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bb) Die Urteilsverfassungsbeschwerde als Herzstück der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung

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Die Verfassungsbeschwerde konnte für das BVerfG nur deshalb zu einem zentralen Pfeiler der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung werden, weil sie neben der sogenannten Rechtssatzverfassungsbeschwerde auch die Urteilsverfassungsbeschwerde umfasst. Mit ersterer können formelle und materielle Gesetze direkt angegriffen werden, wenn eine gesetzliche Vorschrift unmittelbar in den Rechtskreis des Beschwerdeführers einwirkt, also kein weiterer umsetzender oder konkretisierender Akt notwendig ist.[288] Demgegenüber können Grundrechtsträger mit der Urteilsverfassungsbeschwerde die Verletzung ihrer Rechte durch ein fachgerichtliches Urteil vor dem BVerfG rügen.[289] Sie ermöglicht dem BVerfG einen umfassenden Zugriff auf die Fachgerichtsbarkeit, deren Grundrechtsauslegung es auf diesem Wege feinsteuern kann. Auch zahlenmäßig ist diese Unterart der Individualverfassungsbeschwerde die wichtigste: Urteilsverfassungsbeschwerden machen rund 93% aller Verfassungsbeschwerden aus.[290] Die Verfassungsbeschwerde ist also weit mehr ein Instrument zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Fachgerichtsbarkeit als der Legislative. Die hohen Verfahrenseingänge im Bereich der Urteilsverfassungsbeschwerde waren auch mit dafür verantwortlich, dass das Kammerverfahren eingeführt wurde, das seinerseits zur einflussreichen Einwirkung auf die Fachgerichtsbarkeit genutzt wird.[291]

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Die Urteilsverfassungsbeschwerde wird bisweilen als „das Specificum“ der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet,[292] obwohl das BVerfG im europäischen Vergleich nicht das einzige Verfassungsgericht ist, dem eine vergleichbare Verfahrensart zur Verfügung steht.[293] Gleichwohl ist die Urteilsverfassungsbeschwerde in vergleichender Perspektive die Ausnahme und zugleich von zentraler Bedeutung für die wirkungsvolle Konstitutionalisierung der Rechtsordnung durch das BVerfG. Die Urteilsverfassungsbeschwerde verbindet die institutionelle Stärke einer von der Fachgerichtsbarkeit getrennten, eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit mit einer direkten Überprüfungsmöglichkeit der Arbeit der Fachgerichte.[294] Institutionell steht das BVerfG neben den obersten Bundesgerichten. Rechtlich aber führt die Urteilsverfassungsbeschwerde zu einer Überordnung des BVerfG über die Fachgerichtsbarkeit.[295] Diese Überordnung wird durch inhaltliche Komponenten der Verfassungsinterpretation durch das BVerfG verstärkt. Dies illustrieren anschaulich zum einen die Drittwirkung der Grundrechte im Verhältnis zwischen Privaten[296] und zum anderen die verfassungskonforme Auslegung einfacher Gesetze durch das BVerfG.[297] Darüber hinaus wirkt das BVerfG durch seine Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Urteilsverfassungsbeschwerde auf die Gestaltung des fachgerichtlichen Verfahrens ein. Denn das Gebot der Rechtswegerschöpfung gilt rügebezogen, d.h. die Beschwerdeführer müssen schon im fachgerichtlichen Verfahren den jeweiligen Hoheitsakt in Bezug auf diejenigen Aspekte angegriffen haben, durch die sie sich in ihren Grundrechten verletzt fühlen.[298] Durch dieses Erfordernis steuert das BVerfG sowohl die Grundrechtsanwendung durch die Fachgerichtsbarkeit als auch die Ausgestaltung des Verfahrens vor denselben.

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In rechtsvergleichender Perspektive ist das Verhältnis zwischen Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland erstaunlich reibungsfrei. Große Machtkonflikte wie sie etwa das spanische Tribunal constitucional derzeit erlebt,[299] sind in Deutschland nicht zu beobachten. Das BVerfG hat seine eigene Position gegenüber dem Bundesgerichtshof früh im Beamtenurteil von 1953 gestärkt.[300] Seither hat es sie kontinuierlich gefestigt. Dies geschah sowohl prozedural über den Hebel des Kammerverfahrens als auch materiell durch die Auslegung der Grundrechte. Tatsächlich ist das Konfliktpotential derzeit eher gering. Die Mission des BVerfG, die Rechtsordnung von Grund auf mit seiner eigenen Grundrechtsauslegung zu durchdringen, ist gewissermaßen erfüllt. Dies dokumentiert insbesondere die Erfolgsquote der Urteilsverfassungsbeschwerden: Bis 2010 hat das BVerfG in lediglich 313 Fällen einer Urteilsverfassungsbeschwerde stattgegeben.[301] Dies ist keine hohe Zahl im Vergleich zu 213 Fällen, in denen das BVerfG im gleichen Zeitraum im Wege der Normenkontrolle Bundes- und Landesgesetze für verfassungswidrig befunden hat.[302] Diese Zahlen bringen den Erfolg der verfassungsgerichtlichen Feinsteuerung der Rechtsordnung zum Ausdruck. Sie dokumentieren aber auch den funktionierenden Grundrechtsschutz durch die Fachgerichtsbarkeit. Die zur Entlastung des Gerichts bisweilen vorgeschlagene Abschaffung der Urteilsverfassungsbeschwerde[303] verkennt allerdings, dass das BVerfG dadurch seines Spezifikums beraubt würde.[304] Ob das Gericht auch ohne diese prozessuale Möglichkeit künftige Grundrechtsinterpretationen mit gleicher Effektivität in der Rechtsordnung verbreiten könnte, ist ungewiss.

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