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aa) Zweckmäßige Zuständigkeitsverteilung statt idealtypischer Rollen
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Die Befürchtung, dass sich die parteipolitische Prägung der Richterwahl auf die Arbeit des Gerichts auswirken könnte, kam in den Anfangsjahren in der Bezeichnung des „roten“ (ersten) und des „schwarzen“ (zweiten) Senates zum Ausdruck.[202] Die beiden Senate des BVerfG, die jeweils mit acht Richterinnen und Richtern besetzt sind, lassen sich allerdings eher nach ihren jeweiligen Zuständigkeiten unterscheiden. Während der erste Senat nach § 14 BVerfGG in erster Linie für Normenkontrollen mit Bezug zu den Grundrechten und die meisten Verfassungsbeschwerdeverfahren zuständig ist und daher bisweilen als „Grundrechtssenat“ bezeichnet wird, konnte der zweite Senat in den ersten Jahrzehnten des BVerfG idealtypisch als „Staatsrechtssenat“ bezeichnet werden.[203] Er ist gemäß § 14 BVerfGG vor allem für Bund-Länder-Streitigkeiten, Fragen des Parlamentsrecht, das Organstreitverfahren, Verfahren bezüglich der Stellung völkerrechtlicher Normen im nationalen Recht, Verfassungsbeschwerden mit Bezug auf das kommunale Selbstverwaltungsrecht und mit Bezug auf das Wahlrecht sowie für Parteienverbotsverfahren zuständig. Allerdings wurde diese idealtypische Zuständigkeitsverteilung inzwischen mehrfach durchbrochen, weil das Plenum des BVerfG seine gesetzliche Kompetenz genutzt hat und zur Entlastung des ersten Senats die Zuständigkeitsverteilung modifiziert hat.[204] Die ursprüngliche gesetzliche Zuständigkeitsverteilung ist daher von der Zuständigkeitsverteilung durch das Gericht selbst überlagert worden und orientiert sich primär an Zweckmäßigkeitserwägungen.[205]
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Für die praktische Arbeit des Gerichts ist die Einberufung von mehreren, aus jeweils drei Richtern bestehenden Kammern pro Senat zentral, die im europäischen Vergleich einmalig ist. Die Zusammensetzung der Kammern soll gemäß § 15a Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nicht länger als drei Jahre unverändert bleiben, um eine gewisse Rotation sicherzustellen und eine „Versteinerung der Meinungsbildung“ zu verhindern.[206] Die Kammern entscheiden in der Praxis abschließend über den Großteil aller Verfahren.[207] Sie treffen ihre Entscheidungen einstimmig und ohne mündliche Verhandlung. Wie die große Anzahl der durch die Kammern erledigten Verfahren dokumentiert, reagiert die Verlagerung der Tätigkeit in die Kammern auf die größte strukturelle Herausforderung des Gerichts; seine Überlastung. Dabei dürfen die Kammern allerdings nur im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung der Senate entscheiden und keine Fortentwicklung der Verfassungsrechtsprechung betreiben.[208] Sie entscheiden auf dieser Grundlage über die Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden, die Stattgabe von Verfassungsbeschwerden und die Unzulässigkeit von konkreten Normenkontrollanträgen. Angesichts des überproportionalen Anteils von Verfassungsbeschwerdeverfahren kann man daher durchaus von einem Vorrang der Kammerzuständigkeit sprechen.[209]