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Kapitel 17
ОглавлениеRuby saß leicht konsterniert hinter dem Steuer, der Motor lief noch. Wenn sie an den Ausdruck in den Augen von Cornelia zurückdachte bekam sie noch immer weiche Knie. Bestimmt war die Fantasie mit der Mutter durchgegangen; das war die einzig plausible Erklärung, die sie auf der Autofahrt hierher gefunden hatte. Alles andere wäre doch völlig banal. Einer Frau, die selbst im größten Rausch noch fast fehlerfrei sprechen konnte, zu glauben, dass sie weiß, wie es ihrem Kind geht, das sonst normalerweise nur Luft für sie war, wäre doch der absolute Irrsinn.
Sie lachte über sich selber, während sie den Schlüssel umdrehte und die Tür aufstieß, weil sie die ganze Zeit über diesen Vorfall nachdenken musste. Es war an der Zeit diesen Zwischenfall zu vergessen und sich wieder auf ihre Probleme zu konzentrieren – sie wusste das würde sie sowieso nicht schaffen. Dennoch hatte dieses Ereignis ihr viel kostbare Zeit gestohlen, die sie für die Suche nach Lauren gut gebraucht hätte. Nun war es nämlich schon kurz vor halb acht; sie kam womöglich selbst noch zu spät und von dem Mädchen gab es keine Spur.
Seufzend warf sie die Fahrertür zu und wollte sich gar nicht ausmalen, wie peinlich es werden würde, wenn sie mal wieder die einzige ohne Schützling war. Während sie, darüber nachdenkend, dass jemand einen chronischen Schulschwänzer behüten musste und dabei Hoffnung schöpfte, über den Schulparkplatz schlenderte, bemerkte sie erst im letzten Moment, als sie gerade um die Ecke bog, dass ihre Suche ein Ende hatte. Ganz schnell huschte sie hinter die Kante zurück um sich zu verstecken. Denn, als sie einen zweiten vorsichtigen Blick wagte, wollte sie kaum fassen, wen sie da zusammen mit Lauren stehen sah.
Sie hielt sogar instinktiv die Luft an, während sie versuchte zu lauschen was Lauren mit Charlotte, die mit gleicher Größe und Statur neben ihr stand, und der Person, die sie nicht direkt erkannte, weil die Kinder sie verdeckten, zu besprechen hatten. Leider verstand sie nichts, dafür war sie zu weit entfernt. Doch an der Körpersprache und der Tatsache, dass Charlotte hier aufgetaucht war und eher außer sich war, als zutiefst geknickt, wusste sie unwillkürlich, dass diese Personengruppe nicht ohne einen besonderen Grund zusammengekommen war.
Doch wer war die dritte Person? Sie konnte sie noch immer nicht richtig erkennen.
Mit viel Mut beugte sie sich etwas vor um den Zwischenraum zwischen den Mädchen auszunutzen und endlich das Gesicht der Frau zu erhaschen. Beinahe murrte sie auf, als sie sofort erkannte wer sie war.
Es war Laurens Biologielehrerin Frau Schwarz.
Sie unterhielt sich so angespannt und aufgeregt mit den beiden Mädchen, die Ruby hier am wenigsten erwartet hatte.
Aber warum? Hätte sie nicht schon längst in der Aula sein müssen, als Mitglied im Vorstand der ‚Young Adults’? Weshalb nahm sie die Gefahr in Kauf, Ärger mit der Direktorin zu bekommen, nur um gerade mit den beiden zu sprechen? Heimlich?
Gut mit Charlotte mochte sie sprechen um sie zu beruhigen, sie vorzubereiten, dem Mädchen ihr Beileid auszusprechen oder was auch immer, aber Lauren würde lieber gevierteilt werden, als freiwillig mit dieser Persönlichkeit zu reden. Oder natürlich sie hatte irgendetwas angestellt und wurde mal wieder zur Rechenschaft gezogen.
Allerdings waren ihr dann immer noch diese Konstellation und die deutlich nervöse sowie entrüstete Körpersprache ein Rätsel. Die Drei diskutierten miteinander; die Lehrerin knöpfte sich nicht jede einzeln vor.
Mit einem tiefen Durchatmen lehnte sie sich an die Hauswand, fürs erste hatte sie genug gesehen. Zwar hatte sie keine Ahnung, was die zwei Jugendlichen mit einer Lehrerin, die nach ihrem Wissensstande niemand leiden konnte, zu besprechen hatten, oder aber nach dem Vorfall mit Laurens Mutter vor wenigen Minuten spielte ihr Kopf ihr einige Streiche. Sie lächelte in sich hinein; langsam begann die Paranoia. Ganz bestimmt gab es auch hierfür genug Erklärungen, die vollkommen normal waren.
Überraschend hörte sie ein Lachen, das von dem Grüppchen hinter der Ecke kam. Zwar konnte sie nicht genau sagen ob es nur die Kinder waren oder auch die Lehrerin. Ach verdammt, dachte sie sich, was sollte das? Sie würde jetzt einfach ganz gewöhnlich daher wandern und sich nichts anmerken lassen. Kurzerhand drückte sie sich nach dieser Entscheidung von ihrer Wand ab und eilte um die sichere Ecke herum und wurde sogleich sofort wieder gestoppt. Beinahe wäre sie gegen ihren eigenen Schützling geknallt, die sie fast unfassbar anstarrte.
„Ruby? Was machst du denn hier?“ Ganz unweigerlich rückte das Mädchen von Ruby zurück, die gerade sichtlich damit beschäftigt war ihr Herzrasen zu unterbrechen.
„Das könnte ich eher dich fragen.“ Brachte sie schließlich hervor und versuchte etwas souveräner auszusehen, indem sie die Arme vor der Brust verschränkte.
„Nun ich gehe hier zur Schule.“ Lauren grinste und Rubys Warnglocken erloschen abrupt und sie fühlte sich abermals vollkommen dämlich und leicht wahnhaft. Es war wahrhaftig Zeit für Urlaub.
„Ja das stimmt. Trotzdem habe ich dich heute Morgen gesucht. Warum bist du nicht an dein Telefon gegangen oder hast auf meine Sms geantwortet?“
„Du weißt, dass ich es immer auf stumm schalte und ich habe kein Geld mehr auf dem Handy.“
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Vor allem nach deinem Abgang am Sonntag. Ab jetzt wirst du das Handy nicht mehr auf lautlos lassen.“
„Wie du meinst.“
„Was sollte das am Sonntag überhaupt?“ Im ersten Moment zuckte Lauren nur mit den Schultern und sah sich nach hinten hin um. „Ich war geschockt und bin wohl ein wenig durchgedreht.“
„Du hättest nicht weglaufen dürfen oder dich zumindest melden können, dann hätte ich heute nicht so einen Stress gehabt.“
„Wieso Stress?“ Ruby atmete schwer aus, sie wusste, dass Lauren das, was sie nun sagte, nicht wirklich gefallen würde. „Ich habe dich gesucht, weil wir alle zu dieser Besprechung müssen und deshalb war ich bei deiner Mutter.“
Unerwarteter Weise lachte das Mädchen nur matt. „Ja diesen Stress hast du dir selbst eingebrockt. Ich hoffe sie hat dir nichts angetan.“ Kurz dachte Ruby an die Unterhaltung mit Cornelia zurück, wie sie da stand und sie schier angefleht hatte ihr zu glauben.
„Nein, diesmal nicht. Ich bin schnell gegangen, nachdem ich bemerkt habe, dass du nicht da warst. Wo warst du die Nacht eigentlich?“
„Hab bei einer Freundin geschlafen. Also nichts passiert, mir geht es gut und können wir jetzt in die Aula gehen? Es ist schon zwanzig vor.“ Ungläubig blickte Ruby auf ihre Armbanduhr, dann wieder zu Lauren, die sie leicht amüsiert an schmunzelte. Mit einer Geste Richtung Hintereingang des Hauptgebäudes setzten sie sich in Bewegung, um überhaupt noch den Termin wahrzunehmen.
„Demzufolge wusstest du von dem Treffen und ich hätte dich gar nicht suchen müssen?“ Fragte Ruby weiter auf dem Weg nach ganz oben in die dritte Etage in der die große Aula der Schule angelegt war. Sie wurde im Grunde nur für festliche Veranstaltungen der Jugendlichen beziehungsweise gewisse Konsultationen der Eltern benötigt. Deswegen war sie auch riesig und die wenigen Mitglieder, mit allen eine Zahl von fünfunddreißig, wirkten in ihr etwas verloren.
„Ich hab es bei Ramona mitbekommen. Und da du mir ja nie vertraust…“
„In den letzten Wochen hast du mir genug Gründe dafür gegeben, schon vergessen?“
„Das hier ist etwas ganz anderes und kein dämlicher Unterricht. Hierbei geht es um etwas viel Wichtigeres. Charlotte geht es sehr schlecht. Hoffentlich ist es nicht irgendeine Schau, die zur Besänftigung der Gesellschaft gedacht ist.“ Lauren schnaubte und stieß die Tür zum Treppenhaus auf.
Jedes Mal wieder war Ruby davon überrascht wie rational, realistisch und wirklichkeitsnah die Fünfzehnjährige bereits dachte. Zugegeben wirkte es oft pessimistisch auf sie und vielleicht etwas zu reif für ihr Alter, aber anscheinend wirkten sich schlechte Erlebnisse sehr schnell auf das Denken eines Menschen aus. Zu jeder Zeit, an jedem Ort war ein Mensch abhängig von seiner Umgebung und wurde von ihr beeinflusst.
„Hast du mit Charlotte bereits gesprochen?“ Erst jetzt wurde Ruby klar wie wenig sie darüber wusste, wie sich ihr Schützling mit den anderen verstand. Waren die beiden Freunde? Sie und Mia-Sophie haben sich nämlich nur flüchtig gekannt. Verflucht sie konnte überhaupt nicht sagen, was Lauren in ihrer Freizeit machte; sie hatte sich nie damit beschäftigt.
„Sie… sie, wie soll ich sagen, Ruby. Ihre beste Freundin ist ermordet worden.“ Wie ein Stich bohrte es sich in ihre Brust, als sie den strafenden Blick von Lauren zugeworfen bekam. Anscheinend hatte sie irgendwelche Vorwürfe gegenüber ihr und wollte jetzt kurz vor der Aulatür nicht weiter mit ihr über dieses Thema sprechen. Stattdessen stieß sie hart die große Tür auf und trat ohne Manieren in die Runde, die bereits mitten in der Besprechung war.
„Oh, dann haben sich die letzten auch endlich eingefunden.“ Die Direktorin, die mit dem Vorstand, der aus vier weiteren Lehrern bestand, vor den anderen Mitgliedern saß, schüttelte bedeutend den Kopf und deutete danach auf die letzten zwei freien Plätzen. Auf dem Weg dorthin fühlte sich Ruby verdammt noch mal extrem beobachtet, aber am meisten wunderte sie sich über den Anblick von der Biolehrerin Schwarz, die gerade selber noch unten war. Weder wirkte sie sauer, angewidert wie sonst, gar boshaft, noch wirkte sie gleichgültig, eher starrte sie Ruby unheimlich freundlich an. Ach mit Sicherheit war sie nur in Gedanken und grinste deswegen so dämlich vor sich hin, jeder beobachtete sie hier schließlich, alle mit anderen Gedanken; sie war ja auch selbst Schuld.
Hör auf zu denken und konzentriere dich, mahnte sie sich selber und setzte sich am Ende räuspernd auf ihren Platz neben Lauren, die das alles vollkommen kalt ließ.
„Ich werde das Wichtigste am Ende noch einmal zusammenfassen, damit ich jetzt nicht noch einmal von vorne anfangen muss.“ Leitete die Direktorin, die fürs Reden aufgestanden war, ein. „Wir sollten uns einige Vorschläge anhören, wie wir mit dieser schrecklichen Situation umgehen sollen. Es dauert nicht mehr lange, dann haben die Kinder Ferien, einige von den Betroffenen werden danach sogar noch die Schule wechseln. Davor müssen wir auf jeden Fall, egal was kommt, alles tun, um mit den Kindern zusammen ein Konzept zu entwickeln um ihnen zu helfen. Ich gehe davon aus, dass das jeder von den hier Anwesenden auch so sieht.“ Mit einem Ohr schaltete Ruby ab und sah sich lieber in der Runde um. Nicht eher als jetzt bemerkte sie, wie Wenige sie von ihren ‚Mitschwestern’ und ‚Mitbrüdern’ persönlich kannte. Natürlich vom Sehen und vom Grüßen, aber mit nur einer kleinen Anzahl von ihnen hat sie jemals ein Wort gewechselt. Wie dachten sie über dieses grausame Ereignis? Wie handhabten sie die Probleme ihrer Schützlinge? Wie beurteilen sie dieses Projekt? Waren sie all die, wie sie sich gaben, oder waren sie ganz andere? Konnte man ihnen vertrauen? Fragen über Fragen überkamen sie, doch ein Wortwechsel zwischen der Direktorin und einer der Lehrerin holte sie wieder zurück in ihre Umwelt.
„In einem solchen Fall muss man der Polizei in jeglicher Hinsicht behilflich sein.“ Sie konnte nicht genau herausfinden, wie lange sie nicht mehr zugehört hatte, aber es musste etwas länger gewesen sein. Sofort spitzte sie die Ohren. „Dennoch können Sie sich nicht einfach über den Kopf aller hinwegsetzen und der Polizei eine Liste mit allen Daten geben.“
Deswegen war dieser Kommissar so schnell nach dem Fund der Leiche bei ihr gewesen. Oh ja, das war ganz eindeutig interessant.
„Wir wollen doch alle, dass die Polizei den Mord an unserer geschätzten Kollegin Mia-Sophie so schnell wie möglich aufklärt.“
„Es geht hier darum, dass persönliche Daten ohne das Zugeständnis dieser Personen weitergegeben wurden. Ihnen ist doch hoffentlich bewusst, dass die Beamten solch vertrauliche Informationen nicht einfach einberufen dürfen.“ Nach diesem Einwurf von der angesehenen Englisch, - und Mathematiklehrerin Frau Weston entstand unmittelbar Gemurmel in den Sitzreihen.
„Ich bitte Sie Frau Weston, die Kommissare brauchten doch nur die Namen, um mit den Mitgliedern sprechen zu können. Diese Diskussion ist doch völlig unnötig und passt gar nicht in diese Besprechung hinein.“ Zum ersten Mal verlor die Direktorin ihre nette Art und Weise und blickte eher etwas sauer drein. „Sie hätten uns vorher fragen müssen!“ Warf jemand in den Raum, den Ruby nicht ausfindig machen konnte. Andere Kommentare dergleichen folgten darauf und es wurde in der Aula immer unruhiger.
„Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich. Wir werden dieses Problem ein andern mal besprechen, nicht jetzt! Ich will hier und jetzt das Thema der Trauerbewältigung mit Ihnen besprechen.“
„Sie wollen doch nur von Ihrem Fehler ablenken. Vielleicht haben Sie uns in Schwierigkeiten gebracht!“ Als alle bemerkten, dass sie diese Angelegenheit so noch gar nicht gesehen hatten, wurden die Stimmen lauter und von nun an unberechenbar. Direktorin Meier war mitten im Sperrfeuer und konnte sich nicht mehr daraus befreien.
„Und da haben wir es.“ Absolut ratlos wegen dieser plötzlichen Wendung blinzelte sie Lauren ein paar Mal an bis sie verstand. „Niemand kann beim Wesentlichen bleiben.“
Die Vorurteile von ihrem eigenen Schützling wurden ihr, bei dem Anblick der rasenden Menschen, die sich eigentlich hier zusammengefunden hatten, um einem Kind, das einen wichtigen Menschen grässlich verloren hatte, beziehungsweise Kindern, die ein solches unfassbares Verbrechen nicht begreifen konnten, zu unterstützen und jetzt stattdessen lauthals darüber diskutieren, ob es richtig war den Polizisten Hilfestellung zu geben oder nicht, immer deutlicher. Darum meinte sie auch direkt. „Sollen wir uns heimlich davon schleichen?“
Das Mädchen blies deutlich Luft aus der Nase, doch dann grinste sie. „So kenne ich doch die gute, alte, Ruby.“
„Raus hier.“ Auf der Stelle erhoben sich die beiden, was keiner der Anwesenden zu bemerken schien, denn sie alle waren vollkommen damit beschäftigt sich gegenseitig zu beschimpfen und anzuschreien. Zumindest dachten sie, dass alle in diese Debatte involviert waren.