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2. Die „Regierungsform“ von 1919

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Im Dezember 1917, in den Nachwehen der russischen Revolution, erklärte Finnland seine Unabhängigkeit. Die Verfassungsreform wurde sogar noch früher in die Wege geleitet, indem die Regierung einen Ausschuss unter der Leitung K.J. Ståhlbergs, Professor für Verwaltungsrecht, späterer Präsident des Obersten Verwaltungsgerichtshofes (Korkein hallinto-oikeus [KHO]) und dem ersten Präsidenten des unabhängigen Finnland, einsetzte. Zwar unterbrach der kurze, jedoch heftige finnische Bürgerkrieg die Reformarbeit, aber man setzte sie fort, nachdem die Roten mit Hilfe deutscher Truppen besiegt worden waren. Die Beratungen um eine neue Verfassung zogen sich hin, abhängig etwa von den Unbeständigkeiten des fortdauernden Krieges und insbesondere den wechselnden Kriegserfolgen des Deutschen Kaiserreichs. Schließlich trat die neue Verfassung („Regierungsform“) im August 1919 in Kraft.

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Wie man die Verfassungskontrolle gestalten sollte, war keine zentrale Frage in den Verfassungsdebatten der Jahre 1917 bis 1919. Weitaus mehr Aufmerksamkeit widmete man der Organisation und den Kompetenzen der Exekutive: der Wahl zwischen Monarchie und Republik und den Machtbefugnissen des Staatsoberhauptes. Außerdem war man generell der Meinung, dass die Parlamentskontrolle sich, insbesondere bei der Abwendung russischer Angriffe auf die Autonomie Finnlands, gut bewährt habe. Jedoch wurde die Verfassungskontrolle in den lebhaften Diskussionen auch berücksichtigt.

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten es einige Bezirksgerichte und Berufungsgerichte unter Bezugnahme auf die Verfassung abgelehnt, das durch den Zaren ohne Zustimmung des finnischen Ständeparlaments verkündete Militärdienstgesetz anzuwenden. Diese Gerichte standen an der Spitze einer Bewegung, die man später als „passiv Widerstand leistend“ gegenüber der Russifizierungspolitik bezeichnete. Aber es gab zu dieser Zeit noch keine anerkannte Lehrmeinung, die eine gerichtliche ex post-Verfassungskontrolle erlaubt hätte. Auf der Grundlage der Erfahrungen mit diesem sogenannten passiven Widerstand kam die Angelegenheit in den Verfassungsdebatten von 1917 bis 1919 auf. Der erste Vorschlag für eine neue Verfassung, der vom Parlament bereits vor der Unabhängigkeitserklärung vorgelegt wurde, umfasste eine Bestimmung bezüglich einer gerichtlichen ex post-Kontrolle, die als Reaktion auf die Vorgänge in den letzten beiden Jahrzehnten der russischen Herrschaft verstanden werden kann: „Falls offensichtlich ist, dass eine Bestimmung nicht auf verfassungsmäßigem Wege zustande gekommen ist, darf ein Richter oder Beamter diese nicht anwenden.“ Den vorgeschlagenen Artikel konnte man so verstehen, dass er sogar Parlamentsgesetze umfasste. Während der Beratung des dem Parlament (von dem Sozialdemokraten ausgeschlossen waren) vorgelegten Vorschlags unmittelbar nach dem Bürgerkrieg fügte man der betreffenden Bestimmung einen zweiten Paragraph hinzu, der eine gerichtliche Kontrolle von Parlamentsgesetzen dem Obersten Gerichtshof (Korkein oikeus [KKO]) vorbehielt: „Falls ein Gesetz, das nicht in dem Verfahren für Verfassungsänderungen erlassen wurde, eine Bestimmung enthält, die gegen die Verfassung verstößt, soll der Oberste Gerichtshof sie nicht anwenden und die Korrektur des Fehlers verlangen.“ Der Oberste Gerichtshof sollte außerdem eine Rolle in der ex ante-Verfassungskontrolle innehaben: Der Monarch wäre verpflichtet gewesen, den Obersten Gerichtshof zu befragen, bevor er einem vom Parlament angenommenen Gesetzesentwurf seine Zustimmung gegeben hätte. Wären diese Vorschläge angenommen worden, hätten diese den Obersten Gerichtshof zu einer Schlüsseleinrichtung in der Verfassungskontrolle gemacht. Eindeutig brachten sie das zumindest vorübergehende Misstrauen der politischen Rechten gegenüber dem Parlament in der Zeit nach dem Bürgerkrieg zum Ausdruck; deshalb war es kein Zufall, dass diese Bestimmungen in den monarchistischen Verfassungsentwurf aufgenommen wurden. Gleichwohl schlug der Grundgesetzausschuss des Parlaments in seinem Bericht vor, die Bestimmung über die ex post-Kontrolle von Parlamentsgesetzen zu streichen, in dem er sich auf die Effizienz der parlamentarischen ex ante-Kontrolle bezog. Der Ausschuss kritisierte es auch, „dem Obersten Gerichtshof so weitgehende Machtbefugnisse [zu übertragen], ein Gesetz, das von den Gesetzgebungsorganen übereinstimmend verabschiedet worden war, entsprechend eigener Entscheidung nicht anzuwenden“.[8]

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In ihrer endgültigen Form schloss die Bestimmung über die ex post-Kontrolle Parlamentsgesetze aus: Richtern und Beamten war es lediglich verboten, verfassungswidrige Bestimmungen von Präsidialerlassen und anderen Verordnungen anzuwenden. Daraus zog die herrschende Meinung, die auch von den Gerichten vertreten wurde, den Umkehrschluss: Gerichte (oder andere Behörden) hätten nicht die Kompetenz, die Verfassungsmäßigkeit von Parlamentsgesetzen zu beurteilen. Hingegen erhielten der Oberste Gerichtshof und der Oberste Verwaltungsgerichtshof eine gewisse Bedeutung in der ex ante-Verfassungskontrolle dadurch, dass der Präsident diese Gerichte anrufen konnte, bevor er ein im Parlament angenommenes Gesetz bestätigte. Wie weiter unten ersichtlich werden wird, war diese Regelung allerdings eher von eingeschränkter praktischer Bedeutung.

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Die frischen Erinnerungen an die verfassungsrechtlichen Kämpfe während der letzten Phase der russischen Herrschaft spielten sicherlich eine große Rolle in der Bestimmung der Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Verfassungskontrolle. In den Augen der Öffentlichkeit hatte die Parlamentskontrolle, bei der viele führende Verfassungsexperten als Parlamentsmitglieder teilgenommen hatten, gut funktioniert. Im Gegensatz dazu hatte das Ansehen des Obersten Gerichtshofes unter der Politik der Fügsamkeit, der die Mehrzahl der Mitglieder gefolgt war, gelitten. Innerhalb der Judikative waren die unteren Gerichte der Ort des Widerstands.

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Die neue „Regierungsform“ von 1919 schloss einen eher modernen Katalog der Grundrechte ein, der sich auf Prinzipien der belgischen (1831) und der preußischen (1850) Verfassung und damit auf eher westeuropäische Traditionen des 19. Jahrhunderts gründete.[9] Jedoch brauchte es Zeit, bis die Idee der Grundrechte, die der Kompetenz des Gesetzgebers Grenzen setzen, in der finnischen Lehre verwurzelt war. Und selbst als diese Vorstellung sich durchgesetzt hatte, erleichterte die Verfügbarkeit von Ausnahmegesetzen die Umgehung dieser Grenzen und gab der Verfassungskontrolle eine verfahrensrechtliche Wendung: Was der Grundgesetzausschuss tun sollte, war über das Verfahren zu beraten, das eingehalten werden muss, um den anstehenden Gesetzesentwurf anzunehmen.

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Weder die „Regierungsform“ von 1919 noch die Parlamentsordnung von 1928 enthielten ausdrückliche Bestimmungen über die Verfassungskontrollaufgabe des Grundgesetzausschusses. In der Praxis war die ausschließliche Kompetenz des Ausschusses in dieser Hinsicht allerdings schnell hergestellt. Es gab auch keine ausdrückliche Bestimmung bezüglich der Verbindlichkeit des vom Ausschuss eingenommenen Standpunkts. Jedoch leitete die Verfassungslehre von der Rolle des Ausschusses als Schlichter zwischen dem Parlamentspräsidenten und der Mehrheit der Plenarsitzung eine Lösung ab: Falls die Mehrheit bezüglich einer verfahrensrechtlichen Frage nicht mit dem Standpunkt des Parlamentspräsidenten übereinstimmte, konnte sie die Angelegenheit dem Grundgesetzausschuss zur Klärung vorlegen. Da es ebenfalls dem Parlamentspräsidenten zukam, den Vorschlag hinsichtlich der zu befolgenden Verfahrensweise in legislativen Belangen zu machen, hatte die zitierte Bestimmung sogar für Angelegenheiten Bedeutung, welche die Verfassungskontrolle betrafen.

§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › I. Ursprung und Entwicklung der Verfassungskontrolle in Finnland › 3. Europäisierung und Konstitutionalisierung als Hintergrund der neuen Verfassung aus dem Jahr 2000

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