Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Kaarlo Tuori - Страница 134

1. Prekarisierung der Legitimationsressource durch den Wandel der Staatlichkeit

Оглавление

102

Das BVerfG lebt in seiner gegenwärtigen Rolle vom Vorrang des Grundgesetzes, genauer der grundgesetzlichen Grundrechtsordnung, und hat diesen Vorrang institutionell auf sich selbst ausgedehnt.[492] Deshalb droht jede Bedeutungsrelativierung des Grundgesetzes mit einer Bedeutungsrelativierung des BVerfG einherzugehen. Der Prozess der Europäisierung konfrontiert das BVerfG aber genau damit: Durch die Europäisierung hat sich eine zusätzliche Schicht supranationaler Verfassung etabliert, deren verbindliche Interpretation sich dem BVerfG entzieht. Diese Verfassung enthält seit dem Vertrag von Lissabon einen eigenen verbindlichen Grundrechtskatalog, dessen Rechte ohne Einschaltung des BVerfG im Wege der Vorlage durch die Fachgerichte geltend gemacht werden können. Europäisierung und Internationalisierung tragen zudem zu einer Erosion des klassischen Souveränitätsprinzips bei,[493] wodurch sowohl die Fokussierung auf den Staat als auch die nationale Beschränkung kollektiver Selbstbestimmung an legitimationstheoretischer und dogmatischer Kraft verlieren. Dementsprechend erlangen die öffnenden Elemente des Grundgesetzes in den Art. 23–26 GG größere Bedeutung.[494]

103

Der erste Punkt ist hier entscheidend. Die spezifische Stärke und Autorität des BVerfG ruht darauf, dass es gewissermaßen das Gesicht des Grundgesetzes ist. Die Stärke des BVerfG ist eng verknüpft mit der Stärke des Grundgesetzes selbst[495] und das Gericht hat dies geschickt genutzt, um selbst am Vorrang der Verfassung institutionell teilzuhaben. Seit den frühen Entscheidungen des BVerfG ist ersichtlich, dass es ihm um den Aufbau einer neuen Verfassungs- bzw. Werteordnung ging. Es ist in diesem Sinne ein Gründungsgericht, das sich mit der horizontalen und vertikalen Öffnung der von ihm gegründeten Verfassungsordnung schwer tut.[496] Von der stetigen Entwicklung und Konkretisierung der Verfassungsordnung profitiert das Gericht vor allem dort, wo es andere Akteure vom Zugriff auf die Verfassungsinterpretation und -konkretisierung ausschließt, wie etwa bei der Maßstabsbildung. Durch die Europäisierung der Rechtsordnung ist das Grundgesetz aber nicht mehr die einzige Verfassung, an der nationales Recht zu messen ist. Vielmehr tritt das Unionsverfassungsrecht hinzu und beansprucht sogar Vorrang, sofern sein Anwendungsbereich eröffnet ist. Diese Konstellation scheint beim BVerfG einen Bewahrungsreflex hervorzurufen.

104

Die Tendenz zur Bewahrung ist für das Gericht aus einem zweiten Grund naheliegend. Seine Autorität ist eng verbunden mit einem hierarchischen Rechtsdenken und einem staatszentrierten Verfassungsverständnis. Das Gericht kann deshalb so gestaltend und kreativ tätig werden, weil es mit einer starken nationalen Staatlichkeit identifiziert wird. Die nationalstaatliche Gestaltungskraft hat im Zuge der Internationalisierung und Europäisierung aber abgenommen. Nationale Entscheidungsträger unterliegen vielfältigen externen Bindungen. Nimmt die Gestaltungsmacht des Staates ab, trifft dies auch die Akzeptanz und Legitimität des BVerfG. Seine Akzeptanz ist wesentlich von der Vorstellung getragen, dass staatliche Strukturen in der Lage sind, die Versprechen des Grundgesetzes zu realisieren. Genau dies wird unter den Bedingungen zunehmender Interdependenzen aber immer schwerer zu realisieren. Auch verträgt sich hierarchisches, auf dem Expertenwissen der Richterschaft fußendes Rechtsdenken kaum mit der Pluralisierung der Verfassungsordnungen und der zu ihrer Interpretation berufenen Akteure.

105

Der Prozess der Europäisierung stellt das BVerfG allerdings nicht nur wegen dem vertikalen Hinzutreten einer weiteren Schicht Verfassungsrecht vor Herausforderungen. Die Verschränkung mit den Verfassungsordnungen anderer Mitgliedstaaten führt zu einer horizontalen Öffnung der Verfassungen und zur Entstehung eines europäischen Rechtsraums.[497] Dies resultiert in einem verstärkten Dialog zwischen den Verfassungsrichtern der verschiedenen Staaten, der sich in regelmäßigen wechselseitigen Besuchen und der Konferenz der europäischen Verfassungsgerichte ausdrückt.[498] Obgleich die Verfassungsrichter selbst die Bedeutung des Austausches für die Erweiterung des eigenen dogmatischen Horizonts und die Herausbildung eines gemeinsamen Diskurses betonen, ist der Bezug auf andere Verfassungsgerichte oder Verfassungsordnungen in der Rechtsprechung des BVerfG kaum sichtbar.[499] Ein kontinuierlicher Austausch über die jeweiligen methodischen und dogmatischen Zugänge trägt auf lange Sicht gewiss dazu bei, das Bewusstsein für die Wahrnehmung horizontaler Verschränkungen zu stärken.[500] Bislang aber hält das BVerfG eine explizite Bezugnahme auf die Rechtsprechung in anderen Mitgliedstaaten nur selten für nötig.[501] In anderen europäischen Verfassungsordnungen lässt sich dagegen in jüngerer Vergangenheit eine explizitere und qualitativ gewandelte Bezugnahme auf die Rechtsprechung anderer Verfassungsgerichte feststellen.[502] Angesicht seiner großen Akzeptanz und Autorität überrascht dies nicht. Das BVerfG benötigt „fremde“ Verfassungsrechtsprechung selten als persuasive authority.

106

Überdies sind die dogmatischen Angebote dazu, wie das BVerfG eine Verarbeitung externen Verfassungsrechts tatsächlich gewährleisten kann, bislang rar.[503] Normativ ist der Einbezug anderer Verfassungsordnungen in die eigene Rechtsprechung zudem nicht unproblematisch, ist das BVerfG doch nur zur Auslegung des Grundgesetzes berufen und legitimiert.[504] Für eine rechtsvergleichende Praxis der Verfassungsgerichte lassen sich allerdings die Öffnungsnormen im Verfassungstext in Anschlag bringen. Die durch die Europäisierung bewirkten Interdependenzen im europäischen Rechtsraum liefern zudem ein starkes Argument für eine verstärkte wechselseitige Bezugnahme.[505] Diese Verschränkungen verlangen auch nach einer Transformation der klassisch nationalstaatlich orientierten Verständnisse von Schlüsselbegriffen wie Demokratie oder Souveränität. Hier erweist sich die verfassungspolitisch aufgeladene Maßstabsbildung als Hindernis: Sie versperrt aufgrund der ihr inhärenten Beharrungskraft den Weg zu einer dynamischen Anpassung des Demokratieprinzips unter dem Grundgesetz. Genau dies aber müsste das Gericht angesichts der tiefgreifenden Veränderungen in Bezug auf die staatliche Souveränität ermöglichen, um nicht irgendwann vom Verlust seiner Legitimationsressourcen eingeholt zu werden.

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › IV. Evaluation: Hüter des Grundgesetzes oder Hüter von Verfassungsrecht? › 2. Vielfalt und Dezentralisierung: Das Ende der Deutungshoheit beim Grundrechtsschutz?

Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх