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1. Finnland als autonomes Großherzogtum

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In der finnischen Verfassungsgeschichte stellte die Zeit unter russischer Herrschaft (1809–1917) eine prägende Phase dar. Russland eroberte Finnland von Schweden und fügte es seinem Reich als autonomes Herzogtum ein. Auf der Versammlung von Porvoo im Jahre 1809 bestätigte Alexander I. feierlich die „grundlegenden Gesetze“ und die „Verfassung“ Finnlands. Aber was die „grundlegenden Gesetze“ und die „Verfassung“ des Großherzogtums waren, war alles andere als klar. Das moderne Konzept einer Verfassung, im Sinne eines „Gesetzes der Gesetze“, also eines Gesetzes, das hierarchisch der einfachen Gesetzgebung übergeordnet ist, hatte noch nicht eindeutig Wurzeln in Schweden oder Russland geschlagen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts begannen finnische Rechtswissenschaftler und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens die Ansicht zu vertreten, dass zwei schwedische Verfassungsgesetze gemeint seien, die in Schweden allerdings bereits 1809 aufgehoben worden waren: die „Regierungsform“ (Regeringsformen) von 1772 und das „Vereinigungs- und Sicherheitsstatut“ (Förenings- och Säkerhetsstadgan) von 1789. Diese Auslegung wurde zwar von den russischen Behörden nie offiziell anerkannt, spielte aber eine entscheidende Rolle in der Verteidigung der Autonomie Finnlands, insbesondere nach dem Beginn der Russifizierung an der Wende zum 20. Jahrhundert. Diese Verteidigung wurde vor allem unter dem Banner des Verfassungsrechts unter Berufung auf die schwedischen Verfassungsgesetze geführt, deren fortdauernde Gültigkeit – so das finnische Argument – Alexander I. bestätigt hatte.[1]

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Zur Zeit der Separation Finnlands von Schweden war auch das verfassunggebende Verfahren unklar. Die schwedische „Regierungsform“ (Regeringsformen) von 1772 ließ diese Frage offen, jedoch war dies bis 1863, als die Ständeversammlung (als Vorläufer des finnischen Parlaments) zum ersten Mal seit 1809 zusammentrat, von eher akademischem Interesse. Spätestens 1869 erübrigte sich diese Frage durch den Erlass der Parlamentsordnung. Diese legte fest, dass Verfassungsgesetze und deren Abänderung oder Aufhebung einer Initiative des Zaren und Großherzogs sowie der einstimmigen Entscheidung aller vier Stände bedurfte. Die Parlamentsordnung bezeichnet sich selbst als Verfassungsgesetz. Welche anderen Gesetze den gleichen Status hatten, blieb jedoch bis zum Ende der russischen Herrschaft ungeklärt. Was die Parlamentsordnung ausdrücklich festlegte, war die Ausdehnung des Verfahrens für Verfassungsänderungen auf die Regulierung spezieller Privilegien der vier Stände. Dementsprechend betrafen zwei Drittel der Vorschläge in der Zeit von 1863 bis 1906, auf die das qualifizierte Verfahren angewandt wurde, solche Privilegien.[2]

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Nach der Russischen Revolution des Jahres 1905 kam es zu einer neuen Parlamentsordnung. Dieses Gesetz genoss – wie sein Vorgänger – ausdrücklich Verfassungsstatus. Anstrengungen von finnischer Seite für eine umfangreiche Verfassungsreform, einschließlich einer neuen „Regierungsform“ scheiterten allerdings am Widerstand des Zaren und seiner Berater. Zusätzlich zur Parlamentsordnung wurde jedoch ein separates Verfassungsgesetz erlassen, das einige politische Grundrechte, z.B. die Rechte auf Versammlung, Vereinigung und Meinungsäußerung, bestätigte.

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Die Parlamentsordnung von 1906 ersetzte die (bisherige) Ständeversammlung durch ein modernes, mit einem Männer und Frauen einbeziehenden allgemeinen Stimmrecht gewählten Einkammerparlament. Gleichzeitig trat ein neues Verfahren der Verfassungsänderung in Kraft. Ein Vorschlag zur Verabschiedung, Änderung oder Aufhebung eines Verfassungsgesetzes bedurfte demnach zwei Lesungen des Parlaments, wobei in der zweiten Lesung eine Zweidrittelmehrheit erforderlich war. Jedoch konnte der Vorschlag auch in einer einzigen Lesung mit der gleichen Mehrheit beschlossen werden, wenn eine Fünfsechstelmehrheit den Vorschlag für dringlich erklärt hatte. Diese Bestimmungen bezüglich des qualifizierten Verfahrens sind in den nachfolgenden Verfassungsreformen unverändert geblieben.

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Die verfassungsrechtliche Möglichkeit, sogenannte Ausnahmegesetze[3] zu erlassen, war für die Entwicklung des finnischen Systems der Verfassungskontrolle entscheidend. Solche Ausnahmegesetze sind ein Spezifikum der finnischen Verfassung und erklären sich aus den besonderen Umständen der russischen Herrschaft. Dieses Instrument erlaubt die Verabschiedung von Ausnahmen von der Verfassung durch ein Gesetz, das durch das für Verfassungsänderungen notwendige qualifizierte Verfahren angenommen wurde, lässt jedoch die betreffende(n) Verfassungsbestimmung(en) unberührt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war politisch keine umfassende Verfassungsreform möglich, die für die finnischen Interessen günstig gewesen wäre. Als Zar Alexander I. die Ständeversammlung 1863 einberief, hegte die finnische politische Elite die Idee einer umfassenden Verfassungskodifikation. Es kam jedoch nur zur Parlamentsordnung von 1869. Im Jahr 1886 reichte ein Komitee, das eingesetzt worden war, um die Erlasse betreffend den Rechtsstatus Finnlands zu kodifizieren, seinen Bericht ein, der einen Vorschlag für eine neue „Regierungsform“ enthielt. Die nachfolgenden Debatten veranschaulichten die große Diskrepanz der Ansichten zwischen der russischen und der finnischen Seite, als deren Folge der Vorschlag in St. Petersburg ad acta gelegt wurde.

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In dieser verfassungsrechtlichen Pattsituation zogen die finnischen Behörden es oft vor, die Frage nach Verfassungsänderungen nicht anzusprechen: Obwohl zum Teil veraltet und auf die besonderen Umstände des Großherzogtums nicht anwendbar, hatten die schwedischen Verfassungsgesetze bei der Verteidigung der Autonomie gute Dienste geleistet. Jedoch wurden ab und zu Gesetzesentwürfe in das Ständeparlament eingebracht, deren Annahme man als notwendig erachtete, obwohl sie offensichtlich nicht verfassungsgemäß waren. Für solche Situationen stellte das Instrument der Ausnahmegesetze eine sinnvolle verfassungsrechtliche Innovation dar. Der Status solcher Gesetze in der Rechtsordnung blieb zwar eine Weile lang unklar, aber binnen kurzem bildete sich die Vorstellung heraus, an der bis heute festgehalten wird: Trotz des qualifizierten Verfahrens der Verabschiedung haben die Ausnahmegesetze den Status einfacher Gesetze und können daher durch ein solches Gesetz aufgehoben werden. [4]

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Das Instrument der Ausnahmegesetze, geboren aus den politischen Notwendigkeiten des autonomen Großherzogtums gegenüber dem russischen Reich, kann die klare Betonung der abstrakten ex ante-Parlamentskontrolle im finnischen System der Verfassungskontrolle wenigstens teilweise erklären. Die Rolle, welche die Ausnahmegesetze im Gesetzgebungsprozess spielten, führte zur folgenden prozeduralen Frage: Wer entscheidet, wann ein Gesetzesentwurf in einem solchen Widerspruch zur Verfassung steht, dass er gemäß dem qualifizierten Verfahren, das für Verfassungsänderungen notwendig ist, angenommen werden muss? Dieses Problem wurde erst endgültig gelöst, nachdem die Unabhängigkeit im Jahre 1917 ausgerufen worden war und die neue Verfassung („Regierungsform“) im Jahre 1919 in Kraft trat. Aber bereits in den 1860er Jahren begannen andere Ausschüsse der Stände in Verfassungsfragen den Rechtsausschuss, dessen Mitglieder einige der führenden Juristen des Landes einschloss, zu konsultieren. Allerdings wurden die Standpunkte des Rechtsausschusses nicht als bindend angesehen. Nach der Verfassungsreform von 1906 spezialisierte sich ein neuer Ausschuss – der Grundgesetzausschuss (Perustuslakivaliokunta) – auf Verfassungsfragen. Die Verfassungskontrolle legislativer Vorschläge wurde in der Parlamentsordnung nicht ausdrücklich als Verantwortungsbereich des Ausschusses genannt, aber in der Praxis übernahm er die Aufgaben, die zuvor vom Rechtsausschuss durchgeführt worden waren. Es dauerte jedoch einige Zeit, bis seine ausschließliche Kompetenz in Verfassungsfragen anerkannt wurde.[5]

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Die Verfassungskontrolle durch das Parlament spielte in der Verteidigung der Autonomie Finnlands während der letzten zwei Jahrzehnte russischer Herrschaft eine bedeutende Rolle. Mittels einer solchen Kontrolle wehrte das finnische Parlament Gesetzesentwürfe ab, mit denen die sogenannte Russifizierungspolitik[6] eingeführt werden sollte, die von finnischer Seite als verfassungswidrig, d.h. gegen die schwedischen Verfassungsgesetze verstoßend, angesehen wurde. Die Öffentlichkeit unterstützte das Parlament in seinen diesbezüglichen Bemühungen stark. Deshalb wurde in der Wissenschaft die Ansicht vertreten, dass die Überwachung der Einhaltung der Verfassung durch Normenkontrolle zur Hauptaufgabe des Parlaments in der letzten Phase der russischen Herrschaft wurde.[7]

§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › I. Ursprung und Entwicklung der Verfassungskontrolle in Finnland › 2. Die „Regierungsform“ von 1919

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