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c) Rationalisierung und Präsentation der Entscheidung

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Die große Autorität, die die Entscheidungen des BVerfG genießen, ist nicht nur durch prozedurale Aspekte und Argumentationstechniken in den Entscheidungen zu erklären. Verfassungsrechtsprechung ist immer auch „Performance“. Die lässt sich kaum besser studieren als am Beispiel des BVerfG. Nach innen betonen die Richterinnen und Richter stets die hohe Qualität und die Bedeutung der Deliberation im Gericht. Es gehört zum Mantra der Karlsruher Beratungspraxis zu betonen, dass die herausragende Bedeutung juristischer Argumente gewissermaßen zu einer „Läuterung“ persönlicher Ansichten führe.[431] Auch das Fehlen vorheriger Absprachen und das Beratungsgeheimnis nach § 25 Geschäftsordnung BVerfG werden hervorgehoben, um die Beratungen des BVerfG als nahezu perfekte Form der Deliberation zu charakterisieren.[432] Im Gericht, so die kalkulierte Nachricht an die Öffentlichkeit, wird argumentiert und nicht verhandelt.[433] Nach außen dagegen erscheint das BVerfG als weitgehend geschlossener Expertenkreis. Ob die Stimmverhältnisse bei der Entscheidung mitgeteilt werden, ist den Senaten überlassen.[434] Sondervoten bleiben trotz einer leichten Zunahme weiterhin die Ausnahme.[435] Ihre Einführung 1970 war zwar durch die Praxis des US Supreme Court geprägt.[436] Sondervoten erlangten in Deutschland gleichwohl nie eine vergleichbare Bedeutung.[437] Auch dieser Effekt ist gewünscht, das Bemühen um konsensuale Lösungen unter den Karlsruher Richterinnen und Richtern wird als ausgesprochen intensiv beschrieben.[438] Die zurückhaltende Verwendung von Sondervoten gilt als große Autoritätsressource des Gerichts, weil sie einer ideologischen Spaltung vorbeugt und die politische Prägung des Ernennungsverfahrens neutralisiert.[439] Möglicherweise noch wichtiger als die interne Beratungskultur selbst ist ihre Vermarktung.[440] Die mediale Präsentation der Entscheidungen des BVerfG als konsensfähiges Ergebnis eines offenen und deliberativen Austauschs ausschließlich juristischer Argumente stellt einen wichtigen Schlüssel zur breiten gesellschaftlichen Akzeptanz des Gerichts dar.

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Nicht weniger bedeutend als die gesellschaftliche Akzeptanz des Gerichts ist seine Akzeptanz in der Staatsrechtswissenschaft. Die intensive Aufbereitung, die die Rechtsprechung des BVerfG durch die Staatsrechtslehre erfahren hat, sicherte beginnend mit der objektiven Wertordnung im Lüth-Urteil die dogmatische Verarbeitung zahlreicher kühner Erfindungen des Gerichts. Die transformative Kraft der Rechtsprechung des BVerfG wurde so von Beginn an rechtswissenschaftlich kanonisiert und kanalisiert.[441] Dies beförderte den Nimbus als neutrales, mit Rechtsexperten besetztes Gericht, gegenüber dem der Vorwurf politischer Parteinahme fast illegitim erschien. Gerade in den Anfangsjahren des Gerichts war dieser Aspekt zentral, unterschied er sich doch erheblich von der offenen Infragestellung, mit der der Staatsgerichtshof in der Weimarer Republik konfrontiert war.[442] Die überwiegend affirmative Begleitung des Verfassungsgerichts[443] entsprach dem Geist der Zeit und der Tradition des hierarchischen Rechtsdenkens.[444] Sie gipfelte in der kritisch intendierten Behauptung, „das Grundgesetz [gelte] nunmehr praktisch so, wie es das Bundesverfassungsgericht auslegt und die Literatur kommentier[e] es in diesem Sinne.“[445] Dieser sogenannte Bundesverfassungsgerichtspositivismus[446] der Anfangsjahrzehnte hat inzwischen viel Kritik erfahren. Nicht nur, weil die Rechtswissenschaft lange zögerte, den starken Führungsanspruch des Gerichts aus demokratietheoretischer Sicht in Frage zu stellen,[447] sondern insbesondere auch, weil dadurch eine konzeptionelle Verarmung der Rechtswissenschaft selbst befürchtet wurde und wird.[448] Wer nur noch mit der Aufbereitung der Rechtsprechung befasst ist, übersieht irgendwann, dass auch eine anspruchsvolle Rekonstruktion konzeptionelle Vorüberlegungen voraussetzt. Die Zeiten einer rein affirmativen Rekonstruktion der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung scheinen jedoch vorbei zu sein und einer kritischeren Reflexion der Rechtsprechung des BVerfG in der Rechtswissenschaft zu weichen.[449] An der grundsätzlichen Akzeptanz des Gerichts ändert dies allerdings ebenso wenig wie an dem prinzipiellen Bedürfnis nach einer rekonstruktiven wissenschaftlichen Aufarbeitung.

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Die Entscheidungen des BVerfG bedingen seinen Ruhm und seinen Einfluss also nicht nur deshalb, weil ihnen prozessual eine bestimmte Bindungswirkung zukommt und das Gericht seine Vollstreckungskompetenz umfangreich nutzt. Auch der spezifische Stil der Entscheidungsbegründung, die öffentliche Präsentation des Entscheidungsfindungsprozesses und die Nachbereitung in der Rechtswissenschaft sind wichtige Autoritätsressourcen, die das Gericht stets geschickt zu nutzen wusste, die aber wesentlich durch die Verfassungs- und Rechtskultur im Nachkriegsdeutschland befördert wurden.

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › III. Rolle und Funktion des Bundesverfassungsgerichts: Kontroll- oder Steuerungsinstanz?

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