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Dienstag, 06. April
9.03 Uhr

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Als der unausgeschlafene Inspektor Hubert Macintosh den vom morgendlichen Sonnenlicht durchfluteten Salon des alten Herrenhauses betrat, glaubte er, die einsetzende Erleichterung der Anwesenden förmlich spüren zu können. Es war ein gutes Gefühl, wenn auch mit viel Verantwortung verbunden. Sobald er auftauchte, vertraute jeder darauf, dass er das Bindeglied zwischen Verbrechen und Verbrecher sein würde und bisher hatte er auch meistens diese Erwartungen erfüllen können. Heute begann eine neue Runde.

Bevor er zu den beiden Polizisten gehen würde, die bereits seit etwa einer halben Stunde die Stellung hielten und nun sehnsüchtig zu ihm herüberschauten, sah er sich erst einmal im Raum um.

Der Salon des großzügigen Anwesens machte einen gediegenen Eindruck und zeugte von edlem und vor allem teurem Geschmack. Es schien, als sei jedes einzelne Möbelstück und jedes noch so kleine Accessoire mit großem Bedacht ausgesucht worden, um eine perfekte Harmonie zu erzeugen. Die Einrichtung war modern, aber keineswegs kalt. Die Sonnenstrahlen, die durch die fast deckenhohen Fenster an der Längsseite des Raumes fielen, und in denen kleine Staubkörner tanzten, unterstrichen diesen Eindruck nochmals.

Es war eine trügerische Stimmung, wie Hubert bereits wusste.

Zu seiner Rechten befand sich, einen breiten, inaktiven Kamin aus schwarzem Marmor einrahmend, eine große Sitzgarnitur mit zwei cremefarbenen Ledersofas und einem Sessel. Auf dem der Fensterfront abgewandtem Sofa saß eine ältere Frau; sie war kreidebleich und stand offensichtlich unter Schock. Ihrer Kleidung nach zu urteilen musste sie die Haushälterin sein.

Dicht an sie gedrängt saß ein Mann um die siebzig in einem, selbst für Macintoshs Geschmack, altmodisch grob karierten Jackett, der die Frau sanft am Arm hielt und offenbar sowohl als seelische als auch physische Stütze fungierte. Vor ihm, auf dem ovalen Glastisch, stand eine geöffnete, abgewetzte bauchige Ledertasche. Der Mann war der Hausarzt, schlussfolgerte Hubert.

Die beiden jungen Beamten standen auf der anderen Seite des Raumes, an einem glänzenden schwarzen Konzertflügel und beobachteten die Szenerie schweigend und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen. Als Hubert sich ihnen näherte, nahmen sie sofort eine steife Haltung an.

»So, Jungs. Macintosh, Hertfordshire Constabulary«, sagte er, ohne einen guten Morgen zu wünschen. Wenn er gerufen wurde, konnte es ohnehin kein guter Morgen sein. Er ließ die Männer einen kurzen Blick auf seinen Dienstausweis erhaschen.

»Klärt mich mal auf. Was ist hier los?«

Der linke der beiden Männer, ein hagerer Kerl mit kantigem Grübchenkinn, der Hubert fast um einen Kopf überragte, war augenscheinlich der etwas Ausgeschlafenere. Sofort begann er mit einer Erklärung.

»Mrs Keller ist die Haushälterin von Mister Moore. Sie hat ihn wohl heute Morgen gefunden.« Er nickte in Richtung der Frau auf dem Sofa.

»Hat sie die Polizei gerufen?«

»Nein, das war Dr. Drake, der Mann neben ihr. Sie hat zuerst ihn verständigt. Offenbar dachte sie, es wäre noch was zu retten.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass dem nicht so war.

Hubert beobachtete die Frau und den Arzt durch den Raum. Drake flüsterte Mrs Keller, so schien es, gerade aufmunternde Worte zu.

»Okay! Was muss ich noch wissen, bevor ich mir den Toten anschaue?«

Die beiden Polizisten wechselten einen stummen Blick, als würden sie ausknobeln, wer jetzt antworten sollte. Wieder war der linke Bursche schneller. Er warf einen kurzen, entschuldigenden Blick auf seinen Kollegen und räusperte sich.

»Doktor Rainard hat gesagt, dass alles auf Selbsttötung hindeutet.«

Auch wenn Hubert die ihm bekannten Wagen auf dem Hof bereits bemerkt hatte, entfuhr ihm ein innerlicher Fluch. Rainard, der Rechtsmediziner, war samt seinem Team vor ihm eingetroffen. Es schien, als seien an diesem Morgen alle schneller gewesen, als er selbst. Er überlegte kurz und sah die beiden Männer prüfend aus den Augenwinkeln an.

»Und was meint ihr?«

Jetzt würde sich zeigen, ob diese Staatsbediensteten tatsächlich etwas im Köpfchen hatten, oder doch eher, dem Klischee entsprechend, als Dorfpolizisten nur zur Verwarnung von Parksündern geeignet waren.

»Ja, also...«, begann jetzt der andere der beiden, ein Rotschopf mit käsiger Haut und vielen Sommersprossen, zu Macintoshs Verwunderung mit einem Erklärungsversuch. »Moore liegt hinter seinem Schreibtisch, mit einem Dolch in der Brust.« Seine Stimme klang nasal, als hätte er Schnupfen.

»Ein Brieföffner!« korrigierte ihn sein Kollege sogleich tadelnd.

Hubert empfand das kleine Duell zwischen den Beamten irgendwie drollig. Sicherlich bekamen die beiden nur selten etwas so spektakuläres wie einen Mord vorgesetzt und sie versuchten sich nun in einem Kompetenzkampf.

»Ja, ein Brieföffner. Die Spurensicherung ist da schon seit zwanzig Minuten am Werkeln. Bisher gibt es keine Anzeichen für einen Einbruch oder ähnliches.«

Hubert ging ein paar Schritte in die Richtung, in welche die beiden Polizisten mehrmals unbewusst geschielt hatten. Dort grenzte ein weiterer Raum an den großen Salon an. Das Arbeitszimmer des Hausherrn.

In diesem Moment betrat Doktor Rainard, aus eben diesem Zimmer, den Salon. Als er Macintosh sah, lächelte er freundlich und zog sich die Kapuze seines Papieranzugs vom Kopf.

»Ah, guten Morgen, Chef.«

Sie gaben sich die Hand. Rainard trug einen Plastikhandschuh. Hubert nickte und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. Der junge Arzt war zweifelsohne einer der fähigsten Männer auf seinem Gebiet, den er je kennengelernt hatte. Die seltenen Gelegenheiten, bei denen er mit ihm zusammen arbeitete, zeigten ihm allerdings, dass er sehr ehrgeizig war. Zu ehrgeizig, um sympathisch rüberzukommen.

»Morgen, Doktor. Was haben wir denn da drin?« fragte Hubert und ignorierte damit bewusst die bisherigen Informationen, die ihm die beiden Beamten gegeben hatten.

»Tja...« Rainard drehte sich nochmals nachdenklich um und befingerte den Mundschutz, der an seinem Hals hing. »Sieht mir ganz nach Suizid aus. Keine Kampfspuren, keine Fingerabdrücke und die Lage des Körpers ist so, als hätte er sich selbst gerichtet.«

»Mit einem Brieföffner«, ergänzte Macintosh.

Rainard nickte. »Sieht aus wie Elfenbein, jedenfalls ein ganz edles Ding. Naja, eigentlich so wie alles hier.« Er blickte durch den Raum.

»Ja, der Mann lebte wohl nicht schlecht«, stimmte Hubert gleichgültig zu und zog dabei sein Smartphone aus der Manteltasche. Sofort formierte sich in seinem Kopf die erste Frage: Wie viel Überwindung und seelische Zerrüttung musste ein Mensch aufbringen, sich selbst zu erdolchen? Es gab wahrhaftig einfachere und schmerzfreiere Methoden, sich das Leben zu nehmen.

»Naja. Es gibt auch Dummköpfe und Masochisten.« Hubert ließ sich ebenfalls einen Einweg-Schutzanzug geben und zog ihn über. Dann betrat den Ort des Geschehens.

Das Arbeitszimmer stellte stilistisch einen Gegensatz zum Salon dar, denn es war wesentlich altmodischer eingerichtet. Es passte mehr zu dem, was man erwartete, wenn man das Herrenhaus von außen sah. Schweres Holz, Messing und Goldbeschläge bestimmten das Bild. Und der Raum war deutlich kleiner als der Salon, aber immer noch sehr großzügig dimensioniert, wie Hubert neidvoll feststellte. Er hatte zwei hohe Fenster, aber aufgrund der Lage des Raums fiel zu dieser Tageszeit nur indirektes Licht hinein. Die Beleuchtung kam von der Decke und von drei Halogen-Stativlampen, die ihr Licht auf den Boden hinter dem ausladenden und reich verzierten Schreibtisch warfen, der bestimmt dreimal so groß war, wie der von Hubert. An den seitlich gegenüberliegenden Wänden standen hohe Regale, die von einem Ende des Zimmers zum anderen reichten und mit hunderten von Büchern vollgestopft waren. Sie wirkten, als würden sie den Raum erdrücken; zumindest empfand Hubert es so. Hinter dem Schreibtisch erhob sich gerade ein Mann, der wie er vollständig in einem weißen Papieranzug vermummt war. Hubert erkannte ihn an seinen zusammengewachsenen Augenbrauen als Becker, Rainards tüchtigen, wenn auch, für seine Arbeitsauffassung, etwas zu lässigen Assistenten. Er bemerkte Hubert sofort.

»Guten Morgen, Sir«, begrüßte er seinen Vorgesetzen mit einer knappen Handbewegung. Hubert grüßte zurück und trat um den Schreibtisch herum. Er sah zu Boden und dort den leblosen Körper eines Mannes um die vierzig Jahre liegen. Byron Moore. Er lag auf dem Rücken, sein leichenblasses Gesicht zur Decke gerichtet. Er wirkte mit seinem weichen, aber sehr männlichen Profil und seinem vollen schwarzen Haar recht attraktiv, soweit Hubert das beurteilen konnte.

»Selbst jetzt noch.«

Der Tote trug glänzende schwarze Maßschuhe, eine Nadelstreifenhose und ein feines Seidenhemd. Aus seiner linken Brust, etwas unterhalb des Herzens, ragte der verschnörkelte Griff eines Brieföffners. Die obere Partie des Hemdes war völlig von getrocknetem Blut durchtränkt und auch der schwere Teppich, auf dem die Leiche lag, hatte dunkle Flecken.

»Nicht wirklich angenehm.« Obwohl ihm Anblicke dieser Art keineswegs fremd waren, schauderte Hubert innerlich. Eigentlich war er vor über zehn Jahren von Scotland Yard weggegangen, um nicht mehr solchen Bildern ausgesetzt zu sein.

Und um der Quengelei seiner Frau Patricia Rechnung zu tragen. Mit Verärgerung dachte er daran, dass er in einer Woche schon mit ihr in der Dominikanischen Republik sein würde. Sich den etwas zu rundlichen Bauch bräunen und Cocktails mit Zuckerrand am Glas trinken. Hätte Mister Moore nicht bis dahin mit seinem Abgang warten können, damit sich ein anderer mit dem Fall rumschlagen durfte?

Hubert konzentrierte sich wieder auf den Tatort und begutachtete das Stillleben eine Weile ohne Fragen zu stellen, um das aufzunehmen, in seinem Geist und auf elektronischem Weg im Smartphone speichernd, was der erste Blick ihm zeigte. Becker kannte diese Methode des Inspektors und sagte nichts, während er sich die Handschuhe abstreifte und langsam Richtung des Salons ging.

Die Augen des Toten waren geschlossen oder von einem der Anwesenden geschlossen worden. Wie Rainard gesagt hatte, lag der Körper in einer Position, in die man geraten konnte, wenn man sich selbst auf diese Weise das Leben nahm. Er musste zusammengesackt und dann auf den Rücken gekippt sein. Der linke Arm Moors ruhte auf dem Drehkreuz seines Schreibtischsessels und der hochgerutschte Hemdsärmel legte den Blick auf eine goldene Rolex frei. Das linke Bein war leicht verdreht und angewinkelt. Über der Rückenlehne des Sessels hing Moores Jackett.

Der Schreibtisch, den er als nächstes in Augenschein nahm, bot ein normales und geordnetes Bild: Eine lederne Schreibunterlage, ein Telefon, ein aufgeklapptes Notebook, aber keinerlei Papiere, die offen herum lagen.

Hubert mutmaßte, dass Byron Moore auch auf seinem Computer keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Sein Bauch sagte ihm, dass die Entscheidung des Mannes, sich selbst ins Jenseits zu befördern, ein Kurzentschluss gewesen sein musste. Vielleicht hatte er kurz zuvor eine schlimme Nachricht erhalten?

»Die Fotos will ich spätestens um Eins haben«, sagte der Inspektor, ohne von der Leiche aufzusehen.

»Na klar,«, bestätigte Becker und verließ den Raum.

Nun war Hubert alleine. Er trat etwas zurück, hinter den Toten und ließ nochmals seinen Blick aus dieser anderen Perspektive schweifen. Sein Smartphone hielt er weiterhin fest umklammert. Er würde es bald brauchen, denn er musste sich über die Person Byron Moore näher informieren; insbesondere über sein Verhalten am Abend vor seinem Tod. Gestern. Mit Unbehagen dachte Hubert an das bevorstehende Gespräch mit der Haushälterin. Er hätte ihr eine sofortige Befragung gerne erspart, aber es war wichtig, sie zu vernehmen, solange ihre Erinnerungen noch frisch waren. Langsam umrundete er den Arbeitsplatz; weitere Auffälligkeiten konnte er jedoch zunächst nicht finden. Vielleicht würden die Ergebnisse der Spurensicherung ja noch etwas aufzeigen. Er machte noch ein paar Schnappschüsse mit dem Handy.

Als er wieder in den Salon kam, war die Haushälterin verschwunden, das Sofa leer. Grummelnd stieg er aus dem Schutzanzug und warf ihn samt der Plastikhandschuhe auf einen Ohrensessel in der Ecke. Der Mann, den die Polizisten als Doktor Drake identifiziert hatten, kam auf Hubert zu und lächelte zaghaft.

»Sie sind Inspektor Macintosh, richtig? Doktor Timothy Drake.« Sie gaben sich die Hand.

»Es ist einfach schrecklich«, kommentierte der Arzt mit dem vertrockneten Gesicht, den tief hängenden Tränensäcken und buschigen Augenbrauen unvermittelt und schüttelte schockiert den Kopf. »Ich kann mir überhaupt nicht erklären, was Mister Moore nur dazu gebracht hat. Es ist einfach unfassbar.«

»Suizid ist oftmals ein großer Schock für die Hinterbliebenen.« Er machte eine kurze Pause und sah dann Doktor Drake direkt in die Augen. »Die Haushälterin hat zuerst Sie verständigt, nicht wahr?« fragte er und öffnete die Organizer-App seines Smartphones.

»Ja, das stimmt. Sie war völlig aufgelöst, ja fast hysterisch. Ich habe sie am Telefon erst gar nicht richtig verstanden. Natürlich bin ich sofort rübergefahren und als ich Mister Moore dann in seinem Arbeitszimmer liegen sah...« Er machte eine kurze Pause und starrte mit leeren Augen in Richtung des Fundorts. »Da vermutete ich gleich, dass jede Hilfe zu spät kam. Ich habe dann die Polizei in Sawbridgeworth verständigt.«

Hubert formte in seinem Kopf eine geographische Karte. Sawbridgeworth war der Ort, der dem Anwesen Moores am nächsten lag. Mit flinken Bewegungen tippte er einige Stichworte zu Drakes Aussage in sein Smartphone. Er mochte dieses kleine Ding, aber dem war nicht immer so. Als es ihm seine Frau im letzten Jahr zu seinem achtundfünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte, war er noch ein absoluter Verfechter von Block und Bleistift gewesen. Er hatte ihr auf seine charmante Art klar gemacht, dass er das Ding nicht wollte und ihr vorgehalten, dass sie damit nur auf sein fortgeschrittenes Alter und die damit einhergehende Vergesslichkeit anspielte. Außerdem war es winzig, brauchte Strom und konnte leicht kaputt gehen. Aber mit der Zeit und dank seines technisch versierten Assistenten hatte Hubert neben der Telefonfunktion seine weiteren Vorzüge kennengelernt und inzwischen hatte das Gerät einen festen Platz in seinem Arbeits- und Privatleben eingenommen.

»Wann haben Sie Mister Moore zum letzten Mal untersucht? Ich gehe davon aus, dass Sie sein Hausarzt waren?«

Drake nickte. »Das ist richtig. Ich kenne ihn schon seit seiner Kindheit. Sein Vater und ich waren recht gut befreundet. Aber der ist jetzt auch schon seit über fünfzehn Jahren unter der Erde. Zu Ihrer Frage: Ich mache bei ihm normalerweise einmal pro Jahr einen kompletten Checkup. Der letzte war kurz vor seinem Urlaub. Das war erst vor etwa eineinhalb Monaten. Bis auf leichte Stresserscheinungen war er topfit.«

Hubert brummte etwas Unverständliches und überlegte einen Moment. Dabei fuhr er sich mit Daumen und Zeigefinger über die Konturen seines Schnauzbarts. »Stresserscheinungen?« fragte er dann.

Doktor Drake suchte nach den richtigen Worten. »Nun ja. Er ist, pardon, er war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Und ich habe ihn eigentlich immer als einen Workaholic eingeschätzt. Da stellt sich Stress natürlich automatisch ein, egal ob man seinen Job liebt oder nicht. Er liebte ihn.«

Macintosh nickte stumm und machte sich wieder ein paar Notizen. »In welcher Branche war er tätig?«

»Elektronik. Seine Firma stellt Bauteile für Computer her, glaube ich.«

Hubert sah sich nun in seiner Annahme bestätigt, dass der Tote der Gründer der Moore Enterprises, einem Konzern aus London, sein musste.

»Glauben Sie, dass er sich selbst getötet hat?«

Drakes Miene verfinsterte sich. »Ich hätte es, ehrlich gesagt, nicht für möglich gehalten. So wie ich ihn kannte, war er nicht der Typ Mensch, der sich in ein emotionales Loch stürzen würde.«

Huberts fragender Blick verriet Drake, dass er noch weiter ausholen musste.

»Nein, ich finde es tatsächlich sehr ungewöhnlich für einen Mann seines Charakters, sich etwas anzutun. Er war eine Führungsperson, jemand zu dem andere automatisch aufblicken, sich leiten lassen. Aber wie ich durch die Gespräche Ihrer Kollegen mitbekommen habe, deutet ja alles darauf hin, dass es keine andere Erklärung für seinen Tod gibt.«

»Ich möchte da keine voreiligen Schlüsse ziehen. Mir fehlt noch ein ganzer Haufen an Informationen. Apropos…« Er sah sich suchend im Raum um. »Wo ist Mrs Keller?«

»Sie bat mich, sie in die Küche gehen zu lassen. Sie wollte sich etwas mit Hausarbeit ablenken«, antwortete Drake.

Wut stieg unwillkürlich in Hubert hoch. »Hey ihr!«, rief er fingerschnippend den beiden Polizisten zu, die noch immer tuschelnd und untätig am Klavier standen, und winkte sie zu sich.

»Wozu steht ihr hier eigentlich rum?« fuhr er die Männer in gedämpftem Ton an. »Hier sollte doch niemand den Raum verlassen.«

Dick und Doof sahen sich fragend an. Macintosh verkniff sich einen weiteren Kommentar und wandte sich wieder Doktor Drake zu.

»Wo ist die Küche?«

Drake zeigte mit dem Finger in Richtung der Halle. »Da durch und dann links.«

Der Inspektor nickte dankend und verließ den Salon. Er fand die Küche sehr schnell und dort Mrs Keller, die mit dem Rücken zu ihm an der Anrichte vor dem Fenster stand und Gemüse klein schnitt.

»Für wen bereitet sie jetzt noch das Essen zu?«

Er trat näher.

»Sie werden mir jetzt sicher einige Fragen stellen«, sagte die Frau zu seiner Verwunderung, noch ehe sie sich umgedreht oder er einen Ton gesagt hatte. Weiterhin widmete sie sich dem Gemüse; Lauch, glaubte Hubert zu erkennen. Er räusperte sich.

»Das ist richtig Mrs Keller. Ich bin Detective Inspector Hubert Macintosh und leite die Ermittlungen in diesem Fall.« Insgeheim glaubte er allerdings nicht, dass wirklich ein Fall daraus werden würde. Suizide wurden in der Regel schnell zu den Akten gelegt.

»Zunächst möchte ich Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen.«

Jetzt drehte sich die Haushälterin um und sah ihn mit roten Augen an; sie hatte geweint. Langsam trat sie näher, die Hände an einem Geschirrtuch reibend. Martha Keller war fast einen Kopf kleiner als er. Sie war vierundsechzig Jahre alt, wie Hubert bereits wusste und sie hatte schwarzgrau melierte Haare, die sie in einer rundlichen Dauerwelle trug. Ihre Wangen wirkten, sicher noch als Folge des erlittenen Schocks, eingefallen.

»Ich war nur eine Angestellte, nicht seine Frau«, entgegnete sie und es klang fast wehmütig.

»Aber Sie waren doch hier sicher eine der Personen, die er immer um sich hatte? Da halte ich eine Beileidbekundung für angebracht oder hatten Sie kein gutes Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber?« Der Inspektor deutete Mrs Keller, sich an den Tisch zu setzen. Sie steckte das Handtuch in die Tasche ihrer blauen Schürze und kam seiner stummen Aufforderung zögernd nach. Er selbst nahm über Eck Platz.

»Doch, es war sehr angenehm, für ihn da zu sein. Er war immer freundlich, zuvorkommend und hilfsbereit. Wissen sie, wenn man ein so großes Haus in Schuss halten muss, ist das schon eine Menge Arbeit.«

»Gibt es keine weiteren Bediensteten?«

»Nein, ich bin die Einzige hier. Für handwerkliche Dinge und den Garten lassen wir immer Leute aus Sawbridgeworth kommen.«

»Aha. Wie lange arbeiten Sie schon für Mister Moore?«

Sie überlegte einen Moment, drehte aufgelöst eine kleine Zuckerdose zwischen Ihren Händen.

»Seit beinahe zehn Jahren. Er war gerade mal siebenundzwanzig, als ich hier anfing. Anfangs hatte ich das Gefühl, es mit einem verwöhnten und verzogenen Jungen zu tun zu haben, aber das hat sich schnell geändert. Er war zwar immer sehr zielstrebig und – na ja, karrieresüchtig ist vielleicht das falsche Wort, aber alles in allem ein guter Arbeitgeber.« Interessiert beobachtete Mrs Keller, wie Hubert mit seinen breiten Fingern über das spiegelnde Display seines Telefoncomupters fuhr. »So was hat wohl wirklich jeder heute, oder?«, sagte sie kopfschüttelnd.

Macintosh sah fragend auf und bemerkte, worauf sie anspielte. »Ach ja, das ist sehr hilfreich«, sagte er und drehte das Gerät kurz hin und her. »vor allem, wenn man seine eigene Schrift nicht richtig lesen kann.«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Haushälterin. »Mister Moore hat selbst beim Essen ständig was in so ein Ding da getippt. Ich fand das furchtbar.« Dann wurde sie sofort wieder ernst. »Ich kann einfach nicht glauben, dass er nicht mehr da ist. Er war doch noch so jung.« Hubert entgegnete nichts und sie fuhr direkt fort:

»Es war ein so furchtbarer Moment, als ich ihn fand. Das wird mich den Rest meines Lebens verfolgen.«

Entgegen seinem Willen tätschelte der Inspektor plötzlich ihre Hand. »Ich bin sicher, dass wir Ihnen helfen können. Wir haben eine Spezialistin, die sich um Menschen, die ein so traumatisches Erlebnis zu verarbeiten haben, kümmert. Ich werde ihr Bescheid sagen, dass sie hierher kommt.«

Mrs Keller schüttelte den Kopf und starrte mit gläsernen Augen auf die Tischplatte. »Danke, das ist sehr nett von Ihnen, aber ich habe in meinem Leben schon viel ertragen - den Tod meines Mannes und unseres Sohnes. Das jetzt werde ich auch durchstehen.«

»Hat Mister Moore Verwandte? Jemanden, den wir benachrichtigen sollen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, zumindest keine, von denen ich wüsste. Er hat nie jemanden erwähnt.«

Huberts Magen verkrampfte sich etwas. »Ich weiß, dass ich jetzt sehr viel von Ihnen verlange«, sagte er und zog seine Hand wieder zurück. »Aber ich muss Ihnen ein paar Fragen zu dem Unglück stellen.«

Die Frau sah ihn angstvoll an, obgleich sie wusste, was ihr bevorstand. »Sie meinen, darüber, wie ich ihn gefunden habe«, schlussfolgerte sie. Noch ehe er etwas erwidern konnte, begann sie zu erzählen. Sie wollte wohl die Gedanken, die sich in den letzten Stunden in ihrem Kopf geformt hatten, endlich laut aussprechen und damit vielleicht vergessen.

»Gestern Abend habe ich ihm das Essen im Speisezimmer zurecht gestellt. Er sagte mir, dass er mich nicht mehr brauche, da habe ich mich zurückgezogen. Ich kam erst heute Morgen wieder hinunter, um das Frühstück zuzubereiten. Normalerweise pflegt Mister Moore es gegen sieben Uhr einzunehmen. Als er nicht kam, habe ich zuerst an seine Schlafzimmertür geklopft, aber das Bett war unbenutzt. Dann bin ich in sein Arbeitszimmer und...« Sie stockte kurz. »Da lag er. Er trug noch immer die Sachen vom Vortag. Also hat er sich irgendwann am Abend...«

Hubert nickte verstehend. »Den genauen Todeszeitpunkt wird die Obduktion zeigen. Was taten Sie, als Sie ihn fanden?«

Sie überlegte kurz und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. »Zuerst wurde mir schwindelig und übel. Ich bin fast umgekippt. Dann habe ich mich wieder gefangen und mich über ihn gebeugt. Ich wollte wissen, ob er tatsächlich... dann habe ich sofort Doktor Drake angerufen.«

»Von welchem Apparat?«

»Dem hier in der Küche.« Sie deutete auf ein Telefon an der Wand zwischen der Anrichte und einer niedrigen Tür, die auf den Hof zu führen schien.

»Was haben Sie Doktor Drake gesagt?«

Noch eine Träne rann über Mrs Kellers Wange. Sie zog ein zerknülltes Papiertaschentuch aus ihrer Schürzentasche und wischte sich über die Nase.

»Ich war sehr aufgeregt. Ich habe nur gesagt, dass er schnell kommen solle, weil es Mister Moore nicht gut geht.« Die Aussage deckte sich mit dem, was ihm der Arzt gesagt hatte.

»Was haben Sie getan, bis Doktor Drake eintraf?« hakte er weiter nach, während er die neuen Stichworte in das Gerät schrieb.

»Hier gesessen und gezittert. Es waren schlimme Minuten.«

Becker betrat den Raum. Er hielt etwas in seiner behandschuhten Hand. »Verzeihung, Sir...« unterbrach er taktlos das sensible Verhör und reichte Hubert das Objekt; ein Smartphone, ähnlich dem, das er selbst benutze. »Wir haben Mister Moores Handy gefunden.«

Macintosh sah Becker fragend an. »Und?« Er wusste nicht so genau, was ihn jetzt erwarten würde. Moore hatte sicher keinen Abschiedsbrief auf diesem kleinen Gerät hinterlassen, wo man ihn nur durch Zufall finden würde.

»Da drin sind seine letzten Termine verzeichnet.«

Hubert nahm das Gerät, drückte einen Knopf und der Bildschirm erhellte sich. Er las die tabellarischen Eintragungen: Bis Anfang März hatte Moore täglich mehrere Meetings, Telefonkonferenzen und sonstige Geschäftstermine vermerkt, die als erledigt gekennzeichnet waren. Macintosh bedauerte den Mann um seine offensichtlich spärliche Freizeit und fragte sich unwillkürlich, ob dies nicht schon alleine ein Grund sein konnte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er scrollte weiter. Erst Anfang April setzten die Eintragungen, jedoch wesentlich weniger umfangreich, wieder ein. Dann stieß Hubert auf den jüngsten Termin. Er stammte vom vergangenen Sonntag.

»Wer ist Jack Calhey?« fragte er Mrs Keller.

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