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b) Entscheidungsabsicherung durch Übergangsregelungen, Maßstabsbildung und Kohärenzerfordernisse

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Das BVerfG hat seine Vollstreckungskompetenz vor allem dazu genutzt, im Bereich der Normenkontrollentscheidungen Übergangsregelungen einzuführen, die dafür Sorge tragen sollen, dass aus der Feststellung der Nichtigkeit einer Norm auch dann Konsequenzen erwachsen, wenn der Gesetzgeber nicht aktiv wird. In Ergänzung hierzu hat es mit der bloßen Erklärung der Verfassungswidrigkeit eine in Gesetz und Verfassung nicht vorgesehene Entscheidungswirkung erfunden, die es ihm erlaubt zu verhindern, dass bis zur gesetzlichen Neuregelung unerwünschte Nebeneffekte eintreten. Das BVerfG beschränkt die Entscheidung auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm und ordnet deren befristete Weitergeltung an, wenn durch die Nichtigkeit der Norm ungewollte Beeinträchtigungen des Gemeinwohls eintreten.[402] Ähnliche Techniken lassen sich in der Entscheidungspraxis anderer europäischer Verfassungsgerichte nachweisen, die unter Rückgriff auf vergleichbare Argumente die Entscheidungswirkungen feinsteuern.[403] Zur Feinsteuerung gehört auch, dass das BVerfG die Erklärung der Verfassungswidrigkeit bisweilen mit einem Appell zur Neuregelung an den Gesetzgeber verbindet.[404]

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In anderen Fällen hat das BVerfG dagegen nach der Nichtigkeitsfeststellung selbst detaillierte Übergangsregelungen festgelegt, die einer positiven gesetzlichen Regelung nahe kommen. Prägnanteste Beispiele hierfür sind die Entscheidung zur Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch (§ 218 StGB)[405] und die Übergangsregelung nach der Nichtigkeitsfeststellung der bisherigen Regelungen zur Bestimmung der Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.[406] In den Urteilen zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs hatte das BVerfG zunächst die vom Gesetzgeber eingeführte neue Fristenregelung für nichtig erklärt und bis zu einer Neuregelung angeordnet, dass der Schwangerschaftsabbruch weiter strafbar bleiben müsse, allerdings nicht nach der strikten früheren gesetzlichen Regelung, sondern in einer durch das BVerfG modifizierten Form. Im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch legte das Gericht eine umfassende Übergangsregelung fest, die im Detail vorsah, wie das neue Beratungssystem für Schwangere organisatorisch und inhaltlich auszusehen habe. Der Gesetzgeber übernahm diese Übergangsregelung später im Wesentlichen. Im Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz hat das BVerfG eine Übergangsregelung zur Sicherstellung der existenziellen Bedürfnisse der Betroffenen in Anlehnung an das Regelbedarf-Ermittlungsgesetz getroffen, das der Gesetzgeber in Reaktion auf das Urteil des Gerichts zur Bemessung der Höhe der Leistungen zur sozialen Grundsicherung erlassen hatte.[407] Hintergrund der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz war, dass das Asylbewerberleistungsgesetz zuvor mit pauschalen Bedarfssätzen gearbeitet hatte, die im Wesentlichen seit 1993 unverändert geblieben waren. Das BVerfG führte aus, dass die bislang – trotz mehrfacher Ankündigung – nicht erfolgte und auch nicht absehbare Neuregelung des Asylbewerberleistungsgesetzes durch den Gesetzgeber eine abstrakt-generell wirkende Übergangsregelung notwendig mache, um das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum zu sichern.[408] Mit der Übergangsregelung hob das Gericht die Leistungen für Asylbewerber auf das Niveau der Sozialhilfe an.[409]

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Für diese detaillierte Gestaltung von Übergangsregelungen hat das BVerfG viel Kritik erfahren, die vor allem den Übergriff des Gerichts in die Sphäre des parlamentarischen Gesetzgebers problematisiert.[410] Ähnliche Kritik wird etwa dem ungarischen Verfassungsgericht mit Blick auf seine Praxis der verfassungskonformen Auslegung entgegengebracht, die tatsächlich bisweilen eine detaillierte Modifizierung des bisher geltenden Rechts darstellt.[411] Diese Kritik ist aus demokratietheoretischen Erwägungen heraus gerechtfertigt, weil die Richter hier nicht nur in das gesetzgeberische Handeln eingreifen, sondern weitreichende eigene Regelungen anstelle des Gesetzgebers formulieren. Für das BVerfG haben sich die Übergangsregelungen gleichwohl als effektives Instrument erwiesen, seine Verfassungsauslegung im gesetzgeberischen Alltag zu verankern. In den beiden hier hervorgehobenen Fällen hat der Gesetzgeber die Übergangsregelung später im Wesentlichen in die gesetzliche Regelung übernommen. Fälle, in denen der Gesetzgeber losgelöst von der Übergangsregelung eine Neuregelung konzipiert, finden sich dagegen kaum.

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Nicht nur über den Entscheidungsausspruch, sondern auch bei der Entscheidungsbegründung hat das BVerfG Techniken entwickelt, die seinen Einfluss vor allem auf die Legislative stärken. Zentral ist die sogenannte Maßstabsbildung,[412] im Wege derer das BVerfG vor der Entscheidung eines konkreten Einzelfalles zunächst die verfassungsrechtlichen Vorgaben abstrakt zusammenfasst. Eine ähnliche Technik zeigt sich auch bei anderen Verfassungsgerichten, etwa in Ungarn in Form „konsolidierende[r] Entscheidungen“.[413] Sie erfüllen eine für die verfassungsgerichtliche Entscheidungspraxis wichtige Konkretisierungsfunktion. So bemüht sich auch der EGMR in seiner Rechtsprechung zunehmend um die Entwicklung abstrakter Maßstäbe, die die Konventionsvorschriften konkretisieren und den Einfluss der durch ihn vorgenommenen Interpretation im Zusammenspiel mit nationalen Institutionen stärken.[414] Besondere Qualität haben allerdings der Duktus und der Umfang der Maßstäbe, die das BVerfG entwickelt hat. Sie werden in einem eigenständigen Abschnitt entwickelt, den das BVerfG, typischer Weise bei der Grundrechtsprüfung, der Beurteilung des eigentlichen Sachverhalts voranstellt. Er enthält lehrbuchartige Ausführungen zur Konkretisierung der Verfassungsnorm, die im Stil weniger judikativ als vielmehr wissenschaftlich und mitunter sogar verfassungspolitisch vorgetragen werden. Dies trägt wesentlich zur Erleichterung der Rezeptionsfähigkeit in der Staatsrechtslehre sowie im politischen Diskurs bei und macht die Maßstabsbildung für das BVerfG zu einem besonders effektiven Instrument.

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Dem Gericht gelingt bei der Maßstabsbildung eine taktische Meisterleistung: Es schafft eine Zwischenebene zwischen Verfassungsrecht und Gesetzesrecht, die einerseits Verfassungsnormen operationalisiert und konkretisiert und zugleich die vom Gericht selbst in früheren Fällen gefundenen Interpretationsergebnisse normativ aufwertet.[415] Sie werden zu einer Art „Para-Verfassungsrecht“, auf dessen Fortentwicklung nur das Gericht selbst Einfluss nehmen kann, weil sie dem verfassungsändernden Gesetzgeber in weiten Teilen entzogen sind.[416] Dadurch erweitern sie die Entscheidungsmacht des BVerfG erheblich.[417] Dieser Effekt ist auf die Nutzung der Maßstabsbildung durch das Gericht zur allgemeinen lehrbuchartigen Darlegung seiner verfassungspolitischen Vorstellungen zurückzuführen. Diese Selbstermächtigung lässt sich als konsequente Fortentwicklung der Selbstbezeichnung als „Verfassungsorgan“ deuten. Durch die Maßstabsbildung wird der Vorrang der Verfassung zwar einerseits effektuiert, andererseits droht er dadurch aber auch zum Vorrang des BVerfG zu mutieren, das ihn nunmehr inhaltlich und institutionell verkörpert. Maßstabsbildung ist insofern zwar ein überaus effektives Instrument, weil sie wesentlich dazu beiträgt, verfassungsrechtliche Erwägungen in den politischen Entscheidungsprozess einzuspeisen. Sie ist aber zugleich normtheoretisch und verfassungspolitisch problematisch, weil sie in ihrer extensiven und elaborierten Nutzung durch das BVerfG einen neuen Normtypus kreiert, der dem demokratischen Prozess entzogen ist.[418] Zugleich droht jede Maßstabsbildung Versteinerungstendenzen Vorschub zu leisten. Gerade weil bei der Maßstabsbildung die Auslegungsergebnisse entkontextualisiert und abstrahiert werden, beraubt sich das Gericht eines gehörigen Maßes an Flexibilität, wenn es um die Anwendung desselben Grundrechts in neuen Konstellationen geht.[419] Umgekehrt ist es genau dieser Zusammenhang, der Maßstäbe zu einer wertvollen Autoritätsressource macht. Sie tragen nicht nur zur Erwartungsstabilisierung bei, sondern erlauben dem Gericht vor allem, schon im Ansatz den Anschein zu verhindern, dass seine Entscheidungen irgendwie durch außerrechtliche Aspekte, sei es die Richterpersönlichkeit oder politische Erwägungen, getragen sind. Die Maßstabsbildung des BVerfG ist daher ein überaus wirksames Instrument, um die Aura der Unabhängigkeit zu stärken und etwaige außerrechtliche Einflussfaktoren, wenn nötig, zu verschleiern.

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Das Instrument, mit dem das BVerfG bei Anwendung der verfassungsrechtlichen Vorgaben auf den einzelnen Fall Kohärenz herstellt, ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dieses Prinzip hat weltweiten Ruhm und Nachahmung erfahren;[420] die Funktion, die es in der Rechtsprechung des BVerfG erfüllt, ist gleichwohl kontextgebunden, weil sein Erfolg gleichermaßen auf schon bestehender Akzeptanz des Gerichts wie auf prozessualen Bedingungen beruht.[421] Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erlaubt es dem Gericht, politische Erwägungen des Gesetzgebers und empirische Fragen der Normwirkung in strukturierter Form bei der Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Frage zu berücksichtigen.[422] Die grundrechtsbezogene Überprüfung von Gesetzen folgt dadurch einem strukturierten Prüfungsschema.[423] Die Kompetenzfülle des Gerichts und die breite Geltung der Grundrechte durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bewirkt, dass das Argumentationsraster der Verhältnismäßigkeit in alle Bereiche staatlicher Organisation einwirkt. Besonders markant ist der Einfluss auf den politischen Prozess. Die Verhältnismäßigkeit dient als Rationalitätskontrolle dazu, „systematische Fehler des politischen Prozesses zu korrigieren“.[424] Sie verlangt dem Gesetzgeber dabei ab, Entscheidungen zu treffen, die konsistent sind und passgenau das angestrebte Regelungsziel verfolgen.[425] Dabei ersetzt das Gericht nicht selten empirische Annahmen des Gesetzgebers durch seine eigenen.[426] Durch diese Anforderungen verlieren typisch politische Rechtfertigungs- und Entscheidungsstrukturen an Bedeutung, weil sie sich stets am Maßstab verfassungsrechtlicher Rationalität messen lassen müssen.[427] Die Rationalitätskontrolle des BVerfG verändert den politischen Prozess tiefgreifend, wenn sie dem gesetzgeberischen Handeln inzwischen auch Folgerichtigkeit, Kohärenz und Widerspruchsfreiheit[428] abverlangt, ohne deren Bedeutung demokratietheoretisch zu reflektieren. Ob Gesetzgebung überhaupt kohärent und widerspruchsfrei sein muss, ist selbst eine politische Frage. Die Ausgestaltung der Rationalitätskontrolle ruht daher auf impliziten Vorverständnissen über die Funktion demokratischer Gesetzgebung, die den notwendig unvollkommenen Kompromisscharakter politischer Entscheidungen zu wenig berücksichtigen.[429] Im politischen Alltag ist die verfassungsgerichtliche Rationalitätskontrolle gleichwohl außerordentlich wirksam. Der politische Prozess greift die verfassungsgerichtlich entwickelten Kriterien bereitwillig auf, entlasten sie ihn doch selbst von mitunter unbequemen politischen Rechtfertigungslasten.[430]

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Das Gericht nutzt die Entscheidung somit auf mehreren Ebenen zur Absicherung seiner zentralen Rollen im verfassungsrechtlichen und politischen Prozess in Deutschland. Auf der Ebene des Entscheidungsausspruchs nimmt es sich die Freiheit zur flexiblen Ausgestaltung bis hin zur Anordnung quasi-legislativer Übergangsregelungen. Auf der Ebene der Entscheidungsbegründung nutzt es die Maßstabsbildung zur Erhöhung der eigenen Glaubwürdigkeit und zur Abschirmung seiner Interpretationshoheit. Über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Rationalitätskontrolle erfolgt schließlich eine verfassungsrechtliche Imprägnierung der politischen Argumentationskultur. Dass diese gelingen konnte, hat auch mit der Präsentation der gerichtlichen Entscheidungsfindung und ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung zu tun.

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