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20.11 Uhr

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Grace Martins saß am Küchentisch und beobachtete Jack, der ihr gegenüber in sich zusammen gesunken hockte, wortlos. Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte, außer immer wieder zu beteuern, dass es ihr Leid tat. Noch nie hatte sie ihren Freund so niedergeschlagen erlebt. Zwar hatte sie versucht, einen Vergleich zu seiner momentanen Verfassung zu ziehen, indem sie sich vorstellte, ihre beste Freundin hätte sich das Leben genommen, aber das konnte nicht dasselbe sein. Ihre Freundinnen waren allesamt hochnäsige Zicken, die sich gegenseitig nichts gönnen konnten. Jack trank noch einen Schluck von dem Tee, den sie ihm gekocht hatte und der laut Verpackung eine beruhigende Wirkung versprach. Die ließ noch auf sich warten.

Als er nach Hause gekommen war, sehr viel später als üblich, Überstunden eingerechnet, wusste sie sofort, dass etwas passiert sein musste. Sein Gesicht war aschfahl, seine Stimmung mehr als im Keller und seine Bewegungen müde und schlapp. Dann hatte er ihr die ganze Geschichte erzählt: Vom Selbstmord Byron Moores, den sie selbst nur einmal flüchtig kennen gelernt hatte; von der Weise, wie Jack davon erfahren hatte und von seinem Gespräch mit Moores Haushälterin, von dem er gerade zurück gekommen war. Grace hatte ihn lange fest umarmt, während er ihr die Ereignisse geschildert hatte. Nachdem er fertig gewesen war, saßen sie eine Zeitlang nur so da und ließen das Gesagte auf sich wirken.

»Da hat ein Mann von der Polizei in Hertford für dich angerufen«, sagte Grace dann, nachdem ihr die Stille doch zu unbehaglich wurde und hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt.

Jack sah von seiner Tasse auf, ohne, dass ein wirkliches Erstaunen in seinen Augen zu erkennen war. »Ja, ich weiß. Die haben mich im Büro erreicht.«

»Und?«

»Ich fahre morgen früh nach Hertford und spreche mit dem zuständigen Inspektor.« Martha hatte Jack die Kontaktdaten des Inspektors gegeben, aber dessen Assistent hatte ihn zuerst erreicht. »Macintosh heißt er, glaube ich.« Sein Gehirn lief nur noch auf Sparflamme.

Grace nickte. »Ja, Macintosh. Ich hatte seinem Assistenten deine Handynummer gegeben. Er wollte mir partout nicht sagen, worum es geht. Aber jetzt weiß ich ja…« Sie stockte, als er plötzlich aufstand, die Hände in seinen Hosentaschen vergrub und vor das Küchenfenster trat. Grace war sich nicht sicher, wie sie reagieren sollte. Ihm nochmals zu versichern, wie leid ihr das Ganze tat, hielt sie für ein Eingeständnis ihrer eigenen Hilflosigkeit an die Situation. Ihr Freund strich sich eine Haarsträhne von der Stirn, drehte sich zu ihr um und schaute ihr direkt in die Augen. Grace bemühte sich um ein Lächeln, doch es gelang ihr nicht ganz.

»Martha hat mir erzählt, dass sie bei der Polizei ausgesagt hat, ich hätte Byron zuletzt besucht. Bestimmt wollen die von mir wissen, ob ich mich mit Byron gestritten habe oder so.«

Grace schüttelte den Kopf. »Das hast du doch nicht, oder?«

Jack schwieg einen Moment. Dann antwortete er: »Natürlich nicht. Worüber denn auch? Wir haben uns immer bestens verstanden. Und Vorgestern war es nicht anders.« Er starrte kurz gedankenversunken aus dem Fenster. Regen prasselte laut dagegen. »Bis auf…« Er stockte. Seine Freundin stand auf und legte ihm sanft ihre wärmenden Hände auf die Oberarme.

»Bis auf?« Sie sahen sich tief in die Augen, doch er war in Gedanken nicht bei ihr.

»Erinnerst du dich, was ich dir gesagt habe, als ich nach Hause kam? In der Nacht, meine ich.«

Sie überlegte kurz. An diesem Abend hatte sie starke Kopfschmerzen gehabt und auch schon einige Zeit geschlafen, als er spät in der Nacht von seinem Besuch in Sawbridgeworth zurückgekehrt war. Dann fiel es ihr wieder ein.

»Du hast was gesagt von ›Es war sehr nett, aber irgendwie seltsam‹.«

Er nickte.

»Ich gebe zu, ich habe dem nicht allzu viel Bedeutung beigemessen. Aber es war ja auch schon ein Uhr morgens«, erklärte sie. »Ich kann mich aber erinnern, dich gefragt zu haben, was so seltsam war. Da konntest du mir keine Antwort geben.«

Jack befreite sich sanft aus ihrem Griff und ging zurück zum Tisch, um den letzten Schluck Tee zu trinken. Sein Blick fiel wieder auf das Buch, das Byron ihm geschenkt hatte und das im aufgerissenen Geschenkpapier auf dem Tisch lag. Er betrachtete es einen Moment stumm und ließ dann die Seiten durch seine Finger gleiten. Auch wenn er so gut wie nie Romane las, da er sich mehr der Fachliteratur über Motorräder verschrieben hatte, so würde er diesen, der den Titel ›Blinde Gier‹ trug und von einem ihm unbekannten Autor stammte, in jedem Fall lesen. Jack entsann sich wieder auf Graces Äußerung.

»Ich kann dir auch jetzt nicht sagen, was los war. Er benahm sich zeitweise irgendwie eigenartig. Nicht ganz wie er selbst, verstehst du?«

Sie nickte unsicher, denn so ganz verstand sie nicht, was er meinte. Grace kannte den Mann eben kaum. Das Verhältnis zwischen ihm und Jack war immer eine kernige Männerfreundschaft gewesen, das wusste sie und sie hatte es immer akzeptiert, auch wenn es nie laut ausgesprochen worden war, dass bei den unregelmäßigen Treffen Frauen unerwünscht waren.

»Vielleicht war es einfach nur Stress. Er war doch ein Arbeitstier, das hast du immer gesagt. Da wird man doch oft etwas…«

»Nein!«, unterbrach er sie unabsichtlich barsch und sie bekam große Augen. »Das glaube ich nicht. Er hatte gerade einen Urlaub hinter sich und wirkte auch überhaupt nicht gestresst. Eher im Gegenteil sehr gelassen.«

Grace setzte sich resigniert wieder an den Tisch. Was sollte sie da noch sagen?

»Und wenn er in seinem Urlaub etwas Schlimmes erlebt hat?« war das einzige, was ihr jetzt noch einfiel.

Und plötzlich machte es Klick bei Jack, sie sah es ganz deutlich. »Das muss es sein!«, sagte er und überlegte. »Byron hat total blockiert, als ich ihn nach seinem Urlaub gefragt habe.«

Grace schaute ihn fragend an. »Wo war er denn?«

Und wieder tat sich eine imaginäre Sackgasse vor ihm auf. Er machte eine resignierende Handbewegung. »Tja, das ist das Problem. Er hat es mir nicht verraten. Und Martha weiß es auch nicht.«

»Nicht mal seine Haushälterin?«

»Nein!«

»Sehr merkwürdig.«

Jack konnte dem nur zustimmen.

Es war bereits nach Mitternacht, als er das Licht in der Küche ausschaltete und sie ins Bett gehen wollten. Jack war gerade dabei, sich sein verknittertes Hemd abzustreifen, als plötzlich dumpf die Melodie von ›Rule Britannia‹ ertönte. Sein Handy!

Schnell zog er das Hemd wieder ganz über und ging in den Flur, wo sein Jackett auf einem Garderobenhaken hing. Er kramte das kleine Telefon aus der Seitentasche und sah auf das Display: UNBEKANNTER ANRUFER. Mit einem unguten Gefühl im Magen drückte er den Annahmeknopf. Es war Martha Keller, wie er überrascht feststellte.

»Hallo Mister Calhey. Es tut mir wirklich sehr leid, Sie so spät noch zu stören.«

Jack versicherte ihr, dass es ihm nichts ausmachte. Inzwischen war auch Grace in ihrem Pyjama im Türrahmen erschienen. Sie putzte sich gerade die Zähne und lauschte interessiert dem für sie einseitigen Gespräch.

»Ich muss gestehen, ich habe ein wenig ein schlechtes Gewissen«, sagte Martha Keller. »aber ich wollte es zuerst Ihnen sagen und nicht der Polizei oder sonst wem.«

Jetzt hatte sie Jacks volle Aufmerksamkeit. »Was denn, Martha?« fragte er und schielte dabei zu seiner Freundin rüber, die in ihrem Putzritus inne gehalten hatte und ihn neugierig anstarrte.

»Nachdem Sie vorhin gegangen waren, habe ich in Mister Moores Ankleidezimmer Ordnung machen wollen. Naja, es klingt natürlich sehr verrückt, dass ich jetzt noch...«

»Das ist doch völlig in Ordnung, Martha«, versicherte Jack. Er selbst hatte schließlich sogar am helllichten Tag in der Öffentlichkeit seines Arbeitsplatzes Whisky direkt aus der Flasche getrunken. In der Tat konnte er Martha gut verstehen, wenn sie sich mit den alltäglichen Dingen, die sie immer getan hatte, ablenken wollte. Ihr Leben würde sich jetzt ohnehin ändern.

»Ja also, ich habe jedenfalls ein Anzugsjackett von Mister Moore ausbürsten wollen. Da habe ich in der Innentasche etwas gefunden.«

Jack sah Grace fest in die Augen, dann fragte er in den Hörer: »Was denn?«

»Einen Brief. Ich glaube, es ist eine Einladung oder so was. Auf sehr edlem Papier und mit goldener Schrift. Können Sie morgen nochmal herkommen und es sich ansehen? Vielleicht ist es ja wichtig.«

Möglicherweise war es das wirklich. Jack würde jedem Hinweis nachgehen.

»Ja, Martha. Ich werde kommen. Aber zuerst habe ich einen Termin bei der Polizei.«

»Oh. Bei Inspektor Macintosh?«

»Ja.«

»Es tut mir so leid«, beteuerte die Frau. »Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie durch mich irgendwelche Unannehmlichkeiten bekommen.«

Jack nickte lächelnd, was sie natürlich nicht mitbekommen konnte, und sah noch immer auf seine Freundin, die mittlerweile wieder kreisende Bewegungen mit ihrer Zahnbürste vollführte.

»Schon gut, Martha. Vielleicht erhalte ich ja so auch ein paar Informationen über den Stand der Ermittlungen. Ich schlage vor, sie gehen jetzt zu Bett und morgen Mittag komme ich zu ihnen, sage ihnen, was die Polizei herausgefunden hat und sehe mir diesen Brief an, in Ordnung?«

»Ja. Vielen Dank, Mister Calhey«, antwortete die Frau aufatmend. »Ich bin froh, dass Sie mich nicht im Stich lassen. Gute Nacht.«

Jack wünschte ihr ebenfalls eine gute Nacht und verstaute das Handy wieder in seinem Jackett.

»Und?« fragte Grace mit erwartungsvoll funkelnden Augen, während ihr der Zahnpastaschaum aus dem Mund quoll. Jack drängte sich an ihr vorbei in Richtung Bad.

»Martha hat etwas in Byrons Anzug gefunden. Einen Brief oder so. Morgen fahre ich noch mal rüber und dann kann ich dir mehr sagen.« Er hielt einen Moment innen und dachte nach. Dann kratzte er sich müde am Kopf und verzog beim Gähnen sein Gesicht zu einer schrägen Fratze.

Grace war klar, dass ihr Freund nach diesem ereignisreichen und anstrengenden Tag nicht mehr sehr kommunikativ sein würde und so biss sie sich auf die Lippen, obwohl ihr die Neugier über das gerade geführte Telefonat sicher eine schlaflose Nacht bereiten würde.

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