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2. Steuerungswirkungen gegenüber der Legislative

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Verfassungsgerichtliche Argumente sind im politischen Prozess in Deutschland überaus präsent. Eine Gehorsamsverweigerung durch die Legislative ist nach wie vor selten.[458] Im Gegenteil: Die Rechtsprechung des BVerfG wird in der politischen Debatte nicht selten als Trumpf benutzt und viele der zum Teil sehr detaillierten Übergangsregelungen des BVerfG wurden durch die Legislative ohne größere Auseinandersetzung in Gesetze gegossen. Gerade aufgrund der intensiven Vorgaben, die das BVerfG in den Übergangsregelungen vornimmt, sieht es sich mit dem Vorwurf konfrontiert, als „Ersatzgesetzgeber“ tätig zu werden.[459] Die großzügige Nutzung der verfassungsgerichtlichen Kompetenzen durch das BVerfG hat in der rechtswissenschaftlichen Literatur zu Überlegungen geführt, wie sich das Verhältnis zwischen dem BVerfG und den übrigen Staatsorganen anhand ihrer konkreten Funktionen und Kapazitäten bestimmen lässt.[460] Dieser sogenannte funktionell-rechtliche Ansatz basiert auf der Idee der arbeitsteiligen Organisation der Staatsgewalt im Zusammenspiel zwischen BVerfG, Gesetzgebung, Regierung und Fachgerichtsbarkeit.[461] Vertreter dieses Ansatzes betonen zwar aus dem Blickwinkel der Gewaltenteilung die Gerichtsfunktion des BVerfG als zentrales Abgrenzungskriterium, fragen aber darüber hinaus, welche weiteren Funktionen das BVerfG in einem demokratischen Verfassungsstaat adäquat erfüllen kann. Diese können etwa darin bestehen, Instrument zum Schutz von Minderheiten zu sein oder bei der Kompensation gesetzgeberischer Defiziten mitzuwirken. Die Kritiker einer solch funktionalen Bestimmung der Aufgaben des BVerfG betonen dagegen, dass sich die Kompetenzen des BVerfG allein aus dem Grundgesetz ergäben und der Gedanke einer funktionalen Arbeitsteilung zwischen Legislative und BVerfG die Gerichtsqualität des letzteren auf Kosten des politischen Prozesses gefährde.[462]

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Problematisch mit Blick auf das Verhältnis zwischen BVerfG und Legislative sind vor allem drei Tendenzen, die sich in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte sukzessive verstärkt haben. Der bereits beschriebene Wandel des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft hat zu einer Intensivierung der grundrechtlichen Schutzpflichtendogmatik und einer Ausweitung der inhaltlichen Feinsteuerung gesetzlicher Regelungen geführt. Hier übernimmt das BVerfG zunehmend die Funktion, gesetzgeberisches Handeln anzustoßen, einzufordern und mitunter auch detailliert auszugestalten.[463] Eine zweite Tendenz ist die zunehmende verfassungsgerichtliche Kontrolldichte bei Unsicherheiten und Prognosen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens. Zwar betont das BVerfG stets, dass es bei Prognoseentscheidungen den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers achte.[464] Dennoch ist zu beobachten, dass das BVerfG der Versuchung unterliegt, bei empirischen Unsicherheiten und Prognosen die eigenen Einschätzungen an die Stelle der gesetzgeberischen Einschätzungen zu setzen.[465] Zudem verlangt es dem Gesetzgeber immer öfter ab, folgerichtige und konsistente Regelungen zu erlassen. Das Gericht hält den Gesetzgeber also dazu an, einmal getroffene konzeptuelle Entscheidungen widerspruchsfrei fortzuentwickeln, insbesondere wenn die Entscheidungen mit empirischen Unsicherheiten behaftet sind.[466] Es schränkt damit den legislativen Spielraum dadurch erheblich ein. Die dritte Tendenz besteht schließlich darin, dass das BVerfG auch die Anforderungen an die Begründung von Gesetzgebungsentscheidungen und den Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens erhöht. So hat das BVerfG beispielsweise im Hartz IV-Urteil den Gesetzgeber dazu angehalten, die Berechnung der Höhe des Regelsatzes der sozialen Grundsicherung auf ein „taugliches Berechnungsverfahren“ zu stützen, in dessen Rahmen „die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt“ werden müssten, um zu nachvollziehbaren Zahlen zu kommen.[467] Ein weiteres Beispiel ist das Urteil zum Finanzausgleichsgesetz, in dem das Gericht dem Gesetzgeber aufgegeben hat, verfassungsrechtliche Vorgaben in Bezug auf finanzielle Verteilungsentscheidungen in einem Maßstäbegesetz zu konkretisieren und so die konkrete Gesetzesbegründung zu strukturieren.[468] Das BVerfG verlangt also zunehmend eine „optimale Methodik der Gesetzgebung.“[469] Dabei läuft es Gefahr, die Charakteristika des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens aus den Augen zu verlieren und legislative Entscheidungsfindung zunehmend von Gestaltungsentscheidungen auf Verfassungsvollzugsentscheidungen umzupolen.[470] Vor diesem Hintergrund wird die Idee der Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und BVerfG kritisiert, weil parlamentarische Funktionen nicht durch nicht-parlamentarische Organe kompensiert werden dürften.[471]

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Angesichts der beschriebenen Tendenzen der Ausweitung verfassungsgerichtlicher Kontrolle gegenüber der Legislative ist es hilfreich, sich die Gerichtseigenschaft des BVerfG in Erinnerung zu rufen. Sie stellt gewissermaßen eine normative Kontrollüberlegung für die verfassungsgerichtliche Beurteilung von Gesetzen dar und mahnt das BVerfG, dem Gesetzgeber ausreichend Spielraum zu lassen, um parteipolitische Kompromissbildung und eine offene parlamentarische Debatte zu gewährleisten. Zugleich ist unübersehbar, dass das Gericht eine starke Steuerungs- und Gestaltungswirkung entfaltet. Dies spiegelt sich auch in dem Umstand wider, dass große Debatten um die Legitimation des BVerfG sich gerade an Fällen entzünden, in denen das Gericht die Entscheidung des Gesetzgebers für verfassungswidrig erklärt und diesem konkrete Gestaltungsvorgaben gemacht hat.[472] Zuletzt ließ sich dies beobachten, als das BVerfG die Kritik vor allem konservativer Politiker auf sich zog, weil es die Möglichkeiten eines Kopftuchverbots für Lehrerinnen in Schulen eingeschränkt hatte.[473] Empirisch muss man das BVerfG daher als Gericht mit großer Gestaltungsmacht verstehen. Seine konkrete Rolle gegenüber der Legislative und der Umfang, in dem es die Legislative prozedural und materiell zu steuern vermag, steht jedoch in Abhängigkeit zum Rollenverständnis anderer Organe. Die Ausweitung der Gestaltungsmacht des BVerfG lässt sich auf das veränderte Verhältnis von Staat und Gesellschaft insgesamt zurückführen. Man kann sie als Versuch verstehen, den Verlust effektiver staatlicher Regelungsmacht angesichts von Privatisierungs- und Internationalisierungsprozessen, gewissermaßen auszugleichen. Dieser Versuch birgt demokratietheoretische Probleme. Will man diese Probleme lösen, ist es jedoch hilfreich sich zu vergegenwärtigen, dass die Rolle des Gerichts sich unter den gegebenen Bedingungen nur verändern kann, wenn sich auch die Rolle der Legislative verändert. Anderenfalls müssten entweder die Erwartungen an staatliche Handlungsmacht insgesamt zurückgeschraubt oder der Anspruch einer umfassenden Durchsetzung des Grundgesetzes in allen gesellschaftlichen Bereichen relativiert werden.

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › III. Rolle und Funktion des Bundesverfassungsgerichts: Kontroll- oder Steuerungsinstanz? › 3. Das Bundesverfassungsgericht als Instrument der Opposition

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