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3. Die Notwendigkeit einer neuen Institutionentheorie im europäischen Rechtsraum

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Die Europäisierung des Verfassungsrechts stellt das BVerfG schließlich vor eine dritte Herausforderung. Supra- und internationale Entscheidungsstrukturen beschränken die nationalstaatliche Souveränität und verändern die Möglichkeiten demokratischer Entscheidungsfindung. Die Ausübung von Hoheitsgewalt verteilt sich nicht länger nur zwischen Legislative, Exekutive und Judikative auf mitgliedstaatlicher Ebene, sondern erstreckt sich auch auf die entsprechenden europäischen Organe. Diese Verflechtung kann mit der relativ starren und national fokussierten Demokratietheorie des BVerfG nicht vollständig erfasst werden. Ohnehin hat das in Grundrechtsfragen so starke BVerfG in Fragen des Staatsorganisationsrechts weit weniger Prägekraft entfaltet.[529] Abgesehen von der sogenannten Legitimationskettentheorie[530] hat das BVerfG bislang kein Angebot für eine Verfassungstheorie entwickelt, die die Kompetenzabgrenzung zwischen den verschiedenen Gewalten anleiten könnte. Für den europäischen Kontext passt das darin zum Ausdruck kommende Demokratieverständnis kaum, weil es kein Angebot macht, kollektive Willensbildung und demokratische Entscheidungsfindung jenseits des Staates funktionieren können. Demokratische Gesetzgebung und demokratisches Regieren kann nach dem BVerfG bis heute nur auf das mehr oder weniger homogen konstruierte deutsche Volk zurückgeführt werden.[531] Politisch inklusivere demokratische Strukturen, die eine Beteiligung von in Deutschland lebenden Staatsangehörigen anderer Staaten jenseits der Unionsbürgerschaft ermöglichen würden oder auf supranationaler Ebene verschiedene demoi zusammenführen, lassen sich auf dieser Grundlage schwer entwickeln, und zwar weder vom BVerfG noch durch den politischen Prozess.[532] Deshalb reagiert das BVerfG mit einem massiven Abschirmungsprogramm, indem es „integrationsfeste“ Verfassungselemente definiert,[533] die nationalen Parlamentarier paternalistisch über Handlungspflichten belehrt[534] und versucht, den Handlungsspielraum des nationalen Gesetzgebers gegenüber unionsrechtlichen Einflüssen zu immunisieren.[535] Diesem Reflex liegt die zutreffende Beobachtung zugrunde, dass die Handlungsspielräume demokratischer Gesetzgeber in einer Welt zunehmender ökonomischer und politischer Interdependenzen in der Tat schrumpfen. Allein, der Bewahrungsreflex löst das Problem nicht: Die Interdependenzen bleiben unabhängig vom weiteren Fortgang der europäischen Integration bestehen. Handlungsspielräume lassen sich daher nur transnational wiedergewinnen.

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Hier zeigt sich, dass die Europäisierungsprozesse nicht nur eine Bestimmung des Verhältnisses zwischen den Gerichten im europäischen Verfassungsgerichtsverbund[536] verlangen, sondern das Verhältnis zwischen mitgliedstaatlichen und europäischen Gewalten generell betreffen. Es geht nicht zuletzt auch darum, wie die Kräfteverhältnisse zwischen europäischer und nationaler Legislative verschieben und inwieweit europäischer und nationaler legislativer Handlungsspielraum trotz einer Stärkung der Exekutive gesichert werden kann. Diese Fragen lassen sich nicht auf der Basis einer national verengten demokratietheoretischen Perspektive beantworten. Vielmehr verlangen sie nach einer Öffnung der nationalen Verfassungen und nach der Fortentwicklung hergebrachter Demokratieverständnisse. Anstatt sich an der Entwicklung einer transnationalen Demokratietheorie zu beteiligen, tendiert das BVerfG dazu, den nationalen Gesetzgebungsprozess zu idealisieren und umgekehrt supranationalen Strukturen die demokratische Qualität abzuerkennen. So hat es etwa die Sperrklauseln im Europawahlrecht anders als vergleichbare Klauseln im nationalen Recht für verfassungswidrig erklärt und dabei nicht zuletzt auf den aus der Sicht des BVerfG defizitären Charakter der europäischen parlamentarischen Demokratie verwiesen.[537] Bereits im Lissabon-Urteil hatte das Gericht die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, den angeblich zwangsläufig defizitären Charakter der europäischen Demokratie hervorzuheben.[538] Problematisch ist diese Rechtsprechung vor allem deshalb, weil sie eine nationale Schließung propagiert, anstatt selbst konzeptionelle und konstruktive Vorschläge für eine transnationale Demokratie- oder Institutionentheorie zu entwickeln. Das BVerfG verschließt sich regelrecht dem Gedanken, dass ein europäischer Parlamentarismus zur Demokratisierung und Politisierung europäischen Regierens beitragen könnte.[539] Dem international öffnenden Grundimpetus des Grundgesetzes kommt das BVerfG damit nicht nach.[540] Es vermag auf dieser Basis keine dogmatischen und konzeptionellen Angebote zu unterbreiten, wie sich politische Inklusion und kollektive Selbstbestimmung in demokratischen Verfahren auch jenseits des Nationalstaats realisieren lassen. Gewiss, auch eine proaktivere Haltung des BVerfG liefe Gefahr, sich dem Vorwurf paternalistischer Politikgestaltung auszusetzen. Es darf aber nicht übersehen werden, dass das Gericht mit der derzeitigen national fokussierten Demokratietheorie bereits in den demokratisch legitimierten Entscheidungen für eine internationale Öffnung der deutschen Verfassungsordnung eingreift. Es erhöht mit der Behauptung „integrationsfester“ Bereiche und der normativen Aufwertung durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG sogar die Möglichkeit hier in demokratischen Verfahren überhaupt eine Änderung herbeizuführen.[541] Insofern kann das Bedürfnis nach einer verfassungs- und demokratietheoretischen Begleitung dieser Öffnung nicht durch den Verweis beseitigt werden, dass die Veränderung des Demokratieverständnisses eine Angelegenheit ist, über die der demokratische Souverän zu entscheiden hat.[542] Die Zurückhaltung bei der Fortentwicklung des Demokratieverständnisses ist aber auch für das BVerfG selbst problematisch: Es droht dadurch auf lange Sicht selbst in eine defensive Position zu geraten. Es verteidigt nur noch, statt das Spiel der europäischen Demokratie mitzugestalten und an der Entwicklung gemeineuropäischer Konzeptionen von demokratischer Selbstbestimmung mitzuwirken. Es fehlt nicht nur das Passspiel mit den anderen europäischen Verfassungsgerichten, sondern auch an einer Idee für den demokratischen Spielaufbau in Europa.[543]

§ 97 Das Bundesverfassungsgericht › IV. Evaluation: Hüter des Grundgesetzes oder Hüter von Verfassungsrecht? › 4. Muss das Bundesverfassungsgericht sich neu erfinden?

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