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a) Bindungswirkung und Durchsetzungsmacht

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Je nach Verfahrensart kann das BVerfG unterschiedliche Entscheidungsaussprüche formulieren. Allen Entscheidungen ist gemeinsam, dass sie als Urteil ergehen, wenn zuvor eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, anderenfalls als Beschluss.[379] Unabhängig vom konkreten Ausspruch in den unterschiedlichen Verfahrensarten binden Entscheidungen des BVerfG nach § 31 Abs. 1 BVerfGG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. In dieser Regelung liegt zunächst eine Erstreckung der Rechtskraft der Entscheidungen auf nicht am Prozess beteiligte Akteure.[380] Uneinig sind sich die beiden Senate bezüglich der Frage, ob der Gesetzgeber an normverwerfende gerichtliche Entscheidungen gebunden ist oder ob er die Freiheit hat, ein inhaltsgleiches Gesetz erneut zu erlassen.[381] Aus demokratietheoretischer Perspektive ist es überzeugend, dem Gesetzgeber die Freiheit zu belassen, eine einmal verworfene Regelung erneut zu erlassen, weil sich die Bindungswirkung selbst nur aus einem einfachen Gesetz ergibt, welches der Gesetzgeber jederzeit ändern könnte.[382]

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Unabhängig davon, wie häufig die Normwiederholung in der Praxis ist,[383] stellt § 31 Abs. 1 BVerfGG ein wichtiges Instrument zur Stärkung der Autorität des Gerichts dar. Nach der Rechtsprechung des BVerfG erfasst die Bindungswirkung nicht nur den Tenor und die Entscheidungsformel, sondern auch die „tragenden Gründe“ seiner Entscheidungen.[384] Das Gericht begründet dies mit seinem Selbstverständnis als „maßgebliche[m] Interpret und Hüter der Verfassung“.[385] Kritik ruft nicht nur die schwierige Abgrenzung zwischen tragenden und nicht tragenden Gründen einer Entscheidung hervor,[386] sondern auch der paternalistische Duktus des zugrundeliegenden Selbstverständnisses[387] und die potenziell versteinernde Wirkung einer solchen Bindungswirkung.[388] Gleichwohl ist es zutreffend in dieser weiten und vom Gesetz zumindest nahegelegten Bindungswirkung eine wichtige Autoritätsressource des BVerfG zu erblicken,[389] die anderen europäischen Verfassungsgerichten nicht zur Verfügung steht oder nicht in gleicher Weise genutzt wurde.[390] In ihrer weiten Lesart sorgt die Bindungswirkung dafür, dass Entscheidungen des BVerfG die öffentliche Gewalt verpflichten und ein Abweichen durch den Gesetzgeber zumindest insoweit rechtfertigungsbedürftig ist, als dieser die grundsätzliche Autorität des BVerfG als zur Verfassungsauslegung berufenes Gericht zu respektieren hat.[391]

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Die Wirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen wird zudem dadurch gestärkt, dass § 31 Abs. 2 BVerfGG die Gesetzeskraft von Normenkontrollentscheidungen[392] anordnet und vorsieht, dass diese Entscheidungen im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen sind. Die Vorschrift stellt klar, dass Normenkontrollentscheidungen über den in § 31 Abs. 1 BVerfGG genannten Kreis hinaus gegenüber jedermann verbindlich sind.[393] Dies dient dazu, die abstrakt-generelle Wirkung von Gesetzen mit den Wirkungen der Normverwerfung zu synchronisieren und die Allgemeinverbindlichkeit der Rechtsordnung zu sichern.[394]

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Schließlich wird die effektive Wirkung der Entscheidungen des BVerfG auf prozessualer Seite durch zwei weitere Regelungen komplettiert. Das BVerfG kann gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG auf die einstweilige Anordnung zurückgreifen, um sicherzustellen, dass die nachfolgenden Entscheidungen tatsächlich wirksam werden und umgesetzt werden können.[395] Überdies kann das BVerfG nach § 35 BVerfGG selbst bestimmen, wer seine Entscheidungen mit welchen Mitteln vollstreckt. Das BVerfG versteht hierunter den „Inbegriff aller Maßnahmen, die erforderlich sind, um solche Tatsachen zu schaffen, wie sie für die Verwirklichung des vom BVerfG gefundenen Rechts notwendig sind“.[396] Diese Bestimmung ist gleichwohl nicht als Blankovollmacht des BVerfG zu verstehen, nach Belieben die verfassungsrechtliche oder gesetzliche Kompetenzordnung zu durchbrechen.[397] Auch das BVerfG ist bei der Ausübung seiner Vollstreckungskompetenz verfassungsrechtlich und gesetzlich gebunden.[398] Die Vorschrift dient dazu, den Vorrang der Verfassung prozessual abzusichern.[399] Das BVerfG hat von dieser Vorschrift inzwischen weitreichend Gebrauch gemacht[400] und sie in einer Weise genutzt, die stilprägend für die Form seiner Entscheidungen geworden ist und inhaltlich über die effektive Durchsetzung derselben hinausgeht.[401]

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