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b) „Auf Augenhöhe“: Die institutionelle und politische Stärkung des Bundesverfassungsgerichts

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Wie wichtig die institutionelle und politische Stärkung des Gerichts für die Etablierung seiner machtvollen Position war, dokumentiert das Zusammenfallen des Streits um die Wiederbewaffnung mit der Veröffentlichung der Denkschrift zum Status des BVerfG 1952.[182] Darin hatte sich das Gericht selbst als „mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan“[183] bezeichnet. § 1 BVerfGG qualifiziert das BVerfG seit 1970 als „den übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes“. Aus der Doppelfunktion als Gericht und Verfassungsorgan begründet das Gericht selbst seit den Auseinandersetzungen der frühen fünfziger Jahre seine Geschäftsordnungsautonomie, die es seit 1975 faktisch in Anspruch nimmt, für die aber erst 1986 eine gesetzliche Grundlage in § 1 Abs. 3 BVerfGG geschaffen wurde. Zudem untersteht das BVerfG seit 1952 nicht mehr der Dienstaufsicht des Bundesjustizministeriums und ist daher in seiner Kommunikation mit anderen Verfassungsorganen nicht auf den Dienstweg verwiesen.[184] Es ist oberste Dienstbehörde der beim Gericht beschäftigten Beamten und verfügt über Haushaltsautonomie.[185] Seit dem Haushaltsjahr 1953/54 stellt das BVerfG seinen eigenen Haushalt auf, der als selbständiger Einzelplan in den Bundeshaushalt inkorporiert ist.[186] Auch die Mittelverwaltung erfolgt eigenständig.[187] Die institutionelle Stellung des Gerichts hebt es damit deutlich von der übrigen obersten Gerichtsbarkeit ab.[188]

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Obwohl die Qualifikation als Verfassungsorgan in § 1 BVerfGG anerkannt wird, ist die Betonung der Ebenbürtigkeit mit anderen Verfassungsorganen durch das Gericht selbst umstritten.[189] Einige Autoren haben aus der Verfassungsorganqualität einen „Anteil an der obersten Staatsleitung“[190], bzw. eine „eigene politische Verantwortlichkeit für die Erhaltung der rechtsstaatlichen Ordnung“[191] abgeleitet und konstatiert, dass das Gericht „die Kontrolle des gesamten Verfassungslebens in der Hand“ habe.[192] Kritik erfährt diese Position nicht nur deshalb, weil das Gericht mit seiner Selbstqualifikation als „Verfassungsorgan“ die rechtlichen Bedingungen seines Handelns in problematischer Weise ignoriert hat.[193] Vielmehr wird vorgetragen, der Betonung der Eigenschaft als Verfassungsorgan wohne der Anspruch inne, die Kompetenzen des BVerfG stetig zu erweitern und den Einfluss insbesondere auf den Gesetzgeber auszuweiten.[194] Das BVerfG sei dagegen lediglich ein „Gericht, das anhand der Verfassung Recht spricht“.[195] Hier ist die Frage der Gewaltenteilung angesprochen. Es geht darum, wieviel verfassungsgerichtlicher Gestaltungsanspruch mit einem System der parlamentarisch-demokratischen Gesetzgebung vereinbar ist. Vor diesem Hintergrund wird die Gerichtsqualität des BVerfG zu Recht betont, weil sich nur so die Grenzen verfassungsgerichtlichen Handeln identifizieren lassen.[196] Gleichwohl lässt sich nicht bestreiten, dass die Entscheidungen des BVerfG mehr als die jedes anderen Gerichts steuernd auf die politischen Prozesse einwirken und auch die Argumentationsmuster der politischen Akteure prägen. Insofern sind Ansätze instruktiv, die das BVerfG eher als sozialintegrative Steuerungsinstanz sehen[197] oder hervorheben, dass das Gericht in der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ nicht das Monopol in Sachen Verfassungsauslegung hat.[198] Ihnen geht es darum, die gesellschaftliche und politische Dimension sichtbar zu machen, die dem verfassungsgerichtlichen Entscheiden wegen der Offenheit und Wandelbarkeit vieler verfassungsrechtlicher Normen innewohnt.

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In dieser Perspektive wird deutlich, warum die Anerkennung der Qualifizierung des BVerfG als Verfassungsorgan für seinen Erfolg zentral ist: Mit der Anerkennung als Verfassungsorgan geht die Anerkennung der notwendig politischen Dimension seines Handelns einher. So wichtig die Abgrenzung des BVerfG als Teil der Judikative von den anderen beiden Gewalten aus demokratietheoretischer Perspektive ist,[199] so notwendig ist zugleich die Einsicht, dass das BVerfG kein unpolitisches Gericht sein kann. Dies hat es selbst früh erkannt. Mit der Qualifizierung als Verfassungsorgan hat es seine herausgehobene Position und das politische Potenzial seiner Entscheidungen letztlich auf die Verfassung selbst zurückgeführt. 1952 war es ein gewagtes Unterfangen, Bundesregierung und Gesetzgebung mit der Selbstermächtigung durch die Denkschrift herauszufordern. Rückblickend lässt sich konstatieren, dass genau in dieser expliziten Anerkennung der gesellschaftlichen und politischen Dimension des eigenen Handelns gerade in der Frühphase des Gerichts ein wichtiger Schlüssel zur Akzeptanz des Gerichts liegt. Für die politischen Entscheidungsträger wirkte die Selbstermächtigung zum Verfassungsorgan wie eine Kampfansage, für die Bürger wirkte sie dagegen als Versprechen. Das BVerfG kündigte an, nicht davor zurückzuschrecken, die Bundesregierung und die Gesetzgebung hart zu kontrollieren und es „auf Augenhöhe“ mit ihnen aufzunehmen.[200] Darin lag der Kern des breiten Vertrauens in das Gericht und der Idee vom Bürgergericht.[201]

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