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bb) Justizialisierung politischer Konflikte im Organstreitverfahren
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Im Organstreitverfahren können einzelne Organe oder Organteile Streitigkeiten über ihre verfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten einer Entscheidung durch das BVerfG zuführen.[361] Es handelt sich um ein kontradiktorisches Streitverfahren.[362] Grundsätzlich kann dabei jedes Organ diejenigen Rechte und Pflichten geltend machen, die seinem Verfassungsrechtskreis zuzuordnen sind.[363] Im Zentrum stehen Kompetenzstreitigkeiten.[364] Das Organstreitverfahren dient nicht primär der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Organhandeln, sondern in erster Linie der Klärung des verfassungsrechtlichen Verhältnisses zwischen zwei Organen oder Organteilen in einer konkreten Streitfrage.[365] Mögliche Beteiligte des Organstreitverfahrens sind neben den obersten Bundesorganen[366] auch „andere Beteiligte“ und Organteile. Als Organteil wird eine Person oder Personengruppe innerhalb eines Organs qualifiziert, die über eigene Rechte verfügt, wie etwa der Bundestagspräsident (Art. 39 Abs. 3 Satz 2 und Art. 40 Abs. 2 GG), die Mitglieder der Bundesregierung[367] und die Ausschüsse und Fraktionen im Bundestag.[368] Auch die Abgeordneten können Organteil sein, wenn sie Rechte des gesamten Bundestages geltend machen.[369]
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Die Funktion des Organstreitverfahrens erklärt sich aus seinen historischen Ursprüngen in der ersten Hälfte 19. Jahrhunderts. Damals kam dem Staatsgerichtshof die Aufgabe zu, Streitigkeiten zwischen dem Landesherr und Ständen bzw. der Volksvertretung zu entscheiden, die sich auf den Inhalt oder die Auslegung der jeweiligen Verfassung bezogen.[370] Es ging dabei insbesondere um die gerichtliche Entscheidung von Kompetenzstreitigkeiten. Das Organstreitverfahren stellt ein deutsches Spezifikum dar, das sich trotz dieser historischen Vorläufer erst unter dem Grundgesetz wirkungsvoll durchsetzte. Zwar sah die Paulskirchenverfassung 1849 ein Organstreitverfahren auf Reichsebene vor. Die tatsächlich in Kraft getretenen Verfassungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten den Organstreit allerdings wieder aufgegeben, weil sich die Kritik an einer richterlichen Entscheidung über Fragen politischer Machtverteilung letztlich durchsetzte.[371] Erst unter dem Grundgesetz setzte sich die Idee durch, dass Verfassungsstreitigkeiten über die Kompetenzen verschiedener Verfassungsorgane keine rein politische Frage sind, sondern einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden sollten.
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Die politische Bedeutung der Streitigkeiten wird dadurch aber nicht beseitigt. Das Organstreitverfahren ermöglicht vielmehr unmittelbar die gerichtliche Austragung parteipolitischer Streitigkeiten. Dies dokumentieren auch die kontroversen und für die Fortentwicklung des politischen Prozesses bedeutenden Entscheidungen etwa zur Parteienfinanzierung,[372] zur Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr[373] und der parlamentarischen Mitbestimmung bei der europäischen Integration.[374] Das BVerfG kann mit Hilfe des Organstreitverfahrens in den Kernbereich politischer Auseinandersetzungen eingreifen. Dadurch übernimmt es eine Schlichtungsfunktion zwischen der parlamentarischen Mehrheit und der parlamentarischen Minderheit. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass als „andere Beteiligte“ auch politische Parteien anerkannt sind[375] und dass Minderheiten im Bundestag unter bestimmten Umständen als „Organteile“ beteiligt sein können.[376] Das Organstreitverfahren erfüllt vor diesem Hintergrund die Funktion, sicherzustellen, dass die Ergebnisse gesellschaftlicher Willensbildungsprozesse im demokratisch-politischen System Ausdruck finden können.[377] Letztlich stellt das Organstreitverfahren damit eine prozedurale Möglichkeit zur Verwirklichung des Demokratieprinzips dar, die es ermöglicht, dass jedes Organ seine ihm zukommende demokratische Funktion im Zusammenspiel mit anderen Organen optimal ausgestalten und gegen Übergriffe durch andere Organe sichern kann.[378] Die Rationalisierungswirkung, die darin liegt, birgt aber zugleich auch die Gefahr der Entpolitisierung politischer Konflikte.
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Für die Wirkungsmacht und die große Akzeptanz des BVerfG sind die prozessuale Ausgestaltung der jeweiligen Verfahrensarten und ihre spezifische Kombination von erheblicher Bedeutung. Die Verfassungsbeschwerde sticht durch die zahlenmäßigen Bedeutung, die Breitenwirkung und die Identifikationskraft heraus. Wirklich schlagkräftig wird das BVerfG aber erst durch die Kombination der Verfassungsbeschwerde insbesondere mit den Normenkontrollverfahren und den Organstreitverfahren, die dem BVerfG Bedeutung als Schlichtungsorgan im politischen Raum verleihen und den Vorrang der Verfassung prozeduralisieren.
§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › II. Das aktuelle rechtliche Setting: Kammergericht – Bürgergericht – Maßstabsgericht › 3. Die Entscheidung: Gestaltungsanspruch und Rationalisierung