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4.Unterlassungsstrafbarkeit

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186Für die Unterlassungsstrafbarkeit ist zunächst von Bedeutung, ob der Suizid freiverantwortlich war.

187a) Liegt kein freiverantwortlicher Suizid vor, so kann sich ein Garant unter den Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts gem. §§ 212 (bzw. § 216), 13 strafbar machen528. Im Übrigen kommt eine Strafbarkeit gem. § 323c in Betracht529.

Bsp.: Ehemann O, der volltrunken ist (Alkoholgehalt: 3,2 Promille), ist gerade dabei, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ehefrau T als Garantin (vgl. § 1353 Abs. 1 BGB) unternimmt nichts, obgleich sie erkennt, dass O nicht freiverantwortlich handelt. – T macht sich gem. §§ 212, 13 strafbar, da die Tatherrschaft aufgrund der Trunkenheit des O – dieser befindet sich im Zustand der Schuldunfähigkeit i. S. d. § 20 – bei ihr liegt.

188b) Bei einer freiverantwortlichen Selbsttötung scheidet hingegen eine Strafbarkeit wegen Tötung durch Unterlassen aus, wenn der Garant den Suizidenten nicht an der Tat hindert. Dies lässt sich ebenfalls damit begründen, dass in solchen Fällen die Tatherrschaft allein beim Suizidenten liegt. Ein anderes Ergebnis wäre zudem widersinnig. Denn ansonsten wäre zwar straffrei, wer aktiv den Suizid unterstützt, strafbar jedoch derjenige, der den Suizidenten an seinem Tun nur nicht hindert.

Bsp. 1: Ehefrau O möchte mittels Gift aus dem Leben scheiden. Ehemann T hindert sie auf ihren Wunsch hin nicht daran. – T ist nicht gem. §§ 216, 13 strafbar, da die Tatherrschaft allein bei O liegt. Dies folgt auch daraus, dass T selbst dann straflos wäre, wenn er sich aktiv am Suizid – etwa durch Beschaffen des Giftes – beteiligt hätte.

Bsp. 2:530 O wird wegen Suizidgefahr in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Arzt T stuft ihn nicht als suizidgefährdet ein. In der ersten Nacht erhängt sich O mit einem Gürtel. – T ist zwar kraft Behandlungsvertrag Garant. Soweit O jedoch eigenverantwortlich handelt, bleibt T straflos.

189c) Fraglich ist, ob eine Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassungsdelikts (§§ 212, 13) in Betracht kommt, wenn der Garant erst im weiteren Verlauf des Suizids untätig wird.

Bsp. (1): Ehemann T reicht seiner Ehefrau O einen Becher mit Gift, den diese aufgrund einer freiverantwortlichen Entscheidung zum Zwecke der Selbsttötung trinkt. Nach wenigen Minuten wird O bewusstlos. T unternimmt nichts, O stirbt geraume Zeit später. Da Ehefrau O aufgrund einer eigenverantwortlichen Entscheidung selbst die unmittelbar zum Tode führende Handlung vornimmt, hat sie die Tatherrschaft über den lebensbeendenden Akt. Die Übergabe des Bechers ist damit eine straflose Beteiligung am Suizid. Eine Strafbarkeit wegen aktiven Tuns kommt damit nicht in Betracht. Möglicherweise ist T jedoch als Garant (vgl. § 1353 Abs. 1 BGB) anschließend verpflichtet, den Erfolg abzuwenden.

Bsp. (2):531 O nimmt bei vollem Bewusstsein eine Überdosis Medikamente, um aus dem Leben zu scheiden. Ihr Arzt W findet sie bewusstlos in den Wohnung auf. Er nimmt keine Rettungsmaßnahmen vor, da O in der Vergangenheit mehrfach ihren Suizidwillen geäußert hat und er einen Zettel vorfindet, auf dem O vermerkt hatte, dass sie keine ärztliche Hilfe wünscht.

190aa) Auch ein nachfolgendes Unterlassen kann richtigerweise zu keiner Strafbarkeit des Garanten führen532. Zwar wurde früher in der Rechtsprechung angenommen, dass die Tatherrschaft auf den Garanten übergehe, wenn das Opfer nach Vornahme der Selbsttötungshandlung das Bewusstsein verliere oder es handlungsunfähig werde, weil das Opfer dann den weiteren Verlauf nicht mehr in seinen Händen halte533. Eine Strafbarkeit konnte damit – wie im Wittig-Fall (Bsp. 2) – nur noch in sehr engen Grenzen über das Merkmal der Zumutbarkeit der Hilfeleistung verneint werden534.

191bb) Die überwiegende Ansicht im Schriftttum lehnt seit langem mit Recht eine Strafbarkeit des Garanten ab535. In diese Richtung bewegt sich nunmehr auch die Rechtsprechung des BGH, indem sie eine Beendigung der Garantenstellung annimmt536.

Bsp. 1:537 O wendet sich nach mehreren erfolglosen Suizidversuchen an Arzt T, um sie beim Suizid zu unterstützen. Dieser rezeptiert ein Medikament und sagt zu, den Suizid zu betreuen. Nach Einnahme einer tödlichen Dosis des Medikaments informiert sie T, der bei verschiedenen Hausbesuchen von einer Rettung absieht und deren Mutter und Sohn mitteilt, dass sie keine Rettung wünsche.

Bsp. 2:538 Die über 80-jährigen A und B beschließen in Kenntnis der vollen Tragweite ihrer Entscheidung, durch gemeinsamen Suizid aus dem Leben zu scheiden. Sie wenden sich an einen Sterbehilfeverein, der ihnen Arzt T vermittelt. T besorgt sodann die notwendigen Medikamente und bereitet gemeinsam mit A und B das tödlich wirkende Getränk vor. A und B trinken dann jeweils selbst das Getränk aus. T bleibt bis zu deren Tod anwesend ohne zu helfen.

191aIn beiden Fällen liegt zunächst ein freiverantwortlicher Suizid vor, da etwa mit dem Austrinken des Bechers in Bsp. 2 die unmittelbar lebensbeendende Handlung von den Opfern vorgenommen wurde. Da in beiden Fällen nicht nachgewiesen werden konnte, dass die Opfer bei Einleitung von Rettungsmaßnahmen noch gerettet hätten werden können, d. h. das Hinzudenken der gebotenen Rettungshandlung den tatbestandsmäßigen Erfolg in seiner konkreten Gestalt nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte, ist nach der abgewandelte conditio sine qua non-Formel die Kausalität zu verneinen, so dass nur eine Versuchsstrafbarkeit nach § 216, 13, 22, 23 bzw. § 212, 13, 22, 23 in Betracht kam. Insoweit müsste dann der Tatenschluss auf eine Garantenstellung bezogen sein. Hinsichtlich des T in Bsp. 1 ist zwar an eine Beschützergarantenstellung des Arztes zu denken. Der BGH nimmt jedoch aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der O zu Recht an, dass die Garantenpflicht mit dem geäußerten Sterbewunsch endet, da O den T aus seiner Garantenstellung entlassen hat539. Eine Garantenpflicht aus pflichtwidrigem Vorverhalten (Ingerenz) – etwa durch Mitwirkung bei der Zurverfügungstellung des Suizidmittels – mag zwar im Einzelfall bejaht werden, jedoch nimmt der BGH insoweit an, dass die objektive Zurechnung zu verneinen ist, da sich aufgrund der freiverantwortlichen Entscheidung zu einem Suizid nicht das Risiko des Vorverhaltens, sondern die Realisierung des Selbstbestimmungsrechts über das Leben im tatbestandlichen Erfolg verwirklicht hat540.

191bRichtigerweise ist aber eine Strafbarkeit selbst dann abzulehnen, wenn im Einzelfall eine Garantenstellung besteht541. Dies gilt insbesondere für Ehegatten und andere Familienangehörige, die den Sterbewunsch respektieren. Das Erfordernis einer Hilfeleistung widerspricht nämlich grundsätzlich dem Selbstbestimmungsrecht des Suizidenten und berücksichtigt nicht den inzwischen erfolgten Wertewandel in der Gesellschaft542. So hat auch das BVerfG im Rahmen seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der in § 217 geregelten geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ausgeführt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I i. V.m Art. 1 I GG das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, einschließlich eines Suizides, gewährleistet, was von Staat und Gesellschaft zu respektieren sei543. Auch würde der bereits genannte Widerspruch auftreten, dass zwar die aktive Förderung des Suizids straflos ist, das Unterlassen späterer Hilfsmaßnahmen hingegen nicht544. Im Übrigen würde eine Strafbarkeit auch davon abhängen, ob der Garant nach Eintreten der Handlungsunfähigkeit des Opfers (zufällig) noch am Ort des Geschehens anwesend ist und damit die für das unechte Unterlassungsdelikt notwendige physisch-reale Handlungsmöglichkeit besitzt. Ein nachfolgendes Untätigsein des Garanten ist daher ebenfalls straflos, soweit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von einem bis zum Tod durchgehaltenen Suizidwillen ausgegangen werden kann545. Macht hingegen der Suizident deutlich, dass er von der Selbsttötung Abstand nehmen möchte, trifft den Garanten eine Rettungspflicht546.

192Nach h. M. ist in diesen Fällen aber eine Strafbarkeit nach § 323c zu prüfen, da der Suizid ab dem Zeitpunkt der Hilfsbedürftigkeit aus Sicht des Beteiligten einen Unglücksfall darstellt547. Dafür spricht, dass Suizidversuche mitunter lediglich Appellcharakter für das Umfeld des Opfers haben. Auch lässt sich für einen Unbeteiligten häufig nicht ohne weiteres erkennen, ob der Suizident freiverantwortlich gehandelt hat und tatsächlich keine Rettung erhofft548. Selbst wenn man generell einen Unglücksfall bejaht, muss im Einzelfall dann aber stets das Merkmal der Zumutbarkeit der Hilfeleistung sorgfältig geprüft werden. Die Zumutbarkeit ist jedenfalls dann zu verneinen, wenn der Suizident für den Beteiligten erkennbar an seinem freiverantwortlich getroffenen Willen festhält, keine Rettung wünscht und die Tat ggf. sogar wiederholen würde549.

Strafrecht - Besonderer Teil I

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