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cc) Das Kammerverfahren als Machtressource

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Das Kammerverfahren erfüllt für das Gericht aber auch noch eine zweite, wichtigere Funktion. Es dient als Machtressource gegenüber der Fachgerichtsbarkeit, die im Vergleich zu den übrigen europäischen Verfassungsgerichten einzigartig ist. Das Kammerverfahren verstärkt den Einfluss und die Gestaltungsmacht des BVerfG dadurch, dass es eine beschleunigte Reaktion auf Rechtsprechungsentwicklungen in der Fachgerichtsbarkeit ermöglicht. Die Entscheidungen im Kammerverfahren stehen einer Senatsentscheidung gleich und entfalten daher volle Bindungswirkung gegenüber allen Verfassungsorganen.[225] Zwar ist die Normverwerfung mit Gesetzeskraft dem Senat vorbehalten.[226] Dies hindert die Kammern allerdings nicht, sich außerhalb des Tenors, d.h. in der Begründung über die Vereinbarkeit eines Gesetzes dem Grundgesetz oder seine verfassungskonforme Auslegung zu äußern.[227] Hierüber gelingt es dem BVerfG, die Konturen des verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes stetig zu verfeinern. Insbesondere die Möglichkeit der stattgebenden Kammerentscheidung verschafft dem BVerfG wichtige Ressourcen. Stattgebende Kammerentscheidungen dienen einerseits der Effektuierung des Rechtsschutzes in fachgerichtlichen Verfahren und andererseits der Nachjustierung der Grenzen von Eingriffsmöglichkeiten in Grundrechtspositionen.[228] Das BVerfG wird dabei in einer Vielzahl von Rechtsgebieten korrigierend tätig und präzisiert zugleich seine Anforderungen an den Grundrechtsschutz. Das Kammerverfahren stellt dem BVerfG also ein Instrument zur Verfügung, mit dem es zeitnah korrigierend und präzisierend auf die Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit einwirken kann.

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Dadurch dient das Kammerverfahren zugleich als Hebel zur Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. Durch die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerden gegen Urteile der Fachgerichtsbarkeit auch im Kammerverfahren stattzugeben, sichert sich das BVerfG einen umfassenden Zugriff auf die Fachgerichtsbarkeit. Es vermag auf diesem Wege sicherzustellen, dass die eigene Verfassungsinterpretation auch im fachgerichtlichen Verfahren Berücksichtigung findet. Der effektive Zugriff auf die Fachgerichtsbarkeit erfolgt auf zweierlei Weise. Zum einen ermöglicht das Kammerverfahren strukturell eine effizientere und vor allem umfassende Bearbeitung aller eingehenden Urteilsverfassungsbeschwerden. Zum anderen beschränkt sich das Gericht in der Praxis oftmals nicht auf einen bloßen Nachvollzug bestehender Verfassungsrechtsprechung, sondern begründet die Kammerentscheidungen ausführlich.[229] Dabei hat auch die Kammerrechtsprechung selbst nicht selten präjudizielle Wirkung, die ihr gemäß der nachvollziehenden Funktion der Kammern eigentlich nicht zukommen sollte.[230] In Bezug auf die möglichst flächendeckende Durchsetzung verfassungsgerichtlicher Standards ist diese umfassende Begründungsstrategie aber überaus wirkmächtig.

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Schließlich nutzt das Gericht das Kammerverfahren zu einer oftmals sehr weit gefassten verfassungskonformen Auslegung.[231] Dadurch erhält das BVerfG auch einen eigentlich kompetenzwidrigen Zugriff auf die Auslegung des einfachen Rechts und baut damit seine zentrale Stellung aus.[232] Das Kammerverfahren ist daher weit mehr als nur ein interner Mechanismus zur Verbesserung der Arbeitsabläufe. Eine seiner wesentlichsten Funktionen ist es vielmehr, die Durchsetzung verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zu sichern und die Orientierungswirkung der Entscheidungen des BVerfG zu verstärken.

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