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aa) Der Einfluss auf Fachgerichtsbarkeit und Legislative durch die Normenkontrolle

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Die zweithöchsten Verfahrenszahlen nach der dominanten Verfassungsbeschwerde erreichen die Normenkontrollverfahren, die mit insgesamt 1405 Verfahrenserledigungen zwischen 1951 und 2013 deutlich vor dem Organstreitverfahren rangieren, das im gleichen Zeitraum auf nur 104 Verfahrenserledigungen kommt.[348] Obwohl viele der öffentlich besonders umstrittenen Entscheidungen in dieser Verfahrensart ergingen, ist sie in der deutschen Verfassungsordnung etwas weniger zentral als im europäischen Vergleich. Auffallend ist vor allem, dass ihre Bedeutung im Vergleich zu anderen post-diktatorischen Verfassungsordnungen geringer ist,[349] obwohl diese Verfahrensart erst 1949 nach der einschneidenden Diktaturerfahrung Eingang in die deutsche Verfassungsordnung fand.[350] Ein wesentlicher Grund für die geringere Bedeutung dieser Verfahrensart in Deutschland ist, dass die Verfassungsbeschwerde als einfach zugängliches Verfahren mit Breitenwirkung sowohl indirekt als auch direkt eine Kontrolle einfachgesetzlicher Normen am Maßstab der Verfassung ermöglicht. Die expliziten Normenkontrollverfahren sind in der deutschen Verfassungsrechtsordnung daher weder die einzigen noch notwendiger Weise die effektivsten Wege, um die Verfassungsmäßigkeit einer Norm prüfen zu lassen. Zudem eröffnen die Verfahren der Normenkontrolle dem BVerfG nicht die gleichen Spielräume, wie dies bei der Verfassungsbeschwerde der Fall ist.

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Allerdings ist der für die Verfassungsbeschwerde herausgearbeitete Gedanke, dass eine Kontrolle der Gesetze am Maßstab der Verfassung grundsätzlich Aufgabe aller Fachgerichte ist und dass die Fachgerichte an die Verfassungsauslegung durch das BVerfG gebunden sind, im Bereich der Normenkontrolle ausdrücklich im Grundgesetz normiert. Art. 100 Abs. 1 GG verpflichtet die Fachgerichte zur Vorlage entscheidungserheblicher Normen an das BVerfG, wenn sie diese Normen für verfassungswidrig halten.[351] Dieses inzidente Normenkontrollverfahren setzt voraus, dass jeder Richter grundsätzlich befugt und verpflichtet ist, einfaches Recht auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung zu prüfen. Das deutsche Verfassungsrecht setzt die dezentrale Normenkontrolle also voraus.[352]

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Umgekehrt zentralisiert das Verfahren der inzidenten Normenkontrolle die Verwerfungskompetenz für Gesetze beim BVerfG. Nur das BVerfG ist befugt, über die Gültigkeit von Gesetzen zu entscheiden.[353] Das Verfahren dient somit dem Schutz des parlamentarischen Gesetzgebers davor, dass durch ihn gesetztes Recht von Fachgerichten missachtet wird, weil es von diesen für verfassungswidrig gehalten wird.[354] Zudem sichert diese Ausgestaltung des Normenkontrollverfahrens den Vorrang der Verfassung sowohl vor einfachem Bundesrecht als auch vor einfachem Landesrecht prozedural ab.[355] Dieser Vorrang kann potenziell in jedem fachgerichtlichen Verfahren mit Hilfe des BVerfG durchgesetzt werden. Hierin liegt die eigentliche Stärke des Normenkontrollverfahrens. Die inzidente bzw. konkrete Normenkontrolle leistet dadurch einen wichtigen Beitrag zur Wirkungsmacht des BVerfG, denn es sieht neben der Verfassungsbeschwerde ein zweites, vergleichsweise einfach zugängliches Verfahren vor, mit dem das BVerfG weit in den Entscheidungsbereich der Fachgerichtsbarkeit hineinwirken kann.[356] Insbesondere die Prüfung der Frage, wann die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm im fachgerichtlichen Verfahren entscheidungserheblich ist, öffnet dem BVerfG die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Auslegung des einfachen Rechts und die Gestaltung des fachgerichtlichen Prozesses.[357]

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Ergänzt wird die inzidente Normenkontrolle durch das Verfahren der prinzipalen bzw. abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i.V.m. § 76 BVerfGG, das mit 112 Verfahrenserledigungen nur rund 8% aller Normenkontrollverfahren seit 1951 ausmacht. Funktional steht die abstrakte Normenkontrolle der Verfassungsbeschwerde ferner als die konkrete Normenkontrolle. Im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle können die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages beim BVerfG die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm beantragen. Damit ist die abstrakte Normenkontrolle in erster Linie ein Instrument der politischen Opposition zur Kontrolle der parlamentarischen Mehrheit auf Bundesebene.[358] Die antragsbefugten Organe können das BVerfG mit der Normenkontrolle beauftragen, sobald sie Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm haben.[359] Es handelt sich bei der abstrakten Normenkontrolle um ein rein objektives Verfahren ohne Antragsgegner und Antragsfrist.[360] Daran wird deutlich, dass es in erster Linie der Sicherung des Vorrangs der Verfassung dient. Zugleich ermöglicht die abstrakte Normenkontrolle politischen Minderheiten, das BVerfG bei der Austragung politischer Konflikte zu mobilisieren. Dies geschieht allerdings indirekt, weil im Vordergrund die Durchsetzung des objektiven Verfassungsrechts und nicht einzelner Rechtspositionen der beteiligten Organe steht. Einen direkteren Zugriff auf den politischen Prozess erlaubt dagegen das Organstreitverfahren.

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