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Kapitel 1
ОглавлениеSie hastete durch ihren Flur, die Holztreppe herauf, kreiste einmal durch den obigen Flur, stolperte dabei beinahe über die vielen Umzugskartons, rannte danach wieder herunter, den unteren Flur entlang ins Wohnzimmer und blieb dort abrupt stehen.
„Verdammte Scheiße, wo ist das bescheuerte Telefon?“ Fragte sie sich selber, bereits mit Hetzflecken am Hals. Das Telefon klingelte jetzt bereits zum zehnten Mal. Ein mit ihr sehr geduldiger Anrufer.
Enttäuschen tat sie ihn letztendlich doch nicht, da sie das schnurlose Telefon am Ende unter einem Haufen von Kleidungsstücken auf dem noch mit Folie bedeckten Couchtisch fand.
„Hier Cavillo.“ Antwortete sie hastig und strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihr war verdammt heiß geworden durch das unnötige Herumgerenne.
„Hier auch Cavillo. Was hast du wieder so lange getrieben, Schwesterchen?“ Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer um, das freilich noch überhaupt nicht zum Wohnen geeignet war.
„Nun es ist noch etwas unordentlich hier.“
„Hast du es noch immer nicht geschafft deinen Umzug zu vollenden, nach drei Wochen?“
„Mir hilft ja niemand von der ach so lieben Familie.“
„Das einzige Problem ist, dass du vollkommen unorganisiert und faul bist.“
„Sei einfach leise, Lukas. Wieso rufst du mich überhaupt an?“ Sie rupfte noch die halb zerrissene Folie von dem Sessel, ließ sie auf den Fußboden fallen und setze sich auf den nun freien Sessel. Danach legte sie ihre Beine auf den dazugehörigen Hocker, der raschelte, da auch dieser noch mit der Folie bedeckt war. Im Grunde war noch alles mit einer Schutzfolie bedeckt, alles was sie neu erstanden hatte.
„Ich will dich an den wöchentlichen Abend der Familie erinnern.“ Sie stöhnte auf und sprang wieder von dem Sessel auf, um dann zur Küche zu gehen und einen vergeblichen Blick in den leeren Kühlschrank zu werfen.
„Wie gerne ich auch etwas zu essen haben möchte, ich kann leider heute nicht mit der Familie zu Abendessen.“
„Du weißt, dass du an einem Freitagabend nichts anderes zu tun haben darfst.“ Sie lehnte sich an die Küchentheke und starrte auf die Wanduhr, die, wie ihr auffiel, schief von ihr angebracht wurde. Sie verzog die Lippen und nahm sich vor das später zu ändern.
„Ich muss arbeiten.“
„Deine Katzen mit Schleifchen und deine Hunde mit Ballettkleidchen können auch einen Abend auf dich verzichten.“ Damit meinte er so viel wie ihre eigentlichen Kunden. Sie war Tierfotografin und die meisten Herrchen, die sie mit ihren Haustieren besuchten, waren leicht verrückt angehauchte alte Damen, die ihre Tiere sehr gerne als Püppchen verkleideten. Natürlich hatte sie auch andere Kunden, die normale Tierfotos von ihren vierbeinigen Freunden haben wollte. Aber auch nicht nur von Hunden und Katzen sondern auch von exotischen Mitbewohnern, wie auch Außenaufträge bei denen edle Pferde in der Poesie ihrer Bewegung fotografiert werden sollte.
Wenn sie ehrlich sein musste, dann waren ihr die Motive zum großen Teil relativ gleich, es ging ihr immer und überall nur um den Verdienst. Dieses Haus konnte sie sich auch nur leisten, weil sie jede gottverdammte Minute gearbeitet hatte, ihren Terminkalender bis zum Platzen gefüllt hatte, sich mit jedem noch so schlimmen, arroganten, mit viel zu vielen Extrawünschen bestückten Kunden auseinandergesetzt hatte und - nun ja sie musste ehrlich sein, wegen einem Funken Glück. Wahrscheinlich ist es vorstellbar, dass ihr Gebiet nicht immer das größte Geld abwarf, doch neuerdings war sie freilich sehr berühmt.
Vor ungefähr einem Jahr hatte sie sich dazu durchgerungen ein eigenes Fotostudio für Tiere zu eröffnen, das sie „Pets Memories“ nannte. Damals hätte sie nicht einmal von solch einem Erfolg geträumt. Aber es war nun mal ihr Kindheitstraum Tiere zu fotografieren. Der Durchbruch kam, als sie eine Kundin hatte, die drei schneeweiße Pudel namens Fluffy, Puffy und Schnuffy hatte. Sie war so begeistert von ihrer Arbeit, dass sie die Fotos ihrer Hunde in der Zeitschrift „Doggies“, die ihr gehörte, veröffentlicht hatte. Da war der Zeitpunkt gekommen an dem ihre Karriere steil nach oben ging, denn jede von Hansens Freundinnen kamen zu ihr, die Bekannten von diesen, die Bekannten von den Bekannten und jegliche Herrchen und Frauchen, die die Zeitschrift lasen.
Wie auch immer jetzt konnte sie nicht anfangen sich auszuruhen, sondern musste im Grunde doppelt so viel Mühe in ihr Studio stecken. Eine Belohnung hatte sie sich außerdem schon mit diesem kleinen Haus am Stadtrand mitten in einem kleinen Waldstück, samt einem kleinen Garten gemacht.
Das musste genug sein, oder nicht?
Während sie so darüber nachdachte, bemerkte sie gar nicht, dass ihr Bruder einen weiteren Versuch gestartet hatte sie zum heutigen Abendessen mit der Familie zu bewegen.
„Es gibt heute Abend selbstgemachte Pizza.“ Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, als ihr die Bilder von ihrem leeren Kühlschrank und den wunderbaren Kochkünsten ihrer Mutter vor Augen schwebten.
„Die Kundin ist wichtig. Frau Schneider kann nur heute mit ihrem Sammy in mein Studio kommen.“
„Ruby, die Familie geht vor. Jedes Familienmitglied schafft es Freitagabends freizuhaben, nur du nicht.“
„Stell dir doch mal vor, für ein gutes Bild von ihrem Hund will sie mir bis zu über hundert Euro geben.“
„Du geldgieriges, egoistisches Miststück.“
„Ach Lukas, du kennst mich doch noch am besten. Aber ich muss jetzt auch auflegen, ich muss noch etwas anderes erledigen.“
„Du wirst jetzt nicht auflegen. Erst wenn du mir versprochen hast es heute Abend zumindest zu versuchen.“
„Das kann ich nicht.“
„Du würdest es sowieso brechen, von daher.“
„Sei doch nicht so melodramatisch, Lukas!“
„Ich will nur meine kleine Schwester nicht vermissen wollen.“ Seine Stimme war so todernst, dass sie es als süß empfand. „Oh Lukas, danke, aber heute geht es wirklich gar nicht.“
„Versprich es mir, Ruby. Bitte.“
Sie stand noch immer in der Küche, ging aber in den anliegenden Flur um ihren Terminkalender zu suchen. Diesen fand sie ungewöhnlich schnell in ihrer Handtasche, die eigentlich die kreativste Unordnung der ganzen Welt war.
„Was hältst du davon wenn ich gegen neun Uhr da bin?“
„Dann wärest du eine Stunde zu spät, das geht auch nicht.“
Sie verdrehte die Augen und ließ den Kalender wieder zurück in die schwarze, riesige Tasche fallen. „Willst du mich verarschen?“
„Du weißt, dass Mutter dich auseinander nehmen würde, wegen deiner endlosen Aufmüpfigkeit.“ Danach hob sie sie auf und ging mit ihr herüber zu den Kartons in denen sie ihre Jacke verstaut hatte. Zumindest glaubte sie das, denn die meisten Kisten waren nicht beschriftet – gut keine.
„Sie soll sich nicht so anstellen.“
„Sie ist noch sauer, weil ihr jüngstes Kind letzten Freitag schon nicht da war.“
„Erstens hatte ich keine Zeit, weil…das ist irrelevant und zweitens – du kannst es mir nicht verübeln, wenn ich nicht so gerne komme.“
„Ruby, sie liebt dich auch.“
„Natürlich liebt sie mich, das weiß ich auch.“ Zu dieser Zeit hatte sie bereits zwei Kisten durchwühlt, in denen sie jedoch nicht die Jacke fand, die sie jetzt unbedingt haben wollte. „Scheiße!“ Fluchte sie und trat gegen eine der Kisten, die sich sofort eindellte.
„Trotzdem schikaniert sie mich jeden Freitag aufs Neue.“ Bemerkte sie, nachdem sie sich dazu entschlossen hatte ohne Jacke zu gehen.
„Das macht sie nur, weil sie das Beste für dich will.“
„Ich weiß selber was das Beste für mich ist. Und weißt du, was das Beste für dich wäre?“
„Nein.“
„Mich Auflegen zu lassen.“
„Du willst mich abwimmeln?“
„Richtig.“ Sie tastete mit ihrer linken Hand ihre Hosentaschen nach dem Autoschlüssel ab, fand sie glücklicherweise auch sofort in einer der Gesäßtaschen.
„Versprich es mir endlich.“
„Gott du nervst.“ Sie öffnete die Haustür des alten Backsteingebäudes und trat in die frische Sommerluft. Ein schöner Tag zum Fahrradfahren, dachte sie sich, doch ihr Fahrrad hatte sie im Keller der alten Wohnung aus ihr unbestimmten Gründen nicht wieder gefunden.
„Das ist wohl oder übel meine Absicht.“
„Arschkriecher, mit Sicherheit hat dich Mutter geschickt.“ Er schwieg kurz, was für sie Antwort genug war. „Und dann wagst du es mich anzurufen und mich anzubetteln?“
„Ich bettle nicht, ich argumentiere.“ Die Tür fiel durch einen starken Windzug hinter ihr ins Schloss. Es polterte laut und sie zuckte zusammen. Erst da fiel ihr auf, dass ihr etwas fehlte und, dass sie ein Ding zu viel dabeihatte.
„Ich muss jetzt Schluss machen, wenn ich es schaffe komme ich. Wenn du damit nicht zufrieden bist, hast du Pech.“
„Du hast Pech, weil du die Familie nicht siehst.“ Sie drückte nun schon angesäuert gegen die Tür, während sie das Telefon, welches nach drinnen gehörte, noch am Ohr hatte, fehlte ihr der Haustürschlüssel, der eigentlich hier draußen sein sollte. Sie zischte einen Fluch aus und ließ ihre sich aufstauende Wut an ihrem Bruder aus. „Es ist mir gerade absolut gleichgültig, ob ich euch alle sehe oder nicht. Ich bin jetzt erwachsen, ich übernehme mein Leben selber. Auch wenn ihr es alle nicht für möglich gehalten habt, die Jüngste hat sich ein eigenes Leben aufgebaut, mit einem eigenen kleinen Haus, einem Job und vielen, vielen Aufgaben, die Vorrang haben. Und jetzt spare dir bitte deine restlichen Argumente.“
Sie legte ohne weiteres auf, drückte abermals gegen die Tür, die sich nicht einen Zentimeter bewegte, um dann in ihren Wagen zu steigen.
Das Telefon, das blinkte, warf sie ohne es noch zu beachten, oder gar ein schlechtes Gewissen zu bekommen, auf den Beifahrersitz. War sie eben ungehorsam.