Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Kaarlo Tuori - Страница 119

aa) Das Bundesverfassungsgericht als Bürgergericht „par excellence“

Оглавление

52

Die Bezeichnung als Bürgergericht „par excellence“[251] beruht zum einen auf dem ungebrochen großen Vertrauen und dem hohen Ansehen, das das Gericht in der Bevölkerung genießt.[252] Die Rede vom Bürgergericht hebt aber auch ein prozedurales Spezifikum des BVerfG hervor: Das Gericht verfügt mit der Verfassungsbeschwerde über eine Verfahrensart, die den Bürgern einen direkten Zugang zum Gericht ermöglicht.[253] Sie erlaubt es jedem Bürger, gegen ihn gerichtete Entscheidungen ohne anwaltliche Vertretung am Maßstab der Verfassung überprüfen zu lassen. Diese Beschwerdeform ist im europäischen Vergleich bis heute die Ausnahme.[254] Wie wenig Bedeutung ihr in der Verfassungsordnung der Nachkriegszeit in Deutschland zunächst beigemessen wurde, zeigt sich daran, dass sie erst 1969 Aufnahme ins Grundgesetz fand und zuvor nur einfachgesetzlich geregelt war.[255] Im Parlamentarischen Rat überwog dagegen die Angst vor einer „Überjuridifizierung“ der Verfassungsordnung.[256] Insofern ergibt sich ein schiefes Bild, wenn der Erfolg des BVerfG damit erklärt wird, es sei bereits bei seiner Gründung als ein starkes Bürgergericht und als Gegengewicht zum Gesetzgeber konzipiert worden.[257] Die Macht des BVerfG gründet ganz wesentlich auf einer Verfahrensart, die erst zwanzig Jahre nach Bestehen des Grundgesetzes in dasselbe aufgenommen wurde und deren Erfolg das Gericht selbst mit herbeigeführt hat.

53

Die Verfassungsbeschwerde dient nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG dazu, die Verletzung eigener Rechte, insbesondere Grundrechte, durch die öffentliche Gewalt geltend zu machen. Als einzige Verfahrensart zielt die Verfassungsbeschwerde damit direkt auf den Schutz der Individualrechte.[258] Beschwerdefähig sind alle Bürger,[259] die Träger eines Grundrechts sind.[260] Obgleich das BVerfG außerhalb des Instanzenzuges steht, eröffnet es prozedural und materiell die finale Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung der Grundrechte.[261] Der individualrechtliche Charakter dieses Verfahrens zeigt sich darin, dass antragsbefugt nur derjenige ist, der eine gegenwärtige Betroffenheit in eigenen Rechten geltend machen kann.[262] Weil im Rahmen der Verfassungsbeschwerde aber nur die Verletzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten geltend gemacht werden kann, wird die Verfassungsbeschwerde zutreffend als spezifisches Grundrechtsschutzverfahren bezeichnet.[263] Idealtypisch dient sie als „spezifischer Rechtsbehelf des Bürgers gegen den Staat“.[264] Die ausschließliche Betonung dieser Funktion greift allerdings zu kurz.

54

Zwar liegt es angesichts ihres Charakters als Bürgerbeschwerde nahe, der Verfassungsbeschwerde eine partizipative Funktion zuzusprechen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass das partizipative Potential begrenzt ist. Für eine partizipative Funktion spricht zunächst, dass die Verfassungsbeschwerde den Bürgern über den individuellen Rechtsschutz hinaus die aktive Teilnahme am Verfassungsleben eröffnet.[265] Die Bürger werden gewissermaßen für die Durchsetzung der Grundrechte als verfassungsrechtlichem Herzstück mobilisiert.[266] Dies fördert die Entstehung eines breiten Grundrechtsbewusstseins,[267] das dazu beiträgt, das Grundgesetz in seiner Interpretation durch das BVerfG zum Fixpunkt politischer Auseinandersetzungen werden zu lassen. Die Verfassungsbeschwerde signalisiert zudem, dass der Prozess der Verfassungsverwirklichung keine exklusive Domäne der Staatsorgane ist, sondern alle Grundrechtsträger einschließt.[268] Verfassungstheoretisch wird die Verfassungsbeschwerde bisweilen als Beitrag zu einem offenen Diskurs über die Verfassung verstanden, an dem potenziell alle Bürger teilnehmen können. In einer besonders starken Lesart werden die Bürger sogar selbst als Verfassungsinterpreten bezeichnet, deren Interpretationen durch ihre Teilnahme am verfassungsgerichtlichen Prozess in die Verfassungsordnung eingespeist werden.[269] Der demokratische Beitrag der Verfassungsbeschwerde erschöpft sich nach dieser Lesart also nicht in der bloßen Initiierung der Verfassungsinterpretation durch das BVerfG.[270] Vielmehr gehe es um die demokratische Auseinandersetzung über die Konkretisierung der Verfassungsnormen im politischen Alltag.[271] Allerdings liegt genau in dieser starken Verrechtlichung politischer Auseinandersetzung das Risiko, dass der politische Prozess selbst weniger inklusiv wird, weil er zunehmend von einem Fokus auf individuelle Rechte dominiert wird.

55

Der partizipative Effekt der Verfassungsbeschwerde sollte daher nicht überbewertet werden. Vorsicht ist zunächst geboten, weil der scheinbar einfache Zugang für die Bürger ohne anwaltliche Beratung vor allem im Bereich der Urteilsverfassungsbeschwerde immer weniger der verfassungsprozessualen Realität entspricht. Während § 90 Abs. 2 BVerfGG lediglich die Erschöpfung des Rechtsweges verlangt, versteht das BVerfG dieses Erfordernis als Ausdruck eines umfassenden Grundsatzes der Subsidiarität, den es „angesichts der noch immer wachsenden Belastung des Gerichts streng“ zu beachten gelte.[272] Die Erschöpfung des Rechtswegs verlangt danach von den Beschwerdeführern, vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde alle verfügbaren prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen.[273] Die Ergreifung dieser Abhilfemöglichkeiten noch vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde ist ohne anwaltliche Unterstützung für rechtsunkundige Bürger kaum möglich.[274] Hinzu kommt das Erfordernis der Substantiierung der Verfassungsbeschwerde. Während § 23 Abs. 1 BVerfGG schlicht eine schriftliche Begründung verlangt, sind die in der Rechtsprechung des BVerfG entwickelten Kriterien überaus strikt. Das BVerfG verlangt, dass „die Rechtsverletzung nach dem vorgetragenen Sachverhalt möglich erscheint“.[275] Insbesondere müssen Beschwerdeführer darlegen, warum sie einen Hoheitsakt für verfassungswidrig halten.[276] Dies führt dazu, dass schon die Sachverhaltsdarstellung selbst im Rahmen der Verfassungsbeschwerde umfassende Rechtskenntnisse verlangt. Den Sachverhalt so darzustellen, dass zu erkennen ist, inwiefern eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint, wird nur gelingen, wenn man die Rechtsprechung des BVerfG zum jeweiligen Grundrecht kennt.[277] Die strenge Zulässigkeitsrechtsprechung des BVerfG führt zwar nicht zu einem Rückgang an Verfahrenseingängen, wohl aber dazu, dass eine Vielzahl von Verfassungsbeschwerden zügig als unzulässig zurückgewiesen werden.[278] Die Verfassungsbeschwerde steht somit zwar weiter allen Bürgern offen. Dass die Bürger dadurch allerdings tatsächlich selbst an der Verfassungsinterpretation teilnehmen, lässt sich kaum erkennen.

56

Darüber hinaus spielt der partizipative Aspekt aus Sicht der Bürger nur eine untergeordnete Rolle für das Ansehen des BVerfG. Die Bürger selbst identifizieren das BVerfG weit mehr mit seiner klassisch rechtsprechenden Funktion.[279] Dies passt zu der Beobachtung, dass die starke Stellung des BVerfG auch auf einer kontinuierlich autoritätsgläubigen und demokratieskeptischen Kultur in Deutschland beruht, die vor allem in der jungen Bundesrepublik stark präsent war.[280] Der gestalterisch-politische Anspruch des Gerichts, der in seiner Selbstbezeichnung als Verfassungsorgan zum Ausdruck kommt, stieß dementsprechend auch in der Staatsrechtslehre auf Kritik.[281] Diese Kritik war nicht allein von der Sorge um die demokratische Legitimation von Richtern als Entscheidungsträgern getragen. Die Kritik an einer allzu aktiven und progressiven Rolle des BVerfG ist zugleich Ausdruck des klassisch hierarchischen Rechtsdenkens deutscher Tradition, dessen Entwicklung sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.[282] Wie alle Richter sollen Verfassungsrichter danach vor allem Rechtsexperten sein und keine Gestalter politischer Prozesse.

57

Dieses hierarchische Denken scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zu stehen zur gestalterischen Rolle, die das BVerfG gerade durch die Verfassungsbeschwerde spätestens seit der Entdeckung der grundgesetzlichen „Wertordnung“ im Lüth-Urteil eingenommen hat.[283] Letztlich lassen sich die beiden Beobachtungen aber auf einen gemeinsamen Nenner bringen, der auf die Funktion als Bürgergericht zurückverweist. Die aktive Grundrechtsgestaltung des Gerichts bringt eine Verfassungskonzeption zum Tragen, nach der dem Staat eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung der Grundrechtsordnung zukommt.[284] Dem liegt die Idee zugrunde, dass die Realisierung einer Verfassungsordnung nicht allein der Interaktion von gesellschaftlichen Akteuren und Individuen überlassen werden kann, sondern starker staatlicher Strukturen bedarf. Diese Strukturen sind eine Bedingung der Möglichkeit die Ziele der Verfassung gesellschaftlich und politisch zu verwirklichen. Zugleich kommt staatlichen Organen in dieser Konzeption die Aufgabe zu, die Geltung der Verfassung auch im Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Akteuren sicherzustellen. Einer in diesem Sinne starken und aktiven Staatskonzeption entspricht die gestalterische Rolle des BVerfG, die maßgeblich zur Konstitutionalisierung der Rechts- und Gesellschaftsordnung beigetragen hat. Die Staatszentrierung des Verfassungsdenkens passt bei genauerer Betrachtung gut zu einer hierarchischen Rechtskultur, denn auch sie setzt starke Staatlichkeit voraus. Es ist daher folgerichtig, dass die deutsche Staatsrechtswissenschaft die überschießende politische Tendenz, die sie in der Verfassungsorganqualität sah, durch dogmatische Rekonstruktion und Rationalisierung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wieder eingefangen hat.[285] Auf diese Weise kann das BVerfG beides sein: Identifikationsobjekt in einer autoritätsorientierten Bevölkerung und aktiver Gestalter der Verfassungsordnung unter dem Grundgesetz.[286] Die These, dass die Staatsorientierung eine wesentliche Bedingung für den Erfolg des BVerfG ist, deckt sich mit der Beobachtung, dass die Zufriedenheit mit dem BVerfG mit der Zufriedenheit mit dem Staat bzw. dem politischen System im Allgemeinen korreliert.[287] In diesem Sinne verweist die Staatsorientierung unter dem Grundgesetz zurück auf die Funktion als Bürgergericht. Das BVerfG fungiert nicht nur – vielleicht sogar nicht einmal primär – wegen der tatsächlichen Möglichkeit der Partizipation am Verfassungsrecht als Bürgergericht. Vielmehr ist es vor allem deshalb ein Bürgergericht, weil es die Erwartung der Bürger erfüllt, dass „in Karlsruhe“ mit staatlicher Macht ausgestattete Rechtsexperten die Ziele des Grundgesetzes verwirklichen. Dies trägt erheblich zur Akzeptanz des Gerichts bei.

Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх