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4. Muss das Bundesverfassungsgericht sich neu erfinden?

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Nach den glorreichen Jahrzehnten des BVerfG stellt sich daher die Frage, ob das Gericht sich angesichts der vielfältigen Herausforderungen nicht doch zu einem gewissen Grade neu erfinden muss. Jenseits der durch die Europäisierung und Internationalisierung bedingten Herausforderung, steht das Gericht weiterhin vor dem Problem, eine unüberschaubare Anzahl von Verfassungsbeschwerden bewältigen zu müssen. Die großzügige Nutzung der Spielräume des derzeitigen Annahmeverfahrens ist dem Gericht angesichts dessen kaum vorzuwerfen. Sie schränkt aber den Charakter des BVerfG als für jedermann zugängliches Bürgergericht erheblich ein. Das Gericht kann aus dieser Falle nicht mit eigener Kraft herauskommen, sondern sich allenfalls bemühen, die Ausgestaltung des Annahmeverfahrens so transparent und regelgeleitet wie möglich vorzunehmen.

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Das BVerfG ist zudem mit dem Problem konfrontiert, dass es stets aufs Neue die inhärenten Folgen der eigenen dogmatischen Erfindungen bewältigen muss. An dieser Stelle seien nur drei markante Beispiele genannt: So effektiv wirkungsvoll die Subjektivierung des objektiven Verfassungsrechts einerseits war, so sehr führt sie die umgekehrte Bewegung der Objektivierung subjektiver Rechte auf prozessualer Ebene dazu, dass das Anliegen des Individualrechtsschutzes geschwächt wird. Die umfangreiche Verschiebung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen in das Kammerverfahren wirkt entlastend und verstärkt die Tiefenwirkung des Gerichts. Zugleich führt die immer größere Anzahl – auch publizierter – Kammerentscheidungen zu einer neuen Unübersichtlichkeit, die den orientierenden Effekt für die Fachgerichtsbarkeit schmälert. Schließlich stößt die erfolgreiche und vielfach nützliche Technik der Maßstabsbildung auch an Grenzen, weil eine Ausdifferenzierung der Rechtsprechung sich oftmals nur unter Veränderung des Maßstabs erreichen lässt. Diese materielle Verfassungsrechtsänderung geht dem auf Bewahrung bedachten Gericht aber nicht leicht von der Hand, weil es die Maßstäbe vielfach als verfassungspolitische Programmsätze formuliert hat. Das BVerfG ist also, will es sich nicht um die Früchte seiner Arbeit bringen und weiterhin ein starker verfassungspolitischer Akteur bleiben, stets darauf angewiesen, sich weiterzuentwickeln und die eigenen dogmatischen Figuren und Konzeptionen im materiellen wie im prozeduralen Bereich zu überarbeiten, anzupassen und neu zu legitimieren.

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Schließlich steht Art und Weise, in der das BVerfG gesetzgeberische Entscheidungen überprüft, zunehmend in der Kritik. Dies lässt sich auf die Praxis des BVerfG zurückführen, detaillierte Übergangsregelungen zu erlassen und Gesetzgebung an den Kriterien der Kohärenz und Folgerichtigkeit zu messen. Diese Einengung des politischen Prozesses auf nationaler Ebene steht in frappierendem Gegensatz zur idealisierten Darstellung der Funktionsweise der nationalen Legislative in der Europarechtsprechung. So sehr das BVerfG die Handlungsspielräume der nationalen Legislative in europäischen Fragen schützen will, so sehr schränkt es sie in nationalen Fragen ein. In dieser Rechtsprechung liegt eine Unwucht, die sich nur kontextbezogen erklären lässt. Im nationalen Kontext sind die Konkurrenten des Gerichts um die Deutungshoheit über das Grundgesetz die (anderen) Verfassungsorgane, insbesondere die Legislativorgane. Hier kann das Gericht strategische Landgewinne erzielen, wenn es den politischen Prozess frühzeitig verfassungsrechtlich anzuleiten versucht.

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In Europa liegen die Dinge anders: Hier ist das BVerfG nicht allein aufgrund der eigenen dogmatischen Innovationskraft zum Motor des Siegeszuges der Verfassungsgerichtsbarkeit geworden. Vielmehr ist es nicht zuletzt auch deshalb ein viel beachtetes Verfassungsgericht in Europa, weil das politische und ökonomische Gewicht Deutschlands in Europa seit 1945 stetig gewachsen ist. Dies verleiht den Entscheidungen des BVerfG grenzüberschreitend ein besonderes politisches Gewicht. Insofern ist es nachvollziehbar, dass das BVerfG sich selbst auch in gewisser Weise als Akteur deutscher Außenpolitik begreift. Der Schutz nationaler politischer und ökonomischer Interessen stärkt im Zweifel auch die Position des BVerfG in Europa. Selbstverständlich ist der Schutz der Geltungskraft des Grundgesetzes die genuine Aufgabe des BVerfG. Das Verständnis verfassungsrechtlicher Prinzipien unterliegt aber gleichwohl einem gesellschaftlichen und politischen Wandel, den das BVerfG berücksichtigen muss.[544] In vielen Bereichen ist ihm dies gelungen. Im Bereich der horizontalen und vertikalen Öffnung des Grundgesetzes im europäischen Rechtsraum steckt dieser Prozess dagegen noch in den Anfängen. Gerade hier liegen zentrale Herausforderungen der Zukunft. Das BVerfG muss sich daher zwar nicht neu erfinden, aber doch substanziell weiterentwickeln. Konkret muss es sich in dreifacher Weise öffnen: Es sollte erstens den bereit stattfindenden Austausch mit seinen europäischen Kollegen dazu nutzen, das Potenzial der Verfassungsvergleichung in seiner Rechtsprechung zu entfalten und so zur Entwicklung eines europäischen Verfassungsverständnisses beizutragen. Zweitens sollte es sich gegenüber dem politischen Prozess öffnen und seine Rechtsprechung darauf umstellen, politische Entscheidungsfindung durch die nationale und die europäische Legislative zu ermöglichen, anstatt sie zu steuern. Schließlich sollte sich das BVerfG der transnationalen Fortentwicklung seines Demokratieverständnisses nicht verschließen, sondern sich an der Entwicklung dogmatischer und theoretischer Angebote beteiligen, wie die bestehenden normativen Anforderungen des Grundgesetzes auch in demokratischen Strukturen jenseits des Staates gewahrt werden können.

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › Bibliographie

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