, sie sagte, sie dachte rein gar nichts, als Lauren sich abgehackt umdrehte und sich einen Weg durch die baffen Gesichter bahnte.