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2. Vielfalt und Dezentralisierung: Das Ende der Deutungshoheit beim Grundrechtsschutz?

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Die zweite Veränderung, die den Kern der bundesverfassungsgerichtlichen Autoritätsressourcen betrifft, ist der verbindliche europäische Grundrechtsschutz.[506] Das Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Grundrechtsschutz ist ein Dauerthema des Verhältnisses zwischen EuGH und BVerfG. Diese Auseinandersetzung findet prominent Ausdruck in der Solange-Saga,[507] in der das BVerfG zunächst einen umfassenderen Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene anmahnte und dann seine eigene Prüfungskompetenz unter Verweis auf das inzwischen erreichte Schutzniveau zurücknahm. Seit dem Vertrag von Lissabon verfügt das Unionsverfassungsrecht aber nicht mehr nur über Grundrechte als judikativ entwickelte Rechtsgrundsätze, sondern über einen verbindlichen Grundrechtskatalog. Der EuGH nahm dies zum Anlass, den Grundrechtsschutz in der EU signifikant zu stärken und das Verhältnis von unionalem und nationalem Grundrechtsschutz neu zu bestimmen. In Åkerberg-Fransson[508] stellte der Gerichtshof fest, dass unter „Durchführung des Unionsrechts“ i.S.v. Art. 51 Abs. 1 Grundrechtecharta zu verstehen sei, dass der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte dem Anwendungsbereich des Unionsrechts entspricht.[509] In Melloni[510] entschied der Gerichtshof, dass ein höherer nationaler Grundrechtsschutz auch nach Art. 53 Grundrechtecharta immer dann nicht zu rechtfertigen sei, wenn ein Sachbereich unionsrechtlich erschöpfend harmonisiert sei und daher die Einheitlichkeit des Unionsrechts bedroht sei.[511] Für das BVerfG stellt diese Rechtsprechungslinie sich zunächst als Gefahr für die eigene Deutungshoheit im Bereich des Grundrechtsschutzes dar. Die beiden Urteile konfrontieren das BVerfG damit, dass es bei der Grundrechtsprüfung mitgliedstaatlicher Rechtsakte zunehmend zu einer Überlappung von unionalem und nationalem Grundrechtsschutz kommen könnte,[512] bei der sich der nationale Grundrechtsschutz selbst dann nicht zwangsläufig durchsetzt, wenn er ein höheres Schutzniveau bietet.[513] Das BVerfG musste befürchten, dass die eigenen Möglichkeiten, eine autonome Grundrechtsordnung zu gestalten, in weit größerem Umfang durch den europäischen Grundrechtsschutz beschnitten würden als bisher angenommen. Es reagierte auf die EuGH-Rechtsprechung dementsprechend pikiert und ließ via Pressemitteilung verlauten, dass es das Urteil Åkerberg-Fransson lediglich als Ausdruck der „Besonderheiten des Umsatzsteuerrechts“ verstehe.[514] Im Urteil zur Antiterrordatei vom April 2013 führte das Gericht aus, dass der Entscheidung des EuGH „kein[e] Lesart untergelegt werden [dürfe], nach der dies offensichtlich als ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre“.[515] Einmal mehr unterblieb eine Vorlage an den EuGH, die Gelegenheit zu einer dialogischen Weiterentwicklung des Grundrechtsschutzes gegeben hätte.

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Inzwischen lässt die Rechtsprechung des EuGH vorsichtigere Deutungen angebracht erscheinen: hat der EuGH seine weite Prüfungskompetenz in Grundrechtsfragen doch wieder relativiert[516] und in einigen Fällen, in denen eindeutig eine Durchführung des Unionsrechts vorlag, von einer Grundrechtsprüfung Abstand genommen.[517] Es spricht viel dafür, dass der EuGH und nationale Verfassungsgerichte durch ihre Rechtsprechung das Verhältnis von nationalem und unionalem Grundrechtsschutz neu austarieren.[518] Ein Indiz hierfür ist, dass das BVerfG seinen prinzipiellen Widerstand gegen eine Vorlage an den EuGH mit dem OMT-Beschluss aufgegeben hat. Zwar betrifft dies nicht den Bereich des Grundrechtsschutzes und man mag die tatsächliche Kooperationsbereitschaft des BVerfG in diesem Fall bezweifeln. Gleichwohl eröffnet diese Entwicklung zumindest die Chancen auf eine dialogische Fortentwicklung des Verfassungsrechts.

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Anders als gegenüber dem EuGH hat das BVerfG seine Rechtsprechung gegenüber dem EGMR nach anfänglicher Zurückhaltung inzwischen kooperativer ausgestaltet.[519] Besonders anschaulich wird dies anhand der verschiedenen Urteile des EGMR zur Sicherungsverwahrung. Nachdem das BVerfG die Regelung im Jahr 2004 für verfassungskonform erklärte,[520] entschied der EGMR, dass die deutsche Regelung gegen das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 7 Abs. 1 EMRK) und das Recht auf Freiheit der Person (Art. 5 Abs. 1 EMRK) verstoße.[521] Das BVerfG setzte sich in einem Urteil aus dem Jahr 2011 ausführlich mit den Erwägungen des EGMR auseinander und änderte schließlich seine Beurteilung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Sicherungsverwahrung.[522] In zahlreichen Senatsentscheidungen und Kammerbeschlüssen setzte das BVerfG diesen Richtungswechsel dann in der Folge operativ durch.[523] Die Entscheidung verdeutlicht exemplarisch wie der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit die Kooperation zwischen BVerfG und EGMR anleiten kann. Das BVerfG hält die die Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung als Auslegungshilfe ausdrücklich auch dann für geboten, wenn sie zu Fällen erging, an denen Deutschland selbst nicht beteiligt war.[524] Hierfür bemüht das Gericht selbst den „Dialog der Gerichte“ als Maxime der Fortentwicklung der eigenen Rechtsprechung.[525] Zugleich ist das BVerfG bedacht, den Umfang der Berücksichtigung nicht so weit auszudehnen, dass es zu einer automatischen begrifflichen Parallelisierung kommt.[526] Hier wird das Bestreben erkennbar, die Zügel des Grundrechtsschutzes zumindest beim Rezeptionsvorgang weiter in der Hand zu behalten.[527] Ungeachtet dessen stellt das Urteil zur Sicherungsverwahrung eine Wegmarke der europäischen Öffnung des Grundrechtsschutzes durch das BVerfG dar.[528]

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Allerdings illustriert das Urteil zugleich die Herausforderung, die in der Europäisierung des Grundrechtsschutzes liegt: Anders als bisher ist das BVerfG nicht mehr der einzige und auch nicht mehr in allen Bereichen der entscheidende Akteur bei der Interpretation der in Deutschland geltenden Grundrechtsordnung. Diese setzt sich heute zusammen aus grundgesetzlich normierten Grundrechten, unionalem Grundrechtsschutz und Menschenrechtsschutz unter der EMRK, die sich wechselseitig überlagern und beeinflussen. Eine alleinige Deutungshoheit für den Grundrechtsmaßstab, der an das deutsche Recht anzulegen ist, kann das BVerfG damit nicht mehr beanspruchen.

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › IV. Evaluation: Hüter des Grundgesetzes oder Hüter von Verfassungsrecht? › 3. Die Notwendigkeit einer neuen Institutionentheorie im europäischen Rechtsraum

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