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a) Parteipolitische Wahl und richterliche Unabhängigkeit

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Für die Zusammensetzung des Gerichts bestimmt Art. 94 GG lediglich, dass die Richterschaft aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern besteht, die je zur Hälfte von Bundesrat und Bundestag zu wählen sind. Das konkrete Wahlverfahren ergibt sich aus dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) und ist inzwischen vor allem durch die politische Praxis geprägt.

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Gemäß § 6 BVerfGG werden die vom Bundestag zu wählenden Richterinnen und Richter durch einen speziellen Wahlausschuss gewählt, dessen zwölf Mitglieder wiederum in geheimer Wahl durch das Plenum des Bundestages gewählt werden.[141] Auch die Wahl als Präsident/in oder Vizepräsident/in des BVerfG erfolgt in diesem Verfahren. Als Richterin bzw. Richter des BVerfG ist gewählt, wer mindestens acht der zwölf Stimmen auf sich vereinigen konnte. Das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit sorgt dafür, dass Regierung und Opposition bei der Wahl zu einem Kompromiss finden müssen, verhindert aber zugleich eine potenzielle Blockade durch zu hohe Mehrheitserfordernisse.[142] Die Wahl erfolgt bislang ausschließlich durch den Wahlausschuss, ohne dass das Plenum des Bundestages sie noch bestätigen müsste. Dieses Verfahren wird vielfach kritisiert, weil es intransparent sei und der verfassungsrechtlichen Vorgabe der Wahl durch den Bundestag nicht gerecht werde.[143] Vor diesem Hintergrund sieht ein von allen Fraktionen des Bundestags Ende 2014 eingebrachter Gesetzesentwurf vor, dass das im Wahlausschuss gefundene Ergebnis im Bundestag zur Abstimmung gestellt wird[144]. Die Wahl würde dann formal durch den Bundestag erfolgen, der in der Sache jedoch kaum das Ergebnis des Wahlausschusses in Frage stellen würde.[145] Das Ziel ist die Sicherstellung eines verfassungskonformen Wahlverfahrens, wobei eine „unerwünschte Politisierung“ verhindert werden soll.[146] Für die Kritiker dürfte dieser Vorschlag zu kurz greifen: Eine offene Debatte über die Kandidatinnen und Kandidaten wird durch die fehlende Aussprache im Bundestag und die unangetastete Verschwiegenheitspflicht der Mitglieder des Wahlausschusses (§ 6 Abs. 4 BVerfGG) auch in Zukunft nicht stattfinden. Der politische Charakter verfassungsgerichtlichen Entscheidens wird durch dieses Wahlverfahren nicht hervorgehoben.[147] Allerdings entspricht das intransparente Wahlverfahren den Autoritätsressourcen des BVerfG. Diese bestehen nicht zuletzt darin, dass das Gericht als Expertengremium wahrgenommen wird, das in erster Linie der Verfassung verpflichtet ist.[148] Eine offene Aussprache insbesondere über die politischen Positionen der Kandidaten, wie sie in den USA üblich ist, würde diesem wenig politischen Verfassungsgerichtverständnis zuwiderlaufen. Da Legitimität und Akzeptanz stets kontextabhängig sind, muss man angesichts der formalistischen Verfassungskultur in Deutschland bezweifeln, ob ein transparenteres Verfahren tatsächlich legitimitätsstiftend wirken würde.[149]

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Im Unterschied zum Wahlverfahren im Bundestag erfolgt die Wahl der Richter durch den Bundesrat direkt, aber ebenfalls mit dem Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit. Die gleichberechtigte Einbeziehung von Bundesrat und Bundestag wird bisweilen als Ausdruck einer föderalen Dimension gedeutet.[150] In der gegenwärtigen Praxis der Richterwahl lässt sich diese These nicht erhärten. Das Verfahren der Richterwahl ist vielmehr überformt durch parteipolitische Aushandlungsprozesse.

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Das Zweidrittelerfordernis rückt die beiden größten Fraktionen ins Zentrum der Wahlentscheidung. Nach einer in den siebziger Jahren ausgehandelten informellen Regelung haben CDU/CSU und SPD pro Senat das Vorschlagsrecht für jeweils vier Richterinnen bzw. Richter, wobei von diesen vier Personen jeweils eine Person parteipolitisch „neutral“, d.h. nicht Mitglied einer Partei, sein soll.[151] Es hat sich zudem die Praxis etabliert, dass die beiden großen Fraktionen senatsübergreifend das Vorschlagsrecht für einen ihrer parteipolitisch zuzuordnenden Richter an einen etwaigen kleineren Koalitionspartner (in der Vergangenheit die FDP und Bündnis 90/Die Grünen) abtreten.[152] Dieses informelle Verfahren hat zur Folge, dass der wesentliche Auswahlprozess nicht im Wahlausschuss oder im Bundesrat stattfindet, sondern vorab in Aushandlungsprozessen zwischen den politischen Parteien.[153] Eine zentrale Rolle nehmen dabei die beiden von den beiden großen Fraktionen (CDU/CSU und SPD) bestellten Obleute ein, die den Auswahlprozess vorbereiten und im Wesentlichen die Verhandlungen führen.[154] Die Entscheidung in den jeweiligen Wahlorganen fällt dann zumeist einstimmig. Vor diesem Hintergrund darf man die vorgeschlagene Bestätigung durch das Bundestagsplenum durchaus als Hebel der kleineren Parteien verstehen, schon im Vorfeld der Entscheidungsfindung einbezogen zu werden, um eine konflikthafte Plenumsabstimmung zu verhindern.[155] Angesichts der veränderten Parteienlandschaft erscheint es nicht unplausibel, über diesen Modus die integrative Kraft des Wahlverfahrens zu stärken.[156] Das Verfahren zur Wahl der Richter des BVerfG[157] ist also stark parteipolitisch geprägt.[158]

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Durch die Richtergenerationen hindurch ist es daher eine nicht zu unterschätzende Stärke des BVerfG, parteipolitische Unabhängigkeit bewiesen zu haben. Dies zeigt sich insbesondere in vergleichender Perspektive, wie die massive De-Legitimierung des spanischen Tribunal Constitucional durch die politische Einflussnahme bei der Richterernennung dokumentiert.[159] Einen entscheidenden Schub zur Etablierung einer professionellen Distanz zum parteipolitischen Geschehen kann man in der Auseinandersetzung um die Wiederbewaffnung 1952 sehen.[160] Das Gericht verweigerte durch geschickten Rückzug ausdrücklich jede Instrumentalisierung in einem parteipolitischen Streit und erntete dafür heftige Kritik aus den politischen Reihen.[161] Das Selbstverständnis der Richterinnen und Richter des BVerfG fußt darauf, dass der parteipolitisch dominierte Prozess der Richterwahl sich nicht im Entscheidungsverhalten niederschlägt.[162] Eine politische Prägung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung erscheint zwar in Einzelbereichen nicht ausgeschlossen, lässt sich aber nicht kausal nachweisen.[163] Die Richterinnen und Richter selbst heben hervor, dass die Argumentation am Gericht von „radikaler Sachlichkeit und prinzipieller Offenheit“ geprägt sei[164] und in der Auseinandersetzung andere als verfassungsrechtliche Argumente keine Chance auf Gehör hätten.[165] Die starke Betonung verfassungsrechtlicher Argumente entspricht der prägenden Kraft des gerichtförmigen Entscheidungsmodus.[166] Dieser Befund darf jedoch nicht damit verwechselt werden, dass Vorverständnisse und Wertvorstellungen der einzelnen Richter für die Argumentation und die Entscheidungsfindung bedeutungslos sind.[167] Die Richterinnen und Richter argumentieren nicht unpolitisch, sondern lediglich nicht parteipolitisch.

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Diese parteipolitische Distanz lässt sich zum einen strukturell erklären: Wie andere Verfassungsgerichte in Europa[168] besteht das Gericht ausschließlich aus Juristen, die die Befähigung zum Richteramt erlangt haben.[169] Überlegungen, besonders verdiente Laien zur Wahl zuzulassen, haben sich nicht durchgesetzt.[170] Auch das ursprünglich vorgesehene zusätzliche Erfordernis, dass es sich um „im öffentlichen Leben erfahrene“ Personen handeln müsse, wurde 1962 wieder abgeschafft.[171] Eine weitere Professionalisierung ergibt sich aus dem Umstand, dass in jeden Senat jeweils drei ehemalige Richter der obersten Bundesgerichtshöfe zu wählen sind.[172] Die übrigen Richter kommen als Hochschullehrer, ehemalige Minister oder hochrangige Mitglieder der Landesverwaltung zum BVerfG und verfügen zumeist nicht über Erfahrung mit richterlichem Entscheiden. Die Auseinandersetzung mit den langjährigen Berufsrichtern konfrontiert die Justiz-externen Richter des BVerfG mit der von den Berufsrichtern zumeist verinnerlichten Idee „richterliche[r] Unabhängigkeit als Grundlage ihres Berufes“.[173] Gleichwohl wird man auch eine Prägung durch wissenschaftliche Argumentationsmuster nicht leugnen können.[174] Die Hälfte der 16 Richterinnen und Richter des BVerfG sind derzeit Hochschullehrer. Vertreter aus anderen juristischen Berufen oder mit untypischeren Karriereverläufen sind dagegen inzwischen kaum noch im Richterkollegium des BVerfG vertreten.[175] Will man einen typischen Karriereweg zum BVerfG beschreiben, liegt die Karriere als Hochschullehrer allerdings näher als die des Bundesrichters.[176]

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Die parteipolitische Distanz des Gerichts lässt sich auch inhaltlich erklären, aus einem durch die Sozialisation am BVerfG beförderten Amtsethos.[177] Die Tätigkeit als Richterin und Richter des BVerfG ist hauptamtlich und das Gericht tagt permanent.[178] Dies erleichtert eine starke und zügige institutionelle Sozialisation neu eintretender Richterinnen und Richter. Verstärkt wird dies durch den Ausschluss der Wiederwahl und die verhältnismäßig lange Amtszeit von 12 Jahren. Letztere stellt zugleich sicher, dass die Richterwahl und der Wechsel von Regierungsmehrheiten nicht zusammenfallen.[179] Ob der fast magische „Wechsel der Loyalität mit dem Wechsel des Amtes“ ein realistisches Bild zeichnet, darf man bezweifeln.[180] Gleichwohl sollte die prägende Kraft der Institution und die Sozialisation der Richter in ein bestimmtes mit dem Amt des Richters des BVerfG verbundenen Ethos nicht unterschätzt werden. Im Vordergrund stehen dabei nach dem richterlichen Selbstverständnis das Bedürfnis und die Notwendigkeit, sich von dem allzu leicht erhobenen Vorwurf der parteipolitischen Motivation gewissermaßen freizuschwimmen.[181] Wichtiger als die Frage, ob sich ein etwaiges Vorverständnis oder ein parteipolitisch geprägter Erfahrungshorizont tatsächlich völlig neutralisieren lassen, ist dabei das offensichtlich drängende Bedürfnis der Richterinnen und Richter, diese Unabhängigkeit nach außen zu demonstrieren. Man ist sich als Richterin und Richter des BVerfG der großen Tradition „des Hauses“ bewusst und versteht die Aufgabe des Gerichts darin, mit rechtlichen Argumenten zu entscheiden und dadurch Akzeptanz zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund spielt auch das Selbstverständnis des Gerichts als „Verfassungsorgan“ eine wichtige Rolle.

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