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cc) Konstitutionalisierung durch das Wechselspiel von Subjektivierung und Objektivierung

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Die Verfassungsbeschwerde öffnete dem BVerfG auch über die Urteilsverfassungsbeschwerde hinaus Räume zur Ausgestaltung der Grundrechtsordnung. Es nutzte die Verfassungsbeschwerde in einer charakteristischen Kombination aus Objektivierung subjektiver Verfassungsrechtspositionen und Subjektivierung objektiver Verfassungsnormen. Durch diese Kombination erweiterte es seinen Einflussbereich kontinuierlich.

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Repräsentativ für die Subjektivierung objektiven Verfassungsrechts ist das Elfes-Urteil.[305] Darin ermöglichte das BVerfG die subjektive Beanstandung der Verletzung objektiver Verfassungsnormen durch die Geltendmachung eines Individualgrundrechts und betonte die objektiv-rechtliche Bedeutung der Verfassungsbeschwerde.[306] Inhaltlich ging es um die Ausreisefreiheit eines pazifistischen Gegners der deutschen Wiederbewaffnung. Das BVerfG entwickelte die allgemeine Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht, das auch die Ausreisefreiheit umfasste.[307] Die allgemeine Handlungsfreiheit darf danach nur durch eine hoheitliche Maßnahme eingeschränkt werden, die ihrerseits rechtmäßig ist.[308] Dieses weite Auffanggrundrecht ermöglicht es, jede Maßnahme als Verletzung eines Grundrechts zu qualifizieren, die auf einem formell fehlerhaften Gesetz beruht.[309] Diese Verknüpfung der objektiven Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren mit der subjektiven Freiheitsbeschränkung entspricht dem grundgesetzlichen Anliegen, nur demokratisch legitimierte Freiheitseingriffe zuzulassen.[310] Zugleich wird durch die weite Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG aber prinzipiell auch jedes Urteil, das auf einer fehlerhaften Auslegung des einfachen Rechts beruht, zu einer Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit, weil die Freiheit in gesetzwidriger Weise eingeschränkt wird.[311] Hier zeigt sich, dass diese Rechtsprechung zu einer Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten des BVerfG führt.[312] Das BVerfG entwickelt aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht nur einen Anspruch auf verfassungsmäßige Gesetzgebung, sondern auch auf fehlerfreie Rechtsprechung.[313] Damit eröffnet sich das Gericht selbst die Möglichkeit, jederzeit auch im Rahmen der Verfassungsbeschwerde das gesamte Verfassungsrecht als Prüfungsmaßstab heranzuziehen.[314] Die weite Konstruktion der allgemeinen Handlungsfreiheit hat den prozessualen Effekt, dass der Einzelne über die Verfassungsbeschwerde nicht nur die Verletzung eines Grundrechts geltend machen kann, sondern die vollumfängliche Verfassungsmäßigkeit jedes Gesetzes überprüfen lassen kann.[315] Das BVerfG selbst hat die Konsequenzen dieser Rechtsprechung inzwischen einzudämmen versucht, indem es eine Verfassungsbeschwerde gegen ein fachgerichtliches Urteil nur für zulässig erachtet, wenn es um die Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts“ geht.[316] Der Fehler der Fachgerichtsbarkeit muss demnach „gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen“.[317] Diese Einschränkungen erhalten dem BVerfG allerdings einen erheblichen Spielraum bei der konkreten Bewertung der fachgerichtlichen Rechtsprechung. Es bleibt daher bei dem Befund, dass das BVerfG im Elfes-Urteil den eigenen Wirkungskreis durch die Subjektivierung objektiver verfassungsrechtlicher Anforderungen erweitert hat.

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Ein jüngeres Beispiel für die Technik der Subjektivierung ist die Interpretation von Art. 38 Abs. 1 GG seit dem Maastricht-Urteil.[318] Es fällt noch vergleichsweise leicht, der Garantie allgemeiner, gleicher und freier Wahlen zum Deutschen Bundestag ein subjektives Recht zu entnehmen, an der Wahl der Abgeordneten teilzunehmen.[319] In diese Vorschrift aber ein subjektives Recht erkennen zu wollen, dass die Kompetenzen des Deutschen Bundestages im Zuge der Europäischen Integration nicht „entleert“ werden dürfen, fällt angesichts des Wortlauts schwer.[320] Über Art. 38 Abs. 1 GG kann nach der Rechtsprechung des BVerfG genau dies geltend gemacht werden, weil die Vorschrift die Einhaltung „des demokratischen Prinzips“ verlange, das aus Sicht des BVerfG seit dem Lissabon-Urteil zentral mit dem Schutz einiger „integrationsfester Bereiche“ einhergeht.[321] Das BVerfG macht sich hier die prozessualen Möglichkeiten der Verfassungsbeschwerde als Individualbeschwerde zunutze. Indem es das von ihm konzipierte „demokratische Prinzip“ des Grundgesetzes über Art. 38 GG subjektiviert, eröffnet es sich selbst die Möglichkeit zur umfassenden Kontrolle der Europäisierung und etabliert sich dadurch als ein wesentlicher Akteur der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der europäischen Integration.

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Die Erweiterung der eigenen Zugriffsmöglichkeiten sichert das BVerfG jenseits der spezifischen Technik der Subjektivierung objektiven Verfassungsrechts durch die weite Auslegung des Schutzbereichs vieler Grundrechte oder „die Erfindung“ neuer Grundrechte.[322] Dies eröffnet dem Gericht Zugriff auf eine Vielzahl von Sachverhalten, wobei die verfassungsrechtlichen Anforderungen dann über die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Detail feingesteuert werden.[323] In beiden Fällen macht sich das Gericht den weiten Zugang der Grundrechtsträger zur Verfassungsbeschwerde zu Nutze, um seine eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Die Technik der Subjektivierung objektiver Verfassungsnormen unterscheidet sich allerdings in einem entscheidenden Punkt von der weiten Grundrechtsinterpretation: Sie macht auch verfassungsrechtliche Normen jenseits der Grundrechte einer individuellen Beschwerdemöglichkeit zugänglich und erweitert so die im Grundgesetz vorgesehenen prozessualen Möglichkeiten.

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Die komplementäre Technik ist die der Objektivierung subjektiver Rechte für die das Lüth-Urteil[324] steht. Das Lüth-Urteil enthält zwei entscheidende dogmatische Neuerungen: Es entwickelt aus den subjektiven Einzelgrundrechten eine „Wertordnung“ des Grundgesetzes.[325] Aus dieser Wertordnung leitet das Gericht ab, dass die Grundrechte die gesamte Rechtsordnung durchdringen sollen und daher auch im Verhältnis zwischen Privaten zur Anwendung kommen.[326] Damit erhebt das BVerfG den Anspruch, dass es unter dem Grundgesetz kein verfassungsfreies Handeln unter Privaten gibt. Zugleich legt es der Fachgerichtsbarkeit auf, Grundrechte auch bei der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts in Streitigkeiten zwischen Privaten anzuwenden.[327] Dass dabei die verfassungsgerichtliche Grundrechtsinterpretation als Maßstab dient, versteht sich von selbst. Die Rede von der Wertordnung und später von der objektiven Verfassungsordnung[328] führte zu einer breiten Verankerung der Grundrechte in der Rechtsordnung und im politischen Diskurs.[329] Durch die Technik der Objektivierung subjektiver Rechte förderte das BVerfG die „Verfassungsabhängigkeit der gesamten Rechtsordnung“[330] und effektuierte den unbedingten Vorrang der Verfassung[331]. Es weitete seine Kontrollmöglichkeiten damit entscheidend aus, indem es sich selbst die Interpretationshoheit über den Inhalt der „objektiven Wertordnung“ einräumte[332] und zugleich die prozessualen Voraussetzungen unter Verweis auf die objektivrechtliche Bedeutung lockerte.[333] So schließt das BVerfG etwa die Rücknahme der als Individualbeschwerde ausgestalteten Verfassungsbeschwerde bisweilen unter Verweis auf die objektive verfassungsrechtliche Bedeutung der Beschwerde aus.[334]

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Die prozessualen Folgen der Objektivierung subjektiver Verfassungsrechte werden inzwischen auch durch die gesetzliche Ausgestaltung der Verfassungsbeschwerde reflektiert. Das Annahmeverfahren[335] sieht vor, dass eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen ist, „soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt“[336] oder sie zur Durchsetzung der Grundrechte „angezeigt ist“.[337] Im ersten Fall wird die objektive Dimension der Individualbeschwerde explizit angesprochen, im zweiten Fall verweist das Kriterium des „angezeigt sein“ darauf, dass es auch hier wesentlich um „die Durchsetzung des Grundrechtsschutzes als verfassungsrechtliches Prinzip“ geht.[338] Im Ergebnis führt diese prozessuale Übersetzung der Objektivierung dazu, dass das Gericht trotz eines fehlenden „freien“ Annahmeverfahrens große Freiheiten bei der Annahme von Verfassungsbeschwerden genießt. Es nutzt diese Freiheiten, indem es Verfassungsbeschwerden nicht notwendiger Weise in der Reihenfolge ihres Eingangs behandelt und damit eine Gewichtung des jeweiligen Anliegens vornimmt.[339] Die Objektivierung trägt auf diese Weise zugleich zur notwenigen Entlastung des Gerichts bei, droht der Verfassungsbeschwerde aber auch den Nimbus der „Jedermann“-Beschwerde zu nehmen.[340]

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Im Zusammenspiel eröffnen die Techniken der Subjektivierung und Objektivierung dem BVerfG einerseits die Nutzung der Individualbeschwerde zur Eröffnung der Kontrolle des gesamten Verfassungsrechts und andererseits eine Tiefen- und Breitenwirkung der eigenen Rechtsprechung in der gesamten Rechtsordnung. Der durchschlagende Erfolg beider Auslegungstechniken ist stark kontextabhängig und lässt sich insbesondere aus der umfassenden Kompetenz des BVerfG, der spezifischen politischen Konstellation ihrer Entwicklung[341] und der institutionellen Verselbständigung des BVerfG erklären.[342] Aus diesem Grund ist entsprechenden argumentativen Techniken in anderen Verfassungsordnungen ein vergleichbarer Erfolg vielfach versagt geblieben. So hat die Argumentationsfigur der „objektiven Wertordnung“ beispielsweise in Spanien zwar Nachahmung erfahren, sich aber in einem völlig anderen politischen und philosophischen Umfeld nicht durchgesetzt.[343] Die erfolgreiche Ausgestaltung der Verfassungsbeschwerde, die dem BVerfG gelungen ist, sollte also nicht über deren Kontextabhängigkeit hinwegtäuschen.

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